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3.2. Der Begriff barock

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Die große Spannweite des Barockbegriffs ist einer der Gründe für die lebhafte Diskussion darüber. Ein weiterer ist, dass sich, zwar anders als bei der Renaissance, auch beim Barock die Frage nach der Eigenständigkeit des Kunststils stellt. Erst im 18. Jh. begann man, den Stil, der ursprünglich schlicht als Normenverletzung – gemessen an den klassischen Vorgaben – wahrgenommen wurde, (in aller Regel negativ) von der Klassik abzuheben. Im 19. Jh. bezeichnete man die Epoche zwischen Renaissance und dem Klassizismus als barock. Wenn wir uns hier auf den Barock als Kultur- und Kunstepoche beschränken, wird er verbreitet auf die 200 Jahre zwischen der Reformation um 1600 und der französischen Revolution 1789 eingegrenzt.

Åman Anders in Zeitler 1966, 179

Der Barock ist demnach insofern ein eigenwilliger Stilbegriff, als er durch Abweichung von einer Norm definiert ist. Seine Begriffsgeschichte ist äußerst komplex. Sie wurde neuerdings von Markus Neuwirth detailliert aufgearbeitet. Die verbreitetste Deutung orientiert sich am Ausdruck barroco, der im Portugiesischen als Fachausdruck des Goldschmiedehandwerks zur Bezeichnung einer unregelmäßigen Perle gebraucht wurde. Eine ähnliche Bedeutung hatte das spanische berrueco, das in der Geologie eine unregelmäßige Gesteinsart bezeichnet. Im Italienischen flaniert der Begriff mit negativer Bedeutung, der Finanzwelt entlehnt, wo baroco für Finanzbetrug stand, durch die Genres. Benedetto Croce führte den Ausdruck auf eine widersinnige Figur der Rhetorik zurück. Den verschiedenen Etymologien (zu denen auch ein Terminus für ein scholastisches Schlussverfahren gehört) ist eine negative Konnotation gemeinsam. Bereits in der Renaissance fand die Bezeichnung für eine bizarre Architektur (etwa für Michelangelos Treppe in der Laurenziana) eine Anwendung. Dies war weniger normativ, sondern schlicht deskriptiv gemeint. Der Ausdruck bizarr, der positiv im Sinne des Extravaganten und negativ im Sinne des Phantastischen und Unbeständigen gebraucht wurde, spielte vermutlich eine wichtige Rolle.

Neuwirth 2015

Ebd., 61–75

Dennoch: das Wort barock bedeutete anfangs schlechter Stil mit einer moralisch negativen Wertung. 1757 verband Antoine-Joseph Pernety in seinem Dictionnaire Portatif de Peinture, Sculpture, et Gravure den Begriff mit der Kunst und definierte barock als Abweichung von den Regeln der Proportion. Antoine-Chrysostôme Quatremère de Quincy klagte 1788 in seinem Dictionnaire d’Architecture über die Exzentrität und Lächerlichkeit der barocken Architektur und nannte Borromini und Guarini Meister eines bizarren Bauens (maîtres du genre bizarre). Ähnlich abfällig äußerte sich Francesco Milizia, der den Ausdruck barock in die Architekturdiskussion Italiens einführte. Die beiden waren die Ersten, die den Ausdruck Barock auf das Werk Borrominis und Guarinis anwandten.

4.2.4.3.2.

Ebd., 27

Diese negative Bewertung setzte sich in vernichtenden Urteilen jener großen Kunsthistoriker des späten 18. und des 19. Jh.s fort, die durch eine klassizistische Brille den Blick auf die »barocke Verirrung« richteten. Johann Joachim Winckelmann bezeichnete den Barock als Seuche, »welche das Gehirn der Gelehrten mit üblen Dünsten erfüllte und ihr Geblüt in eine fieberhafte Wallung brachte.« Die vorsichtig neutralen oder positiven Zwischentöne etwa des »Rubenisten« Wilhelm Heinse oder von Goethe gingen dabei unter. Alois Riegl meinte gönnerhaft: »Gefallen hat ihm die italienische Barockarchitektur nicht, aber sie imponierte ihm. Und damit war schon der Keim der Besserung gelegt.« Bei Jacob Burckhardt wandelte sich die Einstellung zum Barock. Zwar fragte sich auch Burckhardt anfangs in seinem Cicerone, »wie es nur einem Freunde reiner Kunstgestaltungen zuzumuten sei, sich in diese ausgearteten Formen zu versenken, über welche die neuere Welt schon längst den Stab gebrochen«, und sah im Barock einen »verwilderten Dialekt« der Sprache der Renaissance: »Die antiken Säulenordnungen, Gebälke, Giebel usw. werden mit einer großen Willkür auf die verschiedenste Weise verwertet; […].« Aber Burckhardt entwickelte schließlich eine sachliche Sicht auf den Barock. Er sprach von einem Stil und erkannte, wie sehr dieser aus der Renaissance herauswuchs und wie konsequent die ihn begleitende Klassik, die er ebenso wie Goethe als Überwindung von Manierismus und simpler Naturnachahmung außerordentlich schätzte, zur »Sprachenvielfalt« des Barock gehörte. In den Siebzigerjahren des 19. Jh.s hatte sich seine Einstellung erheblich verändert. In einem Brief an den befreundeten Architekten Max Alioth schrieb er: »Mein Respect vor dem Barocco nimmt stündlich zu und ich bin bald geneigt, ihn für das eigentliche Ende und Hauptresultat der lebendigen Architectur zu halten.«

