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Auf Messers Schneide

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Wolfgang Sämann wurde zur Operation vorbereitet. Seine Schwester Ingrid war als verantwortliche Chef-Ärztin im weißen Kittel bei ihm und versuchte ihn zu beruhigen. Zunächst sollte eine Ultraschall-Untersuchung des Herzens mit einer Sonde über die Speiseröhre und den Magen durchgeführt werden. Der Patient wollte wissen, warum diese Untersuchung notwendig sei, zumal er Angst vor dem Schlucken des Schlauchs und der erforderlichen Betäubung des Rachenraums hatte.

- Ingrid erläuterte ihm das weitere Vorgehen: Du brauchst keine Angst zu haben. In der Regel gibt es bei dieser Untersuchung keine Komplikationen. Die Magensonde kennst du ja schon von der Magenspiegelung, die wir vor einem Jahr bei dir durchgeführt haben. Bevor wir uns mit der weiteren Behandlung befassen, wollen die behandelnden Ärzte sicher gehen, dass sie das Problem genau analysiert haben. Auf diese Weise können bestimmte Bereiche des Herzens wesentlich genauer und zuverlässiger erfasst werden, als bei der Ultraschalluntersuchung durch die Brustwand. Veränderungen im Bereich der beiden Vorhöfe, der Herzklappen, ein Blutgerinnsel, aber auch Erkrankungen der vom Herz ausgehenden großen Schlagader lassen sich auf diese Weise zuverlässig erkennen. Ähnlich wie bei der Magenspiegelung wird eine biegsame Sonde über den Rachen in die Speiseröhre eingeführt. Mit dem in die Sondenspitze eingearbeiteten Ultraschallkopf lässt sich das Herz in verschiedenen Ebenen darstellen und der Blutfluss sichtbar machen, wenn Ultraschall-Kontrastmittel in die Vene eingespritzt werden.

- Wolfgang antwortete mit schwacher Stimme: Dann sollen die Ärzte machen, was sie für richtig halten. Wie lange wird die Untersuchung dauern?

- Vielleicht eine Stunde, jedenfalls bist du zu Mittag wieder wach. Und dann besprechen wir alles Weitere. Aber zuvor noch eine Kleinigkeit: Für ein paar Tage wirst du hier in unserer Obhut bleiben müssen, du wirst nicht ins Büro gehen können. Es wäre gut, wenn du mir für die Dauer deiner Abwesenheit eine Generalvollmacht ausstellen würdest.

- Voller Vertrauen blickte er sie an: Ich bin mir sicher, du wirst die Vollmacht nur in meinem Sinn ausüben.

- Sie konnte ihn beruhigen: Die Vollmacht gilt nur für das laufende Geschäft und nicht für Geschäfte, zu denen du einen Notar brauchst: Also Immobiliengeschäfte, Verkauf und Erwerb von Firmen und Beteiligungen. Einstellungen und Entlassungen von leitenden Mitarbeitern sind ebenfalls ausgeschlossen. Sobald du wieder einsatzfähig bist, gebe ich dir die Vollmacht zurück. Wenn alles gut geht, dann wird das schon in ein bis zwei Wochen sein.

- Mit schwacher Stimme hauchte er: Einverstanden, dann lass ein entsprechendes Schriftstück aufsetzen. Ich werde es unterschreiben.

Zufrieden nickte sie ihm zu, wandte sich zum Gehen, schloss die Tür hinter sich und kehrte nach einer Stunde mit einem Schriftstück zurück. Sie gab es ihm und erläuterte die wesentlichen Bestimmungen und Einschränkungen.

Er las die Vollmacht flüchtig durch, konnte aber den Inhalt wegen der komplizierten juristischen Formulierungen nur zur Hälfte verstehen. Er vertraute ihr und unterzeichnete das Papier in Gegenwart der Chefärztin für Neurologie, die auf Ingrids Verlangen nachfolgend bescheinigte, dass er bei klarem Bewusstsein und im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte gewesen sei. Sicher eine gewagte Behauptung, aber sie tat, was von ihr verlangt wurde. Sollte sie sich gegen ihre Chefin zur Wehr setzen? Wozu? Was ging es sie an.

