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Gedanken zur Nachfolge

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Noch blickte die abendliche Sonne vorsichtig auf die Terrasse des stattlichen Hauses am Starnberger See, als sei sie nicht sicher, ob sie die Unterhaltung des Hausherren stören dürfe. Wolfgang Sämann saß mit seiner Schwester Ingrid am Tisch, wo sie den obligaten Nachmittagstee genommen hatten. Ein schöner Herbsttag neigte sich dem Ende zu, doch er war von unheilschwangerer Atmosphäre geprägt. Im Hintergrund die im Dunst verschwimmende Bergkette der Voralpen. Darüber erhoben sich bedrohlich wachsende Wolkentürme. Auf der leicht zum See abfallenden Wiese grasten friedlich ein paar Kühe. Sie schienen von dem drohenden Gewitter unbeeindruckt zu sein. Die Landschaft wirkte fast kitschig wie auf einer Postkarte oder einem Prospekt für Bio-Milchprodukte.

Der Senior saß in sich zusammengesunken, etwas gebeugt vom Alter und auch von schwerer Krankheit gezeichnet. Seine rechte Hand zitterte. Er verschüttete den Tee.

Die gepflegte Dame, mit grauem Haar zum Knoten am Hinterkopf gebunden, blickte ihn streng wie eine Gouvernante an und schüttelte missbilligend ihren Kopf:

- Wolfgang, pass doch auf, du kleckerst den Tee auf das frische Tischtuch und auch auf deine helle Hose. Sieh mal wie du aussiehst. Du musst dich sofort umziehen. Man könnte denken, dass dir ein Malheur passiert sei.

Etwas verunsichert erhob er sich und knurrte mürrisch:

- Hier besucht uns ja keiner. Wo steckt eigentlich Hinrich? Warum war er nicht auf der Einladung von Graf Ebersbach?

- Ich weiß es nicht, er hat es mir nicht gesagt. Möglicherweise hatte er eine Prüfung im Konservatorium. Dafür hat er letztens viel gearbeitet. Aber vielleicht hatte er auch einen anderen Grund. Wer weiß.

- Die Prüfung hätte er absagen oder wenigstens verschieben können. Der Junge vergeudet zu viel Zeit mit dem Geigenspiel. Er sollte sich lieber auf seine Aufgaben in der Firma konzentrieren. Er setzt falsche Prioritäten in seinem Leben.

Ingrid forderte ihn erneut auf, sich umzuziehen:

- Du wirst dich erkälten. Du musst auf deine Gesundheit achten.

Widerstrebend erhob er sich und ging ins Haus. Es war ihm durchaus recht, jetzt etwas Abstand zu seiner Schwester zu bekommen. Ihn beschäftigte vor allem die Frage nach der Zukunft seiner Firma. Vor allem wollte er seine Nachfolge geregelt wissen. Er hatte sich bemüht, seinen Sohn auf die Nachfolge vorzubereiten, hatte ihn auf das teuerste Internat geschickt, hatte ihn im Hinblick auf seine künftige Aufgabe als Firmenlenker immer wieder ermahnt, in allen Fächern der Beste zu sein, sowohl im Sport, in den Naturwissenschaften, in Mathematik, in Chemie, in Biologie, kurz überall. Aber es hatte nichts genützt. Es hatte höchstens zum Durchschnitt gereicht. Nur in Musik war es anders. Von früh an erhielt er glänzende Noten. Aber dafür hatte er als Vater und Unternehmer kein Verständnis. Sein Sohn war in seinen Augen ein Versager, ein Einzelgänger und ein Träumer. Für seine Nachfolge ungeeignet.

Anders war es um seine Tochter Julia bestellt: Sie hatte in allen Fächern erstklassige Zensuren heimgebracht und war bei allen beliebt. Sie hatte viele Freunde, weil sie nicht nur gut aussah, sie hatte auch ein gewinnendes Wesen. Ihr standen alle Türen offen. Aber es hatte sie weit von der Familie entfernt nach Übersee gezogen, wo sie ein Verhältnis mit irgendeinem jungen Mann hatte. Darüber wollte er nichts hören. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Er wollte sie in die Firmenleitung einbinden, damit die Firma in der Familientradition weitergeführt werden kann. Sie könnte meine Nachfolge antreten, dachte er, als er sich zurückzog. Sie ist meine einzige Hoffnung. Schade, dass Hinrich nicht wie sie geworden ist. Oder dass sie mein Sohn und er meine Tochter geworden ist. Aber das war nun so, es ließ sich nicht ändern.

