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3.3. Dynamik und System – eine Philosophie des Barock

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Die Barock-Rezeption im 20. Jh. hat den Barock als universelle geistige Bewegung mit einer Fülle von Motiven im Auge und weniger den stilistischen Aspekt. Auch wenn in dieser Untersuchung bildende Kunst und Architektur im Vordergrund stehen, wird das Phänomens Barock erst durch eine Gesamtbetrachtung dieser globalen geistigen Epoche verständlich. Der Barock ist nicht denkbar ohne die gleichzeitigen Entwicklungen der Naturwissenschaften, ohne die neuzeitlichen philosophischen Schulen, in erster Linie der Aufklärung, ohne Beschleunigungsphänomene in Kultur, Wirtschaft und im Verkehr. Wie schon mehrfach betont, nabelte sich Europa in dieser Zeit von seinen (orientalischen) Quellen ab. Während sich das Osmanische Reich von der Entwicklung weitgehend zurückzog, kokettierte Russland damit, auf den fahrenden Zug aufzuspringen.

Um einer Phänomenologie des Barock, fokussiert auf einen kunstphilosophischen Kern, näher zu kommen, kann man sich an den zeitgenössischen historischen und philosophiegeschichtlichen Abläufen orientieren. Denn aus den kunsttheoretischen Schriften dieser Zeit lassen sich zwar einzelne ästhetische Grundprinzipien sowie der Streit um das klassische Erbe rekonstruieren, eine kunstphilosophische Charakterisierung tritt aber nur rudimentär hervor – anders als dies etwa in der Renaissance der Fall war. Es gilt, einen Kernbestand des Barock zu definieren, aus dem die moderne Rezeption sich dann einzelne Aspekte herausgepickt hat, die zwar eine barocke Signatur tragen, ohne aber den Barock als ganzen zu revitalisieren. Zur Kennzeichnung dienen mir die drei philosophischen Erzählungen, welche die Neuzeit vordergründig prägen: (1) Dynamik, (2) System und (3) Subjekt. Im Vergleich zu den drei Kennzeichnungen der Renaissance in VI.3.0. wurde – im Sinne neuzeitlicher Veränderung – der Raum dynamisiert, die Natur systematisiert und das Subjekt im Sinne des cartesianischen cogitare nochmals rational aufgewertet.

(ad 1) Die philosophischen Autoren schrieben am Beginn der Neuzeit am Text der dynamischen Seite des Seins. Es war ein Weiterschreiben mit großem Realitätssinn, denn in der Tat gibt es für das Narrativ einer in sich ruhenden Welt nicht den geringsten Anhaltspunkt in der Realität. Solches wurde in kulturellen Erzählungen immer nur imaginiert. Gilles Deleuze beginnt sein Barockbuch mit einer stupenden Feststellung: »Der Barock verweist nicht auf ein Wesen, sondern vielmehr auf eine operative Funktion, auf ein Charakteristikum. Er bildet unaufhörlich Falten. Er erfindet die Sache nicht: es gibt die vielen aus dem Orient stammenden Falten, die griechischen, römischen, romanischen, gotischen, klassischen usw. Falten.« Wenngleich dieser Blick einen Aspekt der Postmodere ins Licht rückt, verweist Deleuze nicht nur auf die breite Herkunft, sondern eben auch auf das, was Wölfflin die »Unruhe des Werdens« genannt hat, als Kennzeichen des Barock.

Dynamik

Deleuze 1988, 11

Bereits im Manierismus war die ausbalancierte ruhige Ausgewogenheit der klassischen Harmonievorstellung gekippt. Neben die Erklärung, es handle sich um Innovationsdruck der Künstler nach dem Höhepunkt der Renaissance, trat jene, die den Manierismus – mit Blick auf das abrupte Ende der Renaissance im Sacco di Roma – als »Kunst der Krise« charakterisiert. Der Dreißigjährige Krieg, der am Beginn der Neuzeit wütete, war nicht nur eine neuerliche Krise. Er war zugleich eine starke Motivation für die zeitgenössische Philosophie, in ihren philosophischen Systemen den Ausgleich einer scheinbar ständig aus den Fugen geratenden Welt durch eine dynamische Stabilisierung zu erreichen. Die kulturelle Erzählung der Zeit versuchte, das auseinanderstrebende Einzelne in einem dynamischen System einzufangen. Der statische Etatismus der Staatsutopien der Renaissance wich dem Optimismus, diese Integration mit einer Stabilisierung in der Dynamik zu erreichen. Man könnte hier den fernen Archetypus der ägyptischen Ma’at-Figur erkennen wollen, welche für die Einsicht stand, dass ein Prozess immer eine systemische Regulierung braucht.