Winckelmann, zit. nach Burbaum 2003, 9

Riegl 1908, 12

Burckhardt 1855, 346/348

Burckhardt, zit. nach Neuwirth 2015, 281

Erst nach der Mitte des 19. Jh.s begann die positive Rekonstruktion. Friedrich Nietzsche hielt in einer kleinen Bemerkung fest, dass nur die »Schlechtunterrichteten und Anmaassenden« beim Begriff barock »eine abschätzige Empfindung haben.« Er setzte den Barockstil in den Plural und sah in ihm gleichsam eine Kompensation eines verfehlten Klassizismus, ja eine »eigenthümliche Ersatzkunst«, die durch überbordende Wirkung den Mangel einer unzulänglichen Klassizität ersetzt. »Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind […].« Aber er bot eben jene »Köstlichkeiten […] als verbotene Früchte am Baume«, die in der klassischen Kunst nicht erlaubt waren.

Nietzsche 1986b, 437f

Ebd., 438

In der Kunstgeschichte erfolgte eine erste ausdrücklich positive Bewertung durch den in der Nähe von Leipzig geborenen Kunsthistoriker Cornelius Gustav Gurlitt. Im Weiteren untermauerten Heinrich Wölfflin und Alois Riegl, aber auch August Schmarsow mit ihren Stilanalysen die Eigenständigkeit des Barock. Trotz dieser grundsätzlich positiven Wendung bleiben die Urteile der genannten Autoren nicht gerade enthusiastisch. Riegl zeigt Verständnis, wenn sich der an die deutsche Kunst gewöhnte Betrachter über das Unklare und Außerordentliche und über unmotivierte »konvulsivische[n] Bewegungen« wundert. Wölfflin, in dem viele den »Begründer eines wissenschaftlichen Barockbegriffs schlechthin« sehen, wandte sich gegen Einschätzungen, die den Barock als Ergebnis eines abstumpfenden Formgefühls wenig schmeichelhaft mit einer verwelkenden Blume vergleichen. Eine Aussage wie: die Renaissance »welkt, sie verliert ihre Form und diesen Zustand nennen wir Barock« greife deutlich zu kurz. Dagegen billigte Wölfflin dem neuen Stil ein eigenes Kunstwollen als Ausdruck eines neuen Zeitgefühls zu. Ich wiederhole dazu eine bereits im Renaissanceteil zitierte Äußerung des Kunsthistorikers: »Die Renaissance musste absterben, weil sie den Pulsschlag der Zeit nicht mehr wiedergab, nicht mehr das aussprach, was die Zeit bewegte, was als das Wesentliche empfunden wurde.« Aus den »Symptome[n] des Verfalls« und der »Verwilderung und Willkür« sollte »womöglich das Gesetz« erkannt werden. Letztlich blieb auch für Wölfflin der Barock ein Stil auf der absteigenden Kurve und ganz ähnlich wie Nietzsche griff auch er schnell zur Psychologie und Kompensationsthese (»das erschlaffte Formgefühl verlangt nach einer Verstärkung des Eindrucks«), allerdings kokettierte er nicht mit den verbotenen Früchten am paradiesischen Baum. Das Formgefühl war immer noch eine Sache des Klassischen. Trotzdem kann man Wölfflins Beschreibungen von den negativen Konnotationen befreien und sie auf eine Formdiskussion, die er selbst immer wollte, reduzieren. Dann bleiben sie für die Eröffnung einer ernsthaften Diskussion um den Barock wegweisend. Aber eben nur für die Eröffnung der Debatte, denn Wölfflin war im Jahr 1888 weit davon entfernt, jenseits einer positiven Bewertung des Barock als eigenständigem Kunststil eine zureichende Beschreibung desselben zu geben.

Wölfflin 1888; Riegl 1908; Schmarsow 1897

Riegl 1908, 3

Moser Walter in ÄGB 1, 586

Wölfflin 1888, 79

VI.8.0.