Der Patient wurde mit seinem Bett erst in den Fahrstuhl, dann in ein separates Zimmer im Kellergeschoß geschoben. Er ließ die Untersuchung widerstandslos über sich ergehen, denn er hatte nur ein Ziel: Er wollte so schnell wie möglich wieder gesund werden und nach Hause und an seinen Arbeitsplatz in der Firma zurückkehren. Er hasste es, von anderen Menschen abhängig zu sein. Sein ganzes Leben war er derjenige gewesen, der bestimmte, was zu geschehen hatte, nun aber befand er sich hilflos in den Händen anderer. Das konnte er in seinem ausgeprägten Autonomie-Bestreben nur schwer ertragen. Wenn sie auch freundlich zu ihm waren, so wehrte sich alles in ihm gegen die Bevormundung.

Als er aus der Narkose erwachte, war eine Ärztin bei ihm. Sie fragte ihn, wie es ihm ginge. Er befand sich allein in einem etwas abgedunkelten Raum. Kurz darauf kam Ingrid herein: Ich habe eben die Ergebnisse der Untersuchung bekommen: Du hast einen Thrombus im linken Herzmuskel. Eine Blutbahn ist weitgehend verstopft. Der Herzmuskel ist nur unzureichend mit Blut versorgt. Wir müssen schnellstens einen Stent implantieren, damit das Blut wieder ungehindert durch die Adern fließen kann.

Er erkundigte sich ängstlich:

- Was ist ein Stent? Wie wird das gemacht? Ist es gefährlich? Muss ich am Herzen operiert werden?

Sie hielt ihm eine Broschüre vor die Augen:

- Sieh mal dies Bild: Bei einem Stent handelt sich um eine Art zusammengeschobenen länglichen Drahtkäfig, der durch die rechte Leiste eingeführt wird. Er wird durch die Vene bis ins Herz geschoben und an der durch Ablagerungen verengten Stelle durch einen Ballon aufgeblasen, der anschließend wieder entfernt wird. Dieser Drahtkäfig verbleibt im Herzen und sorgt dafür, dass das Blut wieder frei fließen kann. Jedenfalls ist keine Operation am offenen Herzen notwendig. Es wird kein Gewebe zerstört, und es tut nicht weh. Du merkst nichts und brauchst keine Angst zu haben: In ein paar Tagen hast du alles überstanden.

- Er ergab sich in das Unvermeidliche: Der Drahtkäfig bleibt dort für immer in meinem Herzen? Ist der Eingriff gefährlich?

- Mach dir keine Sorgen. Der Eingriff ist inzwischen reine Routine. Wir machen das fast hundert Mal in jedem Jahr. Der Stent bleibt im Körper und hält die Blutbahn frei. Er stört dich nicht. Du wirst ihn nicht bemerken.

Er stimmte dem Eingriff zu und unterschrieb die geforderte Erklärung, die das Krankenhaus vor jeglicher Art von Schadensersatzansprüchen schützte, wenn bei der Operation irgendetwas schief gegangen sein sollte. Es gab – wie bei allen Eingriffen – allerlei Risiken: Entzündungen, Blutungen, Allergien, Herzversagen und vieles mehr. Aber was nützte es? Wenn er nicht unterschrieb, dann würden sie den Eingriff nicht machen. Das war ihm klar.

Er wurde in den Operationssaal geschoben und auf ein anderes Bett gelegt. Viele Apparaturen um ihn her, eine große Leuchte über ihm, in einem Nebenraum eine Anzahl von Bildschirmen hinter einer Glaswand. Er versuchte zu verstehen, was um ihn herum vorging. Es war nicht möglich. Selbst in wachem Zustand hätte er keine Chance gehabt. Er ergab sich seinem Schicksal. Was hätte er auch sonst tun können? Hilflos, wie er war.