Hager 1968, 9

VI.8.0.ff.

Statt von einer Kunst der Krise sollte man vielleicht besser von einer Kunst sprechen, die sich an den Verhältnissen orientierte, wie sie wirklich waren und wie sie die neue empirische Erfahrung lehrte. Der Barock wäre dann eine kulturelle Bewegung gewesen, die ein Kapitel realer Weltbeschreibung leistete – immer in der Spannung von gegenläufigen, sich überlagernden Deutungsmustern von Klassizität und dem »eigentlich« Barocken. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, insbesondere der Astronomie (Newtons Entdeckung der Fernwirkung der Kräfte sowie der Stabilität bewegter Systeme), der Biologie (Carl von Linnés Systematisierung der Natur) und der Physiologie (Blutkreislauf) verankerten diese Einsichten in einem breiten Bewusstsein. Die ständige Dynamik in den Griff zu bekommen, sozusagen eine universale Infinitesimalrechnung der Welt (im Sinne Newtons) zu entwickeln, war der verborgene Impuls in den Naturwissenschaften für ihre Ambition der Systematisierung der Natur. Sie verwandelten gleichzeitig damit die rohe Natur zu einer begriffenen, zu einer Natur für den Menschen, indem sie sie in ein System einordneten also im Sinne des demiurgischen Projekts der Natur geometrische Zeichen einschrieben.

II.2.2.2.

1.2.

Spekulativ könnte man feststellen, dass es dem barocken Gestalter einerseits um die Darstellung des gesamten Systems ging, andererseits um die einzelnen Motive des Dynamischen, darunter besonders um Augenblicke des Übergangs, des Transitorischen: Momente des Raubs, das Sterben eines schönen und sinnlichen Märtyrerkörpers oder Augenblicke mystischer Verzückung. »[…] man sieht, es handelt sich dabei um die Grundabsicht aller italienischen Barockmalerei: die Darstellung eines momentanen Affektes.« Die Dynamik wird hier gleichsam eingefroren, denn »der natürliche Feind jedes schönen Augenblicks und damit auch der Sexualität ist die Zeit«.

Riegl 1908, 25

Wetz 2008,185


490 Konvex und konkav, S. Matteo (um 1700); Lecce

Es ging nicht mehr um strenge Naturnachahmung, sondern es ging um die Durchführung einer psychologischen Analyse, der Herausarbeitung eines inneren Erlebnisses. Das traf sich mit dem Prozesscharakter der mystischen Erfahrung. Ist der mystische Akt selbst als Austauschvorgang bereits hochdynamisch, wird dies jetzt nach außen sichtbar gemacht. Die Motive der ekstatischen Verklärung zelebrierten die Künstler geradezu exhibitionistisch. Zum Unterschied von der ausgewogen-ruhigen Renaissance erzählte der Barock das Ekstatische, Ruhelose, Emotionale. Wölfflin fand es Wert festzuhalten, dass (offenbar deshalb) alle großen Barockkünstler, welche die »Ruhe des Seins« gegen die »Unruhe des Werdens« tauschten, unter Kopfschmerzen litten. Diese Bemerkung ist ähnlich eigenwillig wie jene von Cornelius Gurlitt, der den Selbstmord Borrominis in Zusammenhang brachte mit fehlender »innerer Würde, Uebereinstimmung zwischen Maß und Absicht« in seiner Architektur. Aber, so der große Verteidiger des Barock, man müsse genau hinsehen! »Unzählige Feinheiten, geistreiche Gedanken, Lichtblitze des Genie’s offenbaren« sich dann dem »kundigen Beschauer.«