Resigniert zog er sich um und kehrte mit einer leichten Sommerhose und mit einem Sweatshirt bekleidet zurück.

- Du hättest dir etwas Wärmeres anziehen sollen. Du zitterst jetzt schon. Es wird gleich ein Gewitter geben, sagte sie vorwurfsvoll.

- Lass das meine Sache sein!, wies er sie unwirsch zurecht. Mir ist nicht kalt. Aber was mir wirklich Sorgen bereitet, das ist meine Nachfolge. Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Es kann mit mir sehr schnell zu Ende gehen. Diese Krankheit ist unberechenbar. Das weißt du so gut wie ich.

- Du hast doch Hinrich, versuchte sie ihn aufzurichten, der ist doch schon in der Firma tätig. Was hast du mit ihm vor?

- Er taugt nicht zu meinem Nachfolger. Er sollte jetzt hier sein. Warum ist er nicht bei uns?

Sie zuckte gleichgültig mit den Achseln und lehnte sich zurück, indem sie die dunklen Wolken betrachtete:

- Ich habe keine Ahnung. Er sagte mir nur, dass er zum Arzt müsse.

- Erstaunt horchte er auf: Zum Arzt? Ist er denn krank?

- Nein, das wohl nicht, aber er geht seit einiger Zeit zu einem Psychologen. Ich weiß auch nicht was er hat. Er spricht nicht darüber, mit mir wenigstens nicht.

- Du solltest das eigentlich wissen. Schließlich bist du die Ärztin im Hause. Du hast eine engere Beziehung zu meinen Kindern als ich.

- Wenn du es nicht weißt, wie soll ich es wissen? Er ist dein Sohn, er lebt in deinem Haus und ist in deiner Firma beschäftigt. Du solltest eigentlich wissen, was er macht. Aber du interessierst dich nicht für ihn. Darunter leidet er.

- Hoffnungslos blickte er seine Schwester an: Ich kann mich nicht um alles kümmern. Außerdem ist Hinrich ein erwachsener Mann. Er ist kein Kind mehr, den man an die Hand nehmen kann, und dem man sagt, was er zu tun oder zu lassen hat.

- Mit schneidender Stimme und durchaus auch vorwurfsvoll fragte sie: Hast du ihn denn schon mal richtig gefordert und die Zügel locker gelassen?.

Mit zitternden Händen griff er nach der Tasse Tee, indem er sie mit beiden Händen umschloss und sie vorsichtig zum Mund führte:

- Ich habe es versucht, aber es gelang ihm nichts. Er machte alles noch schlimmer.

- Du behandelst ihn wie eine Marionette, fuhr sie fort. Er kann sich bei deiner Ablehnung nicht richtig entfalten. Deine Geringschätzung spürt er jeden Tag. Das war sein ganzes Leben so. Ist doch kein Wunder, wenn er nun bei einem Psychiater Rat sucht. Er ist vollkommen verkrampft, klagt schon seit längerer Zeit über Muskelreißen, Magenschmerzen und Verdauungsprobleme.

- Er soll sich endlich zusammenreißen und sich nicht immer gehen lassen. Er ist ein Waschlappen, ein Versager. Er geht allen Konflikten aus dem Weg und kann keine schwierigen Entscheidungen fällen. Er will immer jedermanns Freund sein. Das geht auf die Dauer nicht gut. Niemand kann es allen recht machen.

- Stoße ihn ins kalte Wasser! Da muss er schwimmen lernen, sagte sie energisch und durchaus mit einem verhaltenen Befehlston.

- Wolfgang spürte den Druck und begann noch heftiger zu zittern: Das sagt sich so leicht. Du schätzt unsere Lage nicht richtig ein: Wir können uns keine Fehler mehr leisten. Die Geschäfte laufen nicht so rund, wie sie sollten. Wir bekommen von den Banken keinen Kredit mehr. Wir brauchen Geld für Investitionen und auch um das laufende Geschäft aufrecht zu erhalten. Es geht uns finanziell nicht gut. Die Reserven sind weitgehend aufgezehrt.