Der Arzt trat zu ihm und lächelte ihm beruhigend zu. Ein paar Hilfskräfte im Hintergrund beschäftigten sich mit irgendetwas. Sie kümmerten sich nicht um ihn. Belanglose Gespräche. Hatten die Schwestern eine Ahnung, welche Sorgen er sich machte, welche Ängste er ausstand? Eine Schwester rasierte ihm die Haare an der Leiste, was ihm sehr peinlich und unangenehm war. Aber er ließ es über sich ergehen und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie das routinemäßig wohl mehrfach am Tage machte. Ob sie wohl verheiratet war oder einen Freund hatte? Eigentlich nicht wichtig. Kurz darauf schlief er ein.

Der Eingriff war offenbar gut verlaufen. Jedenfalls sah es zunächst so aus. Aber er wachte aus der Narkose nicht richtig auf. Da er sehr unruhig war, wurde er an Händen und Füßen ans Bett gefesselt, aber er spürte es kaum, denn er schlief schnell wieder ein. Man hatte ihn in ein künstliches Koma versetzt.

Als er nach drei Tagen erwachte, war Ingrid bei ihm. Auch Julia war anwesend. Nur schemenhaft konnte er die beiden ihm so nahestehenden Personen erkennen. Sie versuchten mit ihm zu sprechen, aber es gelang ihm nur mühsam, ihre einfachen Fragen zu verstehen und zu beantworten. Er schien halbseitig gelähmt zu sein und konnte sich nur schwer verständlich machen. Sein rechter Mundwinkel hing herab. Die Gesichtsmuskeln gehorchten seinem Willen nicht. Sie fragten ihn, ob er wisse, welcher Tag heute sei, aber er wusste es nicht. Er hatte jede Erinnerung verloren.

- Die Oberärztin der Neurologie wurde gerufen. Sie grüßte die Damen beim Betreten des Zimmers: Guten Tag Frau Sämann. Und an Julia gewandt: Sie sind sicher seine Tochter?

- Ja. Ich bin Julia Sämann.

- Die Neurologin zeigte sich freundlich und interessiert: Wie geht es unserem Patienten?

- Ingrid antwortete: Er ist noch nicht bei vollem Bewusstsein.

- Das ist nicht verwunderlich. Er hatte während des Eingriffs einen Ischämischen Schlaganfall bekommen. Wir wissen noch nicht, was genau passiert ist. Vielleicht hatte er eine Hirnhautentzündung oder es könnte sich auch ein Blutgerinnsel während des Eingriffs irgendwo gelöst haben und sich im Gehirn festgesetzt haben. Ein Teil des Gehirns arbeitet nicht richtig. Es ist nicht richtig durchblutet. Jedenfalls braucht er noch viel Ruhe. Wir werden ihm eine Beruhigungsspritze geben.

Der Patient versank sofort in einen tiefen Schlaf. Die beiden Frauen verließen das Krankenzimmer. Hier konnten sie nichts mehr tun und setzten ihr Gespräch vor der Tür fort.

- Julia war sehr beunruhigt: Glaubst du, dass Vater wieder ganz gesund wird? Ich meine, dass er sich in einem erbärmlichen Zustand befindet.

- Es besteht eine sehr gute Chance, dass sich die halbseitigen Lähmungserscheinungen zurückbilden. Der Krankheitsverlauf ist schwer vorherzusagen. Wir müssen die nächsten Tage abwarten. Er ist kräftig und hat gute Chancen, ohne weitere Behinderungen durchzukommen.

- Julia bewegte vor allem eine Frage: Wird er wieder seine Geschäfte aufnehmen können? Habt ihr mal über seine Nachfolge gesprochen? Was soll aus der Firma werden?

- Ingrid hob die Schultern. Ich habe keine Ahnung. Wenn doch wenigstens Hinrich als Nachfolger zur Verfügung stünde, aber der ist dazu nicht geeignet. Zudem ist er nicht stressstabil. In kritischen Situationen versagen seine Nerven. Dann ist er unberechenbar und gefährdet unter Umständen sogar andere Menschen. Wenn er allein auf der Bühne gewesen wäre, dann wäre es noch gegangen, aber er hat dich im Stich gelassen. Das ist unverzeihlich. Er kann seinen Vater nicht ersetzen. Er wird niemals sein Format haben. Und gerade jetzt brauchen wir einen starken Führer.