491 Bernini, Verzückung der Hl. Theresia (um 1650); Rom

Wölfflin 1888, 68/39

Der Barock begann mit der Emotionalisierung in Farbe und Form im Manierismus und gipfelte in Darstellungen wie jener der Ekstase der Heiligen Teresa durch Bernini, wo mystischer und erotischer Höhe- und Umschlagpunkt untrennbar ineinander gehen – ganz nach den erotisch aufgeladenen Beschreibungen solcher Erlebnisse durch Mystikerinnen. Der Präsident des Parlaments von Dijon, Baron Charles de Brosses, Mitglied verschiedener Akademien, bemerkte 1740 angesichts des Kunstwerks trocken: »Wenn das die himmlische Liebe ist, kenne ich sie auch.« Bernini hätte denn auch »zweifellos im Anschluß an gründliche Studien nach dem Leben« gearbeitet, meinte Werner Weisbach und stellt fest, dass »das Mysterium mit einem Theatercoup verquickt wird.«

Gurlitt 1887, 365

de Brosses, zit. nach Keller 1971, 13

Weisbach 1921, 136

Mag sein, dass die Erotik doch eher weitgehend körperlos entworfen ist, denn der Körper löst sich im Gewühl der Fältelungen des Stoffes auf. »The cost of her experience is the loss of bodily subjectivity.« Dennoch ist bei diesen Beispielen das Domestizierende des Systems kaum mehr auszumachen. Deshalb kann auch Gilles Deleuze an solchen Stellen andocken und von einer eigentlich barocken Kleidung schwadronieren, »die mit den Falten nicht so sehr den Körper wiedergibt, sondern ihn vielmehr mit autonomen, immer vervielfältigbaren Falten umgibt: […].«

Hills 2011, 28

Deleuze 1988, 197

Der Barock lotete die Grenzen des Systems beständig aus und durchbrach sie ganz bewusst, um das Spannungsgeladene und Dynamische motivisch zu isolieren. Michelangelos David ist in der statischen Balance, Berninis David hingegen kippt aus dem Lot und ist in seiner Spannung festgehalten. System entspricht der Form und diese geht vordergründig verloren. »[…] man kann das Object nicht fassen, formlos möchte man sich hingeben an das Unendliche.« Bernini soll gesagt haben, der Mensch erscheine ihm am echtesten in der Bewegung. Brunelleschis Alte Sakristei blieb als echter Renaissancebau ein in sich ruhendes Gebilde, während im Barock die geometrischen Formen durch Rundungen und durch den Rhythmus von konkav und konvex in Schwingung versetzt wurden. Der Kreis wurde zur Ellipse. Alles geriet scheinbar aus dem Gleichgewicht und zeigte eine extensive Fülle und Verschwendung. Es war viele Jahrhunderte vorher ein Triumph des menschlichen Geistes, als die ersten Philosophen aus einer dynamischen Seinsauffassung den Begriff destillierten. Jetzt drehte sich alles wieder um und man begeistert sich an der befreienden Erzählung vom Dynamischen als der eigentlichen Seinsweise der Wirklichkeit. Auf solche scheinbar willkürliche Häufung von Motiven meint die postmoderne Rezeption sich stützen zu können. Der Barock »krümmt die Falten um, treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.«

Wölfflin 1888, 95

Hager 1968, 17

III.2.3.3.1.

Deleuze 1988, 11

Aber dieses dynamische Ausbrechen ist nur die halbe Wahrheit, denn beim Barock ist das Systemganze stets denkerisch zu ergänzen: Im Fall einer mystischen Verzückung ist das die gelungene Einswerdung mit Gott. Stand in der Renaissance das Ergebnis des demiurgischen Projekts, die Harmonie als vollendete Schönheit beim Weltumbau, im Vordergrund und wurde dargestellt, ging es im Barock um die Bewegung selbst. »Es giebt kein glückliches Sein, sondern ein Werden, ein Geschehen; […]«/»Das Abgeschlossene, Fertige ist seinem Wesen zuwider.«/»Die Kunst hält sich überhaupt nur noch an die Darstellung des Bewegten.« Man kann Stephan Hoppe zustimmen wenn er mit Blick auf den in Prag geborenen Schweizer Architekturtheoretiker Sigfried Giedion festhält: »Geometrie ist hier nicht vor allem mit Statik assoziiert, sondern, im Sinne von Sigfried Giedion, mit deren Gegenteil, der Dynamik.«