- Lass uns über etwas Angenehmes sprechen. Dies Thema regt dich zu sehr auf. Die Sorgen schaden deiner Gesundheit. Du solltest endlich mal eine Auszeit nehmen und eine Kur machen. Ich habe dir das schon oft gesagt, aber du willst ja nicht auf mich hören. Du hörst in letzter Zeit nur noch auf Isabelle. Sie ist wohl inzwischen zu deiner Privatsekretärin avanciert, oder ist sie inzwischen schon mehr?

- Nein, sie ist nicht mehr. Aber sie tut mir gut. Wenn sie bei mir ist, dann fühle ich mich irgendwie geborgen. Sie hat eine positive Ausstrahlung. Ich weiß auch nicht, was es ist.

- Auf mich wirkt sie nicht positiv. Im Gegenteil, sie geht mir ziemlich auf die Nerven mit ihrer Wichtigtuerei. Sie ist eine Aufschneiderin, anmaßend und arrogant. Sie hat es auf dich abgesehen, und du lässt sie gewähren. Sie macht, was sie will. Sie spielt sich hier im Hause schon wie die Hausherrin auf.

Zu seiner Beruhigung und um Zeit zu gewinnen versuchte er, sich eine Zigarre anzuzünden und bemühte sich, kein brennendes Streichholz auf die Decke fallen zu lassen:

- Da bildest du dir etwas ein. Ich glaube, du siehst Gespenster, entgegnete er gereizt.

- Nein, überhaupt nicht. Ich beobachte dich und mache mir Sorgen. Vielleicht hast du sie schon zu deiner Nachfolgerin ausgewählt?

- Er reagierte ziemlich heftig: Unsinn! Solange ich es noch kann, werde ich die Firma selber leiten und aus den bestehenden Schwierigkeiten herausführen. Das bin ich mir und unserem Vater schuldig.

Ihre Stimme bekam einen drohenden Unterton:

- Wolfgang, wie oft soll ich es dir noch sagen: Du musst endlich mit dem Rauchen aufhören. Du schadest deiner Gesundheit. Eines Tages ist es zu spät, und dann wirst du an meine Mahnung denken.

- Dann habe ich überhaupt keine Freude mehr. Bring mir lieber ein Glas Wein und beschäftige dich mit deinen eigenen Angelegenheiten. Du musst dich mehr um deine Klinik kümmern. Jedes Jahr muss ich die Verluste ausgleichen. Das kann so nicht weitergehen. Das bereitet mir erhebliche Kopfschmerzen. Die Gelder, die ich jeden Monat an dich überweisen muss, fehlen mir an anderer Stelle.

- Die Gelder sind im Sinne der Firma und zu deinem Besten gut angelegt. Die klinischen Tests des neuen Medikaments Vexalin gegen die Niereninsuffizienz, das Julia möglichst bald zur Marktzulassung anmelden will, verschlingen Unsummen. Wir haben es noch immer mit kritischen Nebenwirkungen zu tun. In dieser Form kann es nicht auf den Markt gebracht werden. Auch dir steht das Medikament noch nicht zur Verfügung, obwohl du es dringend bräuchtest.

- Julia hätte ihren Platz hier bei mir in der Firma einnehmen sollen. Sie arbeitet seit vielen Jahren auf diesem Gebiet. Die Tests ziehen sich zu lange hin. Die Arbeiten werden nicht richtig vorangetrieben. Sie hat nicht die richtigen Leute, kann ihre Mitarbeiter nicht motivieren und kann sie nicht kontrollieren. Die Entfernung zu ihrem Institut in Nicaragua ist zu groß. Was hat die letzte Testserie gebracht?

- Es gibt noch einige Unklarheiten. Wir erforschen noch die Ursachen der Nebenwirkungen.

Das Gespräch hatte ihn ziemlich aufgeregt. Er bekam einen roten Kopf und begann erneut heftig zu zittern.

Ingrid beobachtete ihren Bruder mit den kritischen Augen einer Ärztin und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Sie wollte die Atmosphäre entspannen und seine trüben Gedanken zerstreuen:

- Wir sollten mal wieder ein großes Fest geben. So wie früher mit vielen Gästen und Musik.

- Ach, das war einmal. Heute passt das nicht mehr zu unserem Lebensstil.