- Hat er sich eigentlich einmal hier blicken lassen oder hat er wenigstens angerufen?, wollte Julia wissen.

- Ja, er hat versucht mit seinen Vater zu sprechen. Ich habe ihn aber abgewiesen, weil das Gespräch Wolfgang zu sehr aufregen könnte.

- Das ist schade. Die beiden müssten sich dringend einmal gründlich aussprechen.

- Später, aber nicht jetzt, sagte Ingrid mit Bestimmtheit. Er ist noch zu schwach.

- Ist vielleicht auch besser für beide. Jedenfalls hat Hinrich jetzt noch nicht das Format für die Nachfolge, meinte Julia.

- Sie wollte Zeit gewinnen und den Dingen in Ihrer Entwicklung nicht vorgreifen: Vielleicht eines Tages. Man wird sehen. Ein Nachfolger oder Interimsmanager, wie auch immer, steht – soweit ich weiß – nicht zur Verfügung. Ich jedenfalls kenne niemanden.

- Auch Ingrid wusste keinen Rat, jedenfalls hielt sie sich bedeckt: Man müsste einen externen Profi suchen, der an anderer Stelle gezeigt hat, dass er ähnlich schwierige Firmensituationen meistern kann.

- Julia blickte aus dem Fenster. Vielleicht kennt Frau von Stephano jemanden. Die kennt doch tausend Leute in gehobenen Führungspositionen. Man müsste sie bei passender Gelegenheit fragen.

- Ich traue ihr nicht so richtig. Sie ist herrschsüchtig und spielt sich schon jetzt so auf, als sei sie die Herrin im Hause. Sie ist ehrgeizig, rücksichtslos und eigensinnig.

- Vielleicht ist sie gerade deshalb für diese Aufgabe geeignet.

- Möglich, dass sie jemanden kennt. Aber erst einmal müssen wir sehen, dass wir unseren Patienten schnell wieder auf die Beine bekommen.

- Ja, das ist das Wichtigste. Er soll die Führungsfrage der künftigen Firmenleitung selbst entscheiden. Es ist seine Firma, und er muss sich um seine Nachfolge kümmern.

- Ingrid wandte sich zum Gehen: Wir werden sehen, was die nächsten Tage bringen. Jedenfalls werden wir uns hier alle erdenkliche Mühe geben, damit er sich schnell erholt. Darauf kannst du dich verlassen.

Die beiden Frauen zogen sich zurück und verließen die Station. Julia wollte ihre Abreise in die Karibik vorbereiten. Ingrid hatte eine Besprechung mit ihren behandelnden Ärzten einberufen. Alles drehte sich jetzt um den Patienten, um ihren Bruder, um den Patriarchen.

Nach ein paar Tagen hatte sich der Zustand ihres Bruders erheblich gebessert. Er konnte aufstehen und selbständig auf die Toilette gehen. Aber er fühlte sich noch schwach und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Und doch wollte er so schnell wie möglich nach Hause, um die Zügel wieder in die Hand zu nehmen. Er wusste, dass er im Krankenhaus nicht wieder vollständig gesund werden könne, obwohl sich die Ärzte und Pfleger alle erdenkliche Mühe mit ihm gaben. Aber es ging nicht nur um seine physische Gesundung, sondern es ging ihm insbesondere um die Schulung seines Geistes und seines Gedächtnisses. Er musste wieder Zutrauen zu sich selbst finden. Das war im Krankenhaus nicht möglich, vor allem nicht in der Intensivstation, wo ihn der Lärm aus den Nachbarzimmern irritierte: Immer wieder schrillten irgendwo Alarmglocken, Menschen riefen um Hilfe. Ein ständiges Kommen und Gehen auf dem Gang. Er schloss die Tür. Die betreuenden Ärzte aber beharrten darauf, dass seine Tür offen bleiben müsse, damit sie im Notfall sofort zur Stelle sein könnten: Herr Sämann, es ist nur zu Ihrem Besten! Diesen Satz hörte er wieder und wieder. Er konnte ihn nicht mehr hören.