Wölfflin 1888, 39/69/87

Die von Balthasar Neumann bei Bad Staffelstein in Oberfranken gebaute Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen hat neben der ebenfalls von ihm geplanten Abteikirche von Neresheim (die nicht mehr von ihm vollendet wurde und aus statischen Gründen ein abgehängtes Holzgewölbe erhielt) die vielleicht komplizierteste Raumlösung der Barockarchitektur. Es ist ein durch und durch dynamischer Raum, der den Betrachter in Bewegung setzt, damit ihm die Ergründung der wie in einer musikalischen Fuge verschlüsselten Raumstruktur überhaupt gelingt: »Kaleidoskopartige Raumfolgen beziehen ihren ästhetischen Reiz nicht zuletzt aus einem gewissen Spannungsmoment, aus der Unvorhersehbarkeit der Wandlung.« Man hat die Kirche einen »Tanzsaal Gottes« genannt. Trotz alledem bleiben die Einzelelemente klar definiert. Sie fügen sich auf der Grundlage einer komplexen Geometrie zu einer Ganzheit (die zusätzlich unabdingbar wurde, weil Neumann den ursprünglichen Plan wegen eines Fehlers der ausführenden Baumeister korrigieren musste).

Hoppe 2003, 133

Müller W. 2004, 24

Die Dynamik erschien manchmal als ordnende, dann wieder als schlicht expressive Bewegung, die ähnliche Angst auslöste wie das sophistische panta rhei bei Platon und zum negativen Ruf des Barock bei den Klassizisten, die der Renaissance nachhingen, beitrug. Der Vergleich mit dem demiurgischen Prozess bei Platon ließe sich weiter strapazieren. Dem Ganzen bleibt das Muster einer grundlegenden Ordnung vorgeschaltet. Die Spannung zwischen diesem Muster und der Form wird dann zur Spannung zwischen dem sogenannten regellosen Barock und dem Klassizismus.

Es ist daher auch keine Überraschung, dass der Barock die modern-postmoderne Rezeption mit einer spannenden Ambivalenz versorgt: Schwere und Leichtfüßigkeit zugleich – gleichsam wie die Ambivalenz von klassischem Kern und barocker Schwingung. Aber vielleicht sollte man anstelle der Schwere von einer Melancholie sprechen, die Christine Buci-Glucksmann in ihrer Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Barockdeutung geortet hat. Hatte Benjamin die Melancholie noch auf den Verlust einer transzendenten Ordnung zurückgeführt, sei die heutige Melancholie eine über den Verlust des utopischen Gehalts der Moderne. Aber diese Melancholie wird neuerdings nicht mehr perpetuiert, sondern sie schlägt um in ein leichtes Spiel mit virtuellen Welten. Die Schwere des Barock gewissermaßen als andere Seite seiner Leichtigkeit. Eine solche Sicht ist nachgerade die völlige Antithese zum Zugang José Antonio Maravalls, der die Totalisierung im Barock als politische Repression verabsolutierte. Allerdings bleibt diese These postmodern überformt. Der darin implizierte Widerstreit, die Unaufhebbarkeit zum Ganzen, »widerstreitet« auch der Konzeption des Barock, der stets systemgetragen war.

IX.3.8.2.

Buci-Glucksmann 1996

(ad 2) Auf die Bedeutung des Systems für die gesamte Neuzeit, besonders aber für den Barock, wurde bereits mehrfach verwiesen. Die philosophische Position des Rationalismus fing in drei die alten Konzepte neu buchstabierenden unterschiedlichen Varianten – Monismus, Dualismus, Pluralismus – das Einzelne in für die Neuzeit typische Systemambitionen (als Fortschreibung des eben erwähnten »Musters«) ein. In den rationalistischen Systemen blieb die das System als Ganzheit konstituierende Dynamik stets sichtbar, etwa in der prästabilierten Harmonie des Leibniz. In diesem Punkt gab es eine Analogie zum Empirismus. Dieser hatte seine dynamische Seite im Ausgleich durch Bindungen an Verträge innerhalb der frei spielenden Marktkräfte. Anders als beim Rationalismus äußert sich beim Empirismus die aufklärerische Metaphysikkritik auch in einer Systemkritik. Der Empirismus bot kunst-philosophisch eine Basis für eine Relativierung von Einheitskonzepten, von Regeln und von einheitlichen Kunststilen.