Ebd., 79/10

Erst seine Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe von 1915 werteten den Barock als eigenständigen Stil weiter auf: »Der Barock, oder sagen wir die moderne Kunst, ist weder ein Niedergang noch eine Höherführung der klassischen, sondern ist eine generell andere Kunst.« Wölfflin entwickelte den Unterschied von Renaissance und Barock aufgrund seiner historischen Stilanalysen um die Paarungen linear-malerisch, Fläche-Tiefe, geschlossene Form-offene Form, Vielheit-Einheit, Klarheit-Unklarheit. Stephan Hoppe konstatiert mit dem wohl höchsten Maß an Wohlwollen, das man Wölfflin angedeihen lassen kann: »Mit der Anwendung des Wölfflinschen Systems war erstmals die Auffassung des Barock als mißratene Renaissance wissenschaftlich widerlegbar geworden.«

Wölfflin 1915, 14

Hoppe 2003, 12

Beinahe schon in polemischer Manier verteidigte der Kulturgeschichte-Essayist Egon Friedell den Barock: »Es wird immer Menschen geben, die die Renaissance höher stellen als die Barocke. Es sind dies vorwiegend jene Menschen, die glauben, daß man ein Kunstwerk nur dann erhaben finden dürfe, wenn es langweilig ist, wie ja auch viele annehmen, daß ein philosophisches Werk nur dann tief sein könne, wenn es unverständlich ist.«

Friedell 1929, II, 58

Walter Moser weist auf einen weiteren Aspekt in der Konzeption Wölfflins hin. Er sieht im Kunsthistoriker einen Vorläufer der Deutung des Barock als Beitrag zur visuellen Kultur. In einer der von Erwin Panofsky entwickelten Vorstellung des mental habit nicht unähnlichen Weise sah Wölfflin eine überindividuelle Art des Sehens, ein »optisches Schema«, das unbewusst eine bestimmte Zeit prägte und als generatives Prinzip wirkte. Das ist aus heutiger Sicht eine erstaunliche Dehistorisierung, die später von Henri Focillon, Walter Benjamin und Gilles Deleuze durchgeführt wurde und die breite Resonanz eines zeitgenössischen Neobarock ausgelöst hat. So wie Ernst Panofsky mehrere Renaissancen in der Kulturgeschichte ausgemacht hat, gibt es auch barocke Phasen in anderen Stil-Epochen. Es ist üblich geworden von einem Barock in der paläolithischen Kunst zu sprechen und man macht auch einen Barock in der osmanischen Baukunst aus, nicht etwa nur in den offensichtlich vom Barock inspirierten Palästen des 18. Jh.s, sondern bereits in den Moscheen Sinans. Man müsste sich einer Suchbewegung hingeben, wie der Terminus barock »can refer to a vision rather than a style or period.« Die Pluralisierung des Begriffs wird sogar bisweilen positiv bewertet, weil sich dann erübrigt, »eine verallgemeinernde Sammelkategorie« zu etablieren. Eine solche besondere Barock-Rezeption wurde vor allem durch das Interesse an neobarocken Tendenzen in der Gegenwart stimuliert. In den Arbeiten der Philosophin Christine Buci-Glucksmann, der Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen Mieke Bal und Ellen Hills wird eine solche Neusichtung ausführlich diskutiert. Sie kommt an anderen Stellen zur Sprache.

V.7.4./IX.3.4.2.

3.3.

Goodwin 1993; Goodwin 1971

V.3.4.2.5.

Bal 2011, 183

Füssel 2017, 21

3.3.f.

Wie nicht anders zu erwarten, waren nicht alle von dem Paradigmenwechsel hin zu einer positiven Sicht des Barock angetan. Kritischen Abstand hielten Benedetto Croce und Theodor Adorno. Adorno sah im Barockrevival eine »regressive Sehnsucht« nach einer mit dem Subjektivierungsprozess verklammerten »dinghafte[n] Ordnung«. Zu ihrer Rechtfertigung ließ sich nach Adornos Meinung der Barock missbrauchen »als intakte Gestalt aus der Vorzeit; von ihm erborgen sie die Aura von Sinn.«

Adorno 1966b, 422

Erst Anfang des 20. Jh.s differenzierte man den Manierismus als eine nochmals eigene Epoche, manche nennen das immer noch voreilig. Es gibt aber auch Theoretiker, die, wie Ernst Robert Curtius es in den Vierzigerjahren vorgeschlagen hat, den Barockbegriff zugunsten eines breiten Manierismusbegriffs überhaupt aufgeben. Trotz einer hohen Prägekraft lokaler Einflüsse ist der Barock der letzte gesamteuropäische und alle Gattungen umfassende Stil, bevor es im 19. Jh. zu einer völligen Pluralisierung kam. Diese Pluralisierung war letzten Endes die Folge des Streits um die Form des Barock. Viele wollten sich nicht mit dem Verlust der Klassizität abfinden, die zudem durch den Rationalismus einen Schub erhalten hatte, und hielten Ausschau nach Alternativen, die sie zuhauf in der Geschichte fanden. Es brach die Zeit der Neo-Stile an.

Wundram/Hubala in BSG 5, 219

Kunstphilosophie und Ästhetik

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