- Mit schwacher Stimme antwortete er: Es mag ja aus Ihrer Sicht so sein, aber ich will und muss hier raus. Und zwar sofort.

- Der Arzt zeigte sich unbeeindruckt: Herr Sämann, Ihre Schwester hat strikte Anordnung gegeben, dass Sie hier in unserer Pflege und Obhut bleiben müssen. Dagegen können wir nichts machen. Sie hat hier das alleinige Sagen. Sie entscheidet, was in der Klinik geschieht und was nicht. Sie müssen sich mit Ihrer Schwester verständigen.

Wolfgang wusste: Er würde sich hier nicht gegen seine Schwester durchsetzen können. Er kannte nicht ihre Motive. Möglich, dass sie wirklich nur das Beste für ihn und seine Gesundung wollte, aber es war durchaus möglich, dass sie ihre eigene Suppe kochen wollte. Sie wollte Macht und Geld! Das war vielleicht die Gelegenheit, auf die sie viele Jahre gewartet hatte. Viele Jahre hatte sie im Schatten ihres großen Bruders gestanden. Das wollte sie nun nicht mehr.

Er schluckte die Tabletten hinunter und lehnte sich wieder in die Kissen zurück. Künftig würde sie über ihn triumphieren, dachte er. Sie wäre dann nicht mehr seine kleine Schwester, die vom Gnadenbrot des übermächtigen Bruders leben würde. Schließlich besaß sie jetzt die Vollmacht über alle Konten. Sie könnte auf diese Weise ihre angespannte finanzielle Situation bereinigen. Zwar besaß sie zusammen mit ihrem Neffen und ihrer Nichte die Kapitalmehrheit an der Firma, die auch ihren Namen trug, doch ohne seine Zustimmung konnte sie keinen Geschäftsführer bestellen. Auch mit seiner Vollmacht konnte sie die Mehrheitsverhältnisse in den Entscheidungsgremien nicht verändern. Und es standen wichtige Entscheidungen an: Es ging um eine Kapitalerhöhung, um neue Beteiligungsverhältnisse und um die strategische Ausrichtung der Firma. Sie musste also warten.

- Von Zeit zu Zeit sah Ingrid nach ihrem Bruder. Sie ließ sich von der Oberärztin die Krankheitsakte zeigen, prüfte die Eintragungen über Temperatur, Blutdruck, Herzfrequenz und die Medikation: Sieht soweit ganz stabil aus, sagte sie mit zurückhaltender Zufriedenheit.

Für den nächsten Morgen hatte sich Isabelle angesagt. Betont leutselig begrüßte sie die Chefärztin auf dem Gang: Wie geht es Ihrem Bruder?

Die Chefärztin war nicht besonders erfreut über ihren Besuch. Sie mochte sie nicht, das war ziemlich deutlich zu spüren. Im Grunde hatte sie für die Ablehnung keinen triftigen Grund, aber sie wollte keine Mitwisser über die internen Verhältnisse der Familie. Nach außen sollte die Familie als intakt gelten. Gerade in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollte nach außen alles als harmonische Einheit und wohl geordnet erscheinen. Zu sehr waren sie auf die Meinungen der Öffentlichkeit angewiesen. So nutzte sie die allgemein in solchen Situationen übliche Floskel: Den Umständen entsprechend. Er ist noch sehr schwach.

- Ich würde den Patienten gerne sehen. Wäre das möglich? Ich habe ein paar Blumen mitgebracht.

- Ja, wir können ihn in seinem Zimmer besuchen. Allein darf ich Sie nicht zu ihm lassen. Er darf sich auf keinen Fall aufregen.

Sie nahmen den Fahrstuhl und fuhren in den siebten Stock. Die Chefärztin ging voran, nickte den Schwestern zu, begrüßte eine Oberärztin und öffnete die Tür am Ende des Ganges. Es war ein sonniges Einbettzimmer. Nichts Besonderes. Ein Zimmer wie jedes andere. Nichts deutete darauf hin, dass hier der Bruder der Chefärztin lag.

- Isabelle betrachtete besorgt den schlafenden Patienten, trat zu ihm an sein Bett und hielt ihre Hand an seine erhitzte Stirn: Er hat Fieber, sagte sie vorwurfsvoll.