System

Das artifizielle, von der menschlichen Vernunft ersonnene System ist das Neue gegenüber dem Mittelalter. Es ist dies der Grund dafür, dass die scheinbare Regellosigkeit des Barock keineswegs so regellos war. Insofern darf man auch von dieser Seite her gesehen davon ausgehen, dass der vom Platonismus gespeiste Rationalismus eine tragende kognitive Rolle im Barock übernahm. Stephan Hoppe exerziert dies probeweise an einem Musterentwurf des bedeutenden Architekturtheoretikers des Barock, Leonhard Christoph Sturm, durch und kommt zum Schluss, dass Axialität und Achsensymmetrie, also typische Motive des Rationalismus, über Werkzeuge des Entwerfens hinaus »kulturelle Kognitionskategorien und habituelle Werte« seien. Hoppe argumentiert hier ähnlich wie Erwin Panofsky unter Zuhilfenahme der Kategorie eines mental habit, indem er eine kulturelle Prägung des Barock anspricht. An die Stelle einer vor allem auf Symboliken beruhenden Architektur trat nun die Ambition des Gesamtentwurfs, also des Gesamtsystems.

Hoppe 2008, 389; Hoppe 2003, 130ff

Dieser Systemgedanke verlangte konsequent, dass die Kunstgattungen sich – anders als in der Renaissance – symbiotisch zu etwas vereinten, was man trotz einiger Vorbehalte wohl nicht unzutreffend als Gesamtkunstwerk bezeichnen kann. Manche sprechen heute lieber von einer »Einheit der Kunstgattungen« oder von »Gesamtbildwerk«. Bernd Euler-Rolle formulierte die Zurückhaltung gegenüber dem Begriff des Gesamtkunstwerks stellvertretend für die Kritiker. Das Gesamtkunstwerk sei erst am Beginn des 20. Jh.s in der Kunstgeschichte aus einem falsch verstandenen, in die Zeit des Barock hineininterpretierten Stilwollens nach Einheit, entstanden. Es sei dann interpretiert worden als »die Synthese aller Kunstgattungen zu einer Gesamtwirkung und darüberhinaus die Übereinstimmung dieser Gesamterscheinung mit einem einheitlichen ikonologischen Bedeutungsgehalt, es ist dies ferner die vielgenannte Synästhesie, das heißt die simultane Erregung mehrerer sinnlicher Empfindungen, […].«

Gesamtkunstwerk

Engelberg 2008a

Rupprecht 1986, 11

Euler-Rolle 1993, 365

Euler-Rolle verweist auf den historischen Kontext um die Geburt dieses Begriffs an der Jahrhundertwende im Geist von Jugendstil und Sezession, die Ähnliches anstrebten. Es sei »mehr oder minder eine freie Assoziation, wenn die Kunsthistoriker des beginnenden 20. Jahrhunderts im Barock dennoch gewissermaßen eine Verwirklichung des ästhetischen Universalismus der Jahrhundertwende sahen.« Die Kunsthistoriker dieser Zeit seien von einem kongruenten Stilwollen im Barock ausgegangen. Dies sei deshalb verfehlt, weil man im Barock hinter dem Kunstentwurf nicht eine einheitliche philosophisch-ästhetische Reflexion voraussetzen könne. Erst die Ambitionen des Jugendstils haben den Begriff des (von Wagner stammenden, der damit aber nichts Barockes gemeint habe) Gesamtkunstwerks »für die Anwendung in der Barockforschung attraktiv« gemacht. Zwar erweitert Euler-Rolle den Gedanken noch auf die Romantik, lässt aber eine Anwendung darauf nicht zu.


492 Illusionistische Räume: Andrea Pozzo, S. Ignazio (um 1690); Rom

Ebd., 366/367

Die bedenkenswerte Pointe des Arguments ist, dass der Barock die Kunstgenres eher unter dem Vorzeichen des decorum vereint, aber kein ästhetisches Gesamtkonzept (wie etwa bei Richard Wagner) entworfen habe. Der barocke Sakralraum spiegle beispielsweise trotz aller anagogischen Ambition bloß eine angenommene Einheit von weltlicher, göttlicher und kosmischer Ordnung wider, während das Gesamtkunstwerk der Jahrhundertwende die Einheit ästhetisch erschafft. Es sei dann so, »daß die sogenannten barocken Gesamtkunstwerke ein Abbild der universalen Einheit geben, wohingegen jene der Jahrhundertwende sie erst schaffen […].« Als ein Beleg gilt Euler-Rolle die Beschreibung seiner Tätigkeit durch den Architekten des Dresdner Zwingers, Matthäus Daniel Pöppelmann, dem es um Integration von plastischen Elementen im Sinne des decorums ging und nicht um ein »benennbares selbständiges Konzept.«