- Warum nicht? Es kommt nur darauf an, was wir daraus machen. Es hängt nur von uns ab. Wenn wir es wollen, dann wird es wieder wie früher sein. Wir könnten es so ähnlich wie Graf Ebersbach machen.

- Das können wir uns gar nicht leisten. Wir haben keine exquisite Küche und auch keine Bedienung.

- Dann machen wir es etwas kleiner. Außerdem müssten wir uns bei ihm für seine Einladung revanchieren. Da wäre dein siebzigster Geburtstag ein hervorragender Anlass. Früher hatten wir häufig viele Freunde hier bei uns zu Gast. Ich denke gerne an diese Jahre des Aufbaus. Zwar gab viel Arbeit, aber wir genossen den Erfolg unserer Bemühungen. Unsere Empfänge und Abendessen waren in der ganzen Umgebung berühmt.

Er schaute seine Schwester etwas verloren an, als ob er verschwundene Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zurückholen müsste. Plötzlich leuchteten seine Augen für einen kurzen Moment:

- Die viele Mühe hat sich gelohnt. Wir haben es geschafft, haben eine große Firma aufgebaut und sind zu den geachtetsten Familien im Lande aufgestiegen. Die Periode des Aufbaus war eine schöne Zeit. Heute fürchte ich mich, unter Menschen zu gehen, denn es ist mir peinlich, wenn sie sehen, was aus mir geworden ist. Ich kann nichts dafür, denn ich kann meine linke Hand nicht richtig kontrollieren. Sie gehorcht nicht mehr meinem Willen. Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst.

- Etwas mitleidig und zugleich vorwurfsvoll blickte sie ihren Bruder an: Du arbeitest zu viel. Du solltest Dir ein paar Tage Erholung gönnen. Etwas Entspannung täte dir bestimmt gut. Mach ein paar Tage Urlaub. Du hast ihn dir redlich verdient.

- Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab: Urlaub kann ich mir jetzt nicht leisten. Du weißt, wir haben große Probleme in der Firma, vor allem haben wir Produktionsschwierigkeiten bei unserem Hauptumsatzträger.

- Sie reagierte etwas genervt: Das ist die Aufgabe von Hinrich. Darum soll er sich kümmern. Du setzt falsche Prioritäten. Viel wichtiger ist die Weiterentwicklung des neuen Medikaments. Die Niereninsuffizienz breitet sich in der ganzen Welt rasend schnell aus. Wir benötigen das neue Medikament so schnell wie möglich. Das weißt du aus eigener bitterer Erfahrung.

- Wie weit seid ihr mit den klinischen Tests?

- Vielleicht sollten wir Julia selber fragen. Sie arbeitet zurzeit in unserem Münchner Institut.

- Dann lass uns zu ihr fahren.

- Sie wehrte energisch ab: Das, was wir mit ihr zu besprechen haben, ist privater Art und gehört nicht vor die Ohren ihrer Mitarbeiter. Ich habe sie hierher bestellt. Hoffentlich wird sie gleich hier sein.

- Das wäre gut. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.

- Lass uns schon mal ins Haus gehen, es fängt gleich zu regnen an. Ich habe frischen Tee in den Salon bestellt. Er wird schon bereit stehen.

Sie gingen in das schützende Haus als der Regen kam. Blitze und Donner folgten Schlag auf Schlag. Und doch war es befreiend, weil die drückende Schwüle vergangen war. Sie blickten durch die Fenster, als der Regen wie in Sturzbächen vom Himmel fiel. Kleine Bäche auf den Wiesen wurden zu reißenden Strömen. Sie ergossen sich in den See.

In diesem Augenblick öffnete Julia die Tür und betrat den Raum. Wolfgang erhob sich etwas schwerfällig und ging ihr mühsam mit unsicheren Schritten entgegen.

- Willkommen zu Hause, begrüßte er sie auf das Herzlichste. Gut, dass du noch vor dem Regen gekommen bist. Der Himmel dräut, man kann kaum etwas sehen.

- Setze dich zu uns, sagte Ingrid. Möchtest du einen Tee?

- Gern einen Eistee. Auf der Fahrt war es schwül und heiß.

Der Tee wurde gebracht.

- Du kommst gerade aus dem Institut? Wie weit seid Ihr mit den Tests?, erkundigte sich Wolfgang ohne Umschweife.