- Die Chefärztin nahm die Krankenakte, die sich am Fußende seines Bettes befand. Sie nickte: Wir geben ihm seit gestern ein fiebersenkendes Mittel, das auch gegen die Entzündung wirkt, dessen Ursache wir noch nicht kennen.

- Isabelle wollte Klarheit: Was könnte die Ursache für das Fieber sein?

- Ingrid blickte erneut auf die Eintragungen auf der Akte. Es gibt viele Gründe, aber wir kennen die wirkliche Ursache noch nicht.

- Wie lange wird er noch im Krankenhaus bleiben müssen?

- Das wird sich erst in den nächsten Tagen entscheiden, wenn wir die Ursache des Fiebers kennen. Wir werden ihn auf die Intensivstation verlegen. Anschließend muss er noch zur Beobachtung ein paar Wochen in die Reha-Klinik gleich hier in der Nähe.

- Isabelle ließ sich nicht mit allgemeinen Erklärungen abspeisen: Wenn ich Sie recht verstehe, dann wird er noch ein paar Wochen hier bleiben müssen, bevor er wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt. Ist das richtig?

- Ingrid wagte nicht, sie anzusehen: Hoffentlich kann er überhaupt wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Das ist jetzt noch nicht mit Sicherheit zu sagen. Sie sehen selbst, in welch schlechtem Zustand er sich befindet.

- Isabelle machte sich Sorgen: Und was soll aus der Firma werden, wenn er nicht zurückkehrt? Die Firma braucht eine kompetente Leitung. Sie könnten ihren Bruder vertreten, jedenfalls für eine begrenzte Zeit. Das wäre eine sinnvolle Lösung. Würden Sie in der Zwischenzeit die Firmenleitung übernehmen?

- Mit Entschiedenheit sagte Ingrid: Nein, das werde ich nicht tun, denn ich habe meine Aufgaben hier im Krankenhaus. Damit habe ich genug zu tun. Außerdem bin für die Konzernleitung nicht ausgebildet. Aber vielleicht kennen Sie jemanden, der für diese Aufgabe zur Verfügung stünde?

- Auf diese Frage hatte Isabelle gewartet, aber sie wollte Zeit gewinnen: So jetzt aus dem Handgelenk nicht, antwortete sie, aber ich muss mal sehen, wer zur Verfügung steht. Ich kenne eine ganze Reihe geeigneter Manager, die grundsätzlich für diese Aufgabe in Frage kämen. Man muss sie fragen. Aber es ist nicht leicht, jemanden zu finden, der in einer so schwierigen Situation das Risiko der Firmenleitung auf sich nimmt.

- Dann prüfen Sie die möglichen Kandidaten und schlagen Sie mir ein paar geeignete Herren vor, sagte die Chefärztin in herrischem Tonfall, der klar machte, dass sie nun das Sagen hatte.

- Dazu müsste ich einen Search-Vertrag mit Ihnen abschließen. Mein Honorar liegt üblicher Weise in Höhe von einem Jahresgehalt.

- Wir sollten uns zu einem späteren Zeitpunkt darüber unterhalten. Gehen wir in mein Büro. Ich habe die Vollmacht, einen entsprechenden Vertrag mit Ihnen abzuschließen.

- Gut, gehen wir. Aber ich möchte mich zuvor noch von Ihrem Bruder verabschieden. Sie gingen in sein Zimmer zurück. Er schien zu schlafen. Sie beugte sich über sein Bett und streichelte seine Hand. Er schien es nicht zu bemerken. Voller Sorgen verließ sie ihn. Er tat ihr unendlich leid.

Auf dem Gang bat Ingrid die Besucherin, auf einen Sprung in ihr Büro zu kommen. Sie fuhren in das oberste Stockwerk und setzen sich in ihrem spartanisch eingerichteten Zimmer an einen kleinen Tisch.

- Die Ärztin eröffnete das Gespräch ziemlich von oben herab: Also, Sie glauben, dass Sie einen Manager für uns finden können?