Ebd., 369

Ebd., 370

Es hat einen gewissen Reiz, in der Frage nach dem Begriff Gesamtkunstwerk Strenge walten zu lassen und erst ein ästhetisch-philosophisches Konzept (wie es etwa Odo Marquard für das Identitätssystem Schellings vorgeschlagen hat) damit auszuzeichnen. Andererseits könnten weitere Untersuchungen zeigen, ob nicht Entwürfe wie sie von Bernini vertreten wurden oder in den Beschreibungen synästhetischer mystischer Erfahrungen auftauchen (mit ihren bildlichen Umsetzungen), einem solchen Konzept sehr nahe kommen.

VIII.5.2.1.

3.1.

Da sich die Kritik vor allem am deutschen Barock entzündete, wo es Beispiele für relativ gut unterscheidbare Künstlerpositionen gibt, sei der Begriff, allen ausdrücklichen Vorbehalten zum Trotz, wegen seiner Prägnanz für unseren Zweck beibehalten. Das Spiel zwischen dem Gesamtsystem und einer dieses System immer wieder gefährdenden Energie macht den Reiz des Barock aus und ist zugleich ein philosophischer Hintergrund für den Disput zwischen Barock und Klassizismus. Wo das System noch gilt, dort wird es durch eine in sich ruhende Bewegung gleichsam als Summe gegenläufiger Kräfte konstituiert. Dieser prästabilierten Harmonie unterliegt jeder Einzelbereich, ohne dafür ständig eine Korrektur erfahren zu müssen. Die gigantische Schloss- und Stadtanlage könnte kaum besser als mit diesen, von Leibniz stammenden philosophischen Motiven gekennzeichnet werden. Das ist auch der Grund, weshalb zumindest vordergründig der Absolutismus so gut zum System des Barock passt.

Alle diese Genres bilden Ebenen für ein jeweiliges Theater, das für das Ganze steht. Tatsächlich war vor allem im 18. Jh. die Stadtentwicklung ein wichtiges Thema. Die Stadt als Bühne war jetzt ein organisierter Raum, vom öffentlichen Leben bespielt. Neben den großartigen Schlossanlagen entstanden Plätze, Gärten und Prachtstraßen. In Rom lässt sich der Übergang von der Renaissance zum Barock direkt an den großen Bauvorhaben nachvollziehen. Stellvertretend könnte die Baugeschichte von St. Peter stehen, die im Renaissanceteil ausführlicher geschildert wurde. Unter Sixtus V. und seinem Baumeister Domenico Fontana entstand ein neues Rom, das die Zeitgenossen in ganz Europa erstaunte. Der Plan für die Umgestaltung war minutiös und systematisch überlegt worden. Das alte System von Decumanus und Cardo machte einer komplexen topographischen Organisation Platz. Die Hauptkirchen Roms sollten miteinander verbunden werden. Das Mittel der Planimetrie im Städtebau war nun »[…] die Straße, der Gegenstand ihrer Vorsorge der Verkehr.«

V.7.3.3.

Hager 1968, 25

Es laufen noch heute von der Porta del Popolo drei Straßen strahlenförmig stadteinwärts, die wiederum (mit einiger Phantasie) Roms Hauptachsen auf die großen Heerstraßen des Reichs verlängern. An den jeweiligen Schnittpunkten der Achsen stehen entweder Kirchen oder ein Obelisk. Wie bereits im Renaissanceteil erwähnt, ließ Sixtus vier Obelisken aufstellen. Stephan Hoppe verweist auf die Funktion der Achse in Schloss-, Stadt- oder Gartenanlagen als Zeichen der Macht: »Die ›visuelle Thematisierung von Länge‹ kann nicht nur als Veranschaulichung des Prinzips der Unendlichkeit und mithin als angewandte Geistesgeschichte verstanden werden […] sondern auch als die Demonstration größter Machtfülle und sozialen Prestiges.« Allerdings würde diese schöne Aussage noch treffender auf die alten Stadtanlagen des Decumanus-Cardo-Systems passen. Im Barock geht der Eindruck der Länge zwar nicht verloren, aber er wird überformt durch die gesamte Organisation. Neben die Länge treten prominent Fläche und Raum.