Es war klar, dass er von dem neuen Medikament sprach. Darum drehte sich in den letzten Jahren alles. Es absorbierte Julias Denken und ihre ganze Konzentration.

- Das Medikament ist noch nicht für die uneingeschränkte Anwendung am Menschen freigegeben, erklärte Ingrid, damit Julia ihren Tee in Ruhe genießen konnte. Wir haben den Durchbruch noch nicht erzielt, aber wir tun, was wir können.

- Julia ergänzte: Wir arbeiten mit Hochdruck an der Auswertung der klinischen Tests. Aber wir haben nicht genügend Testmaterial. Die Ergebnisse sind statistisch noch nicht signifikant. Wir haben viele Patienten, die wir nicht richtig mit dem Wirkstoff versorgen können. Wir benötigen dringend eine größere Menge Vexalin insbesondere für die Tests in unserem Forschungsinstitut in Nicaragua.

- Wolfgang erkundigte sich: Wozu genau braucht ihr eigentlich die großen Mengen nur in Nicaragua?

- Weil wir dort den größten Anteil er Tests durchführen. Dort grassiert die Krankheit ganz besonders. Wir kennen den Grund noch nicht genau. Wie arbeiten daran. Das Vexalin dient uns als Leitsubstanz zur Grundlage für die Tests auf schädigende Eigenschaften und auf unerwünschte Nebenwirkungen. Erst wenn die Tests befriedigende Ergebnisse gebracht haben, können wir die Leitsubstanz chemisch so optimieren, dass wir sie mit der Trägersubstanz koppeln können.

- Ingrid griff ein: Es geht darum festzustellen, wie die Substanz im Körper die bestmögliche Wirkung zeigt. Dazu muss sie an die richtige Stelle im Körper gelangen. Und sie muss ausreichende Zeit im Körper verbleiben, bevor sie abgebaut und ausgeschieden wird.

- Das ist mir schon klar, erwiderte er, aber warum werden die Tests in Nicaragua durchgeführt? Ihr könntet sie auch hier in deinem Münchner Institut durchführen. Dann entfallen die langen Transportwege durch verschiede Klimazonen, und wir könnten viel schneller zu Ergebnissen kommen.

- Julia fühlte sich angegriffen: Hier in Deutschland können wir die Tests nicht mit der gewünschten Schnelligkeit durchführen. Hier müssen wir den gesamten bürokratischen Genehmigungsweg durchlaufen. Das dauert noch viel länger. Nach jeder Testphase benötigen wir eine neue Genehmigung. Die bekommen wir erst, wenn die bisherigen Testergebnisse vorliegen und ausgewertet worden sind. Du weißt, wie langsam unsere Behörden arbeiten.

- Ich weiß. Braucht ihr denn in Nicaragua keine Genehmigungen?

- Doch, aber die bekommen wir ganz schnell so unter der Hand. Sie machte eine kleine Bewegung mit der hinter dem Rücken geöffneten Hand. Da fließt schon mal ein kleines Handgeld unter dem Tisch.

- Davon will ich nichts wissen. Das musst du allein verantworten. Hoffentlich geht dabei nichts schief. Wir würden auch hier in große Schwierigkeiten kommen, wenn wir bei einem unserer Tests einen Unfall zu verzeichnen hätten. Schließlich sind es unsere Produkte.

- Das ist mir vollkommen klar. Wir arbeiten sehr sorgfältig und beachten die festgelegten Standards. Wir arbeiten mit Hochdruck, das kannst du mir glauben, aber wir sind noch nicht über den Berg. Wir sind noch bei den Verträglichkeitstests.

- Ungeduldig fragte Ingrid: Und wann beginnen endlich die Wirksamkeitstests? Die Zeit drängt. Unsere Patienten können nicht länger warten. Und auch dein Vater nicht.

- Wir brauchen mehr Geld und größere Mengen von der Leitsubstanz, um die Tests auf breiter Front durchzuführen. Mit den wenigen Tests dauert es zu lange. Erst wenn die Wirksamkeit unseres neuen Medikaments nachgewiesen ist, dann sind die großen Pharma-Unternehmen bereit, mit uns einen Kooperationsvertrag abzuschließen. Erst dann verfügen wir über die Mittel, mit denen wir die weitere Entwicklung des Medikaments, die Zulassung und Vermarktung finanzieren können.