- Ich werde sehen, was ich tun kann. Es kommt natürlich auf die Bedingungen an. Es wird nicht leicht ein, denn es ist überhaupt nicht klar, für welchen Zeitraum seine Tätigkeit bemessen werden soll. Es könnten ein paar Monate oder auch ein Jahr sein. Unabhängig von dem Zeitraum bleibt für ihn das Risiko das gleiche. Der Kandidat wird nur mit viel Geld zu überzeugen sein.

- Genau das ist der wunde Punkt. Wir haben zurzeit einige Produktionsprobleme, und die neuen Medikamente warten noch auf ihre Zulassung. Aber das wird sich wahrscheinlich schnell regeln lassen.

- Unter den Umständen wird es sehr schwierig werden, einen geeigneten Kandidaten für die Aufgabe zu gewinnen. Sie wissen, dass die Zulassung neuer Medikamente oft viele Jahre dauern kann.

- Ingrid wurde ungeduldig. Aber wir brauchen jetzt einen fähigen Manager, dabei betonte sie das Wort:„Jetzt“. Wir wissen nicht, wie lange die Firma ohne die Führung meines Bruders auskommen muss. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen so schnell wie möglich aus der aktuellen Schwierigkeit herauskommen. Sonst geht die Firma den Bach hinunter. Das würde mein Bruder nicht überleben. Sie haben also eine große Verantwortung.

- Ich weiß. Aber nun zu den Details. Wie viel können Sie als Jahresgehalt bieten?

- Mehr als hunderttausend Euro können wir im Augenblick nicht zahlen. Später sehen wir weiter. Das kommt drauf an, wie er sich macht.

- Das ist heute nicht viel für einen qualifizierten Manager. Unter diesen Umständen müssten Sie die Firma in eine Aktiengesellschaft umwandeln und ihm als Ausgleich bei seinem Ausscheiden oder nach etwa drei Jahren ein Aktienpaket anbieten. Das erhöht seine Motivation, für bessere Ergebnisse zu sorgen. Und Sie als Aktionärin würden am Ende daran mitverdienen.

- Auf diesem Gebiet kenne ich mich nicht aus. Dazu bräuchten wir einen Spezialisten.

- Da könnte ich Ihnen behilflich sein.

- Inwiefern?

- Ich kenne mehrere qualifizierte Berater, mit denen ich auf verschiedenen Gebieten zusammenarbeite. Ich müsste mal prüfen, wer für diese Aufgabe besonders geeignet ist und kurzfristig einen Termin frei hat.

- Aber da ist noch etwas: Wir müssen die Kosten für die Beratung in Grenzen halten. Es ist nämlich so, dass wir für eine kurze Übergangszeit einen Kredit brauchen, den wir im Augenblick ohne meinen Bruder nicht bekommen können.

- Auch dabei könnte ich Ihnen helfen, wenn Sie ausreichende Sicherheiten bieten können.

- Das versteht sich von selbst, sagte Ingrid ziemlich von oben herab. Mein Bruder und ich besitzen aus dem Vermögen unseres Vaters eine Villa in Saint Tropez. Sie ist bestimmt dreißig Millionen wert, wie mir gesagt wurde. Wir könnten sie als Sicherheit bieten.

- Das wäre immerhin schon mal etwas. Ich müsste sie sehen. Haben Sie Bilder von dem Objekt?

- Ja, die Bilder habe ich zu Hause. Ich werde sie Ihnen bei Gelegenheit zeigen. Sie werden begeistert sein.

- Frau Sämann, lassen Sie uns ein paar Schritte vor die Tür gehen, denn es brauchen nicht alle Leute unser Gespräch anzuhören.

- Hier hört uns keiner. Ich habe schallschluckende Türen. Sie öffnete die Tür und blickte auf den Gang hinaus. Es war keiner da. Nur ein Bett mit einem Patienten wurde vorbeigeschoben.

- Wir sollten einen neuen Termin vereinbaren, dann haben Sie die Bilder und vielleicht sogar ein Exposee dabei. In der Zwischenzeit kläre ich einen möglichen Termin mit einem geeigneten Berater ab. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich Konkretes erfahren habe.

Das Doppelkonzert

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