Hoppe 2003, 133

Der Platz ist generell im Barock eine Fundgrube sehr individueller unschematischer, aber dafür äußerst spannender Lösungen. Der barocke Stadtplatz ist »nicht nur eine geometrische Ordnungszone innerhalb einer fallweise ungeordneten Umgebung, sondern in seiner Verbindung von skulpturalem Monument, geometrischer Großfigur, Bezugnahme auf seine Straßenanbindung und Durchgestaltung seiner Fassaden im Grunde ein neuer Bautyp.« Häufig haben gerade die kleinen Plätze im städtischen Konglomerat die bezauberndste Ausstrahlung. Barocke Plätze sind Brennpunkte eines bewegten Lebens, sie sind Orte des Theaters, der Idola fori, der Trugbilder des Marktplatzes (Francis Bacon). Die Hauptstadt wird zum Brennspiegel eines gedachten Gesamtsystems. Jedes dieser Spiegelspiele, ob Stadtanlage, Schloss- und Gartenanlage (die als gestaltete jedes Landhaus umgab), Klöster, die wahre Residenzen wurden, ja jedes Stiegenhaus, das Wasserspiel, der Brunnen, ist gleichsam ein kleines Gesamtkunstwerk als Spiegel, in dem sich das große Gesamtkunstwerk abbildet. Eine Monade sozusagen, die potentiell alles, aktuell einen Ausschnitt vom Ganzen enthielt.

Ebd., 134


493 Intimer Platz hinter der Piazza Navona: S. Maria della Pace; Rom

Keller 1971, 16

Das 18. Jh. brachte mit seiner aufklärerischen Motivation eine Gegenbewegung zu den nach rationalistischen Grundsätzen durchkomponierten gigantischen Schloss- und Gartenanlagen des vorhergehenden Jahrhunderts: »War die Architektur des 17. Jahrhunderts kolossal gewesen, so ist die des 18. Jahrhunderts intim.« Ob Fürsten oder Äbte, alle strebten nach der suburbanen Villa, der kleinen Residenz und dem Sommerschlösschen. Die alte Idealisierung Plinius’ des Jüngeren wurde durch Neuausgaben seiner Werke in den Architekturdiskurs eingespeist und diente als Metaerzählung für den Villenbau.

(ad 3) In der Neuzeit führt kein Weg mehr am Subjekt vorbei. Auch im Kontext der Systemphilosophie bleibt das Subjekt der Hauptakteur. Die Generalmonade, auf die sich das System von Versailles ausrichtete, war der König. »Die Gemächer Ludwig XIV. stellten sich offensichtlich als Zentrum und Herz des Königreiches dar.«

Subjekt

Bottineau 1986, 240

Die umfangreiche Vitruvrezeption der frühen Neuzeit nahm immer wieder den Gedanken der Angemessenheit (aptum) auf und buchstabierte ihn, so wie es schon Vitruv getan hatte, unter rhetorischen Vorzeichen (z.B. decorum). Entscheidend war in nahezu allen Rezeptionen dieses Begriffs, dass er nicht für eine sklavische Übernahme der antiken Vorgaben, sondern für die Angleichung an den neuen Kontext stand – eine Aufgabe für das kreative Subjekt. Das war die eigentliche Pointe der ästhetischen Kategorien von aptum und decorum. An diesem zwangsläufig unscharfen Begriff kam es zu einer Kollision zwischen einer tradierten Regelästhetik und einer sich ausbildenden subjektlastigen Rezeptionsästhetik, also dem subjektiven Geschmack. Über die Spannung in dieser Frage vor der Institution des Geschmacks wurde bereits berichtet.

2.2.2.