- Mit dem Abschluss von Kooperationsverträgen, da sei mal vorsichtig. Ich möchte die Ergebnisse deiner Arbeit gerne exklusiv im Hause behalten. Wir sollten uns vorher abstimmen. Jetzt werde ich mich selber um die Produktion der Leitsubstanz kümmern müssen.

- Darauf warte ich schon seit langem, aber es passiert nichts, sagte sie mit leicht gereiztem Unterton.

Sie nippte an ihrem Glas Tee, um sich etwas zu entspannen. Aber sie war voller Unruhe, denn ihr Vater machte keinen tatkräftigen Eindruck, um die Sache energisch voranzutreiben. Und Hinrich war nicht da. Offenbar wusste keiner, wo er sich befand.

- Wir haben in Nicaragua viele Patienten, die alle unter dieser lebensbedrohenden Krankheit leiden, sagte sie. Viele Menschen sterben schon mit jungen Jahren, weil sie nicht genügend Medikamente zur Behandlung der akuten Fälle bekommen.

- Das ist mir bekannt, wehrte der Senior mit schwacher Stimme ab.

Julia dachte sorgenvoll an die vielen leidenden Menschen.

- Ich muss so schnell wie möglich zurück, um mich den Testauswertungen zu widmen, sagte sie ziemlich schroff, weil ihr das Gespräch zunehmend auf die Nerven ging. Schließlich bemühte sie sich seit Jahren um die Zulassung, erhielt aber nicht die benötigte Unterstützung ihres Bruders. Und auch von ihrem Vater konnte sie in seinem jetzigen Zustand nichts erwarten. Er schien doch ziemlich kränklich zu sein. Er wirkte abwesend, in gewisser Weise unbeteiligt.

Julia wollte Abstand von der düsteren Umgebung gewinnen. Ihr wurde mit aller Deutlichkeit klar, dass diese Firma für sie nicht das erstrebte Umfeld war: Die Firma marode, der Vater krank und der Bruder abwesend wenn es um wichtige Themen ging. Und ihre Tante brachte auch keinen positiven Beitrag. Sie wollte nur noch fort.

- Ganz kurz huschte Wolfgangs fragender Blick zu ihr: Du bleibst doch zu meinem Geburtstag? Hoffe ich.

- Ja, ich will deinen großen Geburtstag mit dir feiern. Deshalb bin ich hier.

- Das freut mich. Ich brauche dich hier in meiner Nähe. Mehr als du ahnen kannst.

- Ich weiß es, aber ich habe mein eigenes Leben. Du erinnerst dich: Wir haben die Gründung meines Instituts in Nicaragua gemeinsam beschlossen. Wir wollten die Tests in einem Land durchführen, in dem uns nicht so viele Behörden das Leben erschweren. Nun habe ich dort meine Heimat gefunden.

- Deine Heimat ist hier, beharrte Wolfgang mit Nachdruck, vergiss das nicht. Hier liegen deine Wurzeln. Und hier liegt auch deine Zukunft.

- Julia erhob sich: Lass uns nicht wieder davon anfangen. Das hatten wir doch schon mehrfach besprochen. Seid mir bitte nicht böse. Aber ich muß mich jetzt wirklich um meine Arbeit kümmern. Ich habe einige wichtige Termine in Nicaragua, die ich nicht versäumen darf, aber ich werde in jedem Fall zu deinem Geburtstag zurück sein.

- Darauf verlasse ich mich. Und viel Erfolg.

Julia fühlte sich bedrängt und sann auf andere Möglichkeiten, in denen sie sich und ihre Ideen verwirklichen konnte. Aber erst einmal musste sie die Zulassung des neuen Medikaments erreichen. Darauf würde sie sich konzentrieren. Sie erhob sich abrupt und verließ verärgert den Raum.

- Du solltest nicht immer in dieser eiternden Wunde bohren, sagte Ingrid vorwurfsvoll. Du wirst sie nicht umstimmen können. Sie hat sich entschieden. Sie wird dort bleiben. Ich weiß auch nicht, was sie dort bindet. Manchmal spricht sie von einem jungen Mann. Vielleicht ist das der Grund. Offenbar findet sie bei ihm ihre innere Ruhe und auch Geborgenheit. Hier fühlt sie sich von dir ständig gegängelt, bevormundet und kontrolliert. Das mag sie nicht.

Das Doppelkonzert

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