An dieser Angemessenheit konnte die Formulierung des künstlerischen Ingeniums anschließen – das belebte die bereits in der Renaissance laufende Debatte zum Verhältnis von Naturnachahmung und Genie. Viele Renaissancekünstler verständigten sich darauf, die Natur nach ihrem Ideal und nicht nach ihrer Realität nachzuahmen. Der darin liegende Anspruch, die Natur durch das gestaltende Subjekt zu übertreffen, wurde nun kreativ fortgeschrieben. Die philosophische Erzählung dazu lieferte in erster Linie der Rationalismus mit der Idee der Überformung der Natur durch den Geist. Die oben erwähnte Symbiose von rhetorischer Figur und Mathematik ist gerade unter solchem Hinblick äußerst ergiebig. Zunächst setzte sich die Bedeutung der Mathematik aus der Renaissance fort. Sie war einerseits ein wichtiges (wissenschaftliches) Abgrenzungskriterium der Kunst und Architektur gegenüber dem Handwerk, sie entsprach aber auch der Weltanschauung der Renaissance. Die Mathematik füllte jetzt das weltanschauliche Vakuum, das der Verlust der göttlichen Ordnung hinterlassen hatte: »Mit gravierenden Umbrüchen und den Auflösungserscheinungen mittelalterlicher Gewissheiten konfrontiert, schienen Logik und Mathematik ersatzweise neue beständige Begründungen liefern zu können.«

Hoppe 2008, 381

»Die Mathematik«, gemeint ist hier eine stetige Weiterentwicklung der Geometrie, wurde zu einem Instrument des Subjekts und ermöglichte Entwurfstechniken von riesigen Anlagen, die geradezu ornamentalen Figuren entsprachen. Stephan Hoppe fasst die neue pragmatische Aufgabe der Mathematik so zusammen: »In Gestalt der Perspektive war sie in der Lage, dreidimensionalen Raum andernorts illusionistisch zur Erscheinung zu bringen, und als ›Fernregulierungstechnik‹ in Planung und Verwaltung half sie entscheidend, die immer größer werdenden sozialen wie räumlichen Distanzen zwischen Zentrale und Ausführung zu bewältigen.«

Ebd., 388

Im 20. Jh. stößt man auf ein vergleichbares Verhältnis. Neue Software-Lösungen für Entwurfsprogramme führen zu neuen, wiederum dynamischen »barocken« Bauformen. Insofern begegnet uns in den Architekturtraktaten der Neuzeit ein enorm pragmatisches und praxisbezogenes Wissen. Diese Botschaft traf auf einen wesentlich größeren Kreis gebildeter Bauherren als im Mittelalter und selbst in der Renaissance. Aus Korrespondenzen der Zeit lässt sich rekonstruieren, wie sehr sich Bauherren in die Planungen einmischten. »In der Barockzeit beschäftigten sich vermutlich mehr Personen mit Fragen der Architektur, als jemals zuvor in der europäischen Geschichte.«

IX.6.1.2.f.

Ebd., 382

Dieser befreienden Pragmatik der Mathematik als Konstruktionsinstrument des Subjekts stand die platonische Figur der Mathematik noch lange gegenüber, nämlich die Mathematik als (demiurgisches) Vermögen, die Vollkommenheit eines Gegenstandes, gemessen an der kosmischen Harmonie, umzusetzen. Insofern wurde auch immer wieder der Salomonische Tempel beschworen, dessen Baumeister Gott selbst war, der alles nach der Vollkommenheit der Zahl gefertigt habe.

In seinen großen Systementwürfen beschrieb der Rationalismus zudem einen Raum. Dieser Raum, der in den bildenden Künsten und in der Architektur eine wichtige Rolle spielte, war vom Rationalismus als Raum eines absoluten (aber eben subjektiven) Bewusstseins (cogito) entworfen. Kant unterstellte ihn schließlich dem endlichen Subjekt. Dies steigerte sich nun insofern, als das betrachtende Subjekt als bewegtes angenommen wurde. Wenn Künstler mehrere Fluchtpunkte konstruierten, trugen sie den sich ständig verändernden Standpunkten dieses sich bewegenden Subjekts Rechnung. Von da her lassen sich die oben erwähnten Zusammenhänge herstellen zwischen der Barockkunst und der Videokunst des 20. Jh.s.

Burda-Stengl 2001

VI.6.4.3.

Der Raum, den das Subjekt zu seinem Projektionsraum machte, gehörte dem Bildhauer. Es war eine Einsicht des Manierismus, nämlich Benvenuto Cellinis, dass eine Skulptur von allen Seiten betrachtet werden müsse. Die zögernde Ablösung der Figur aus der Fassade im Hochmittelalter, die Entdeckung des (mathematisch konstruierten) Raums durch die Perspektive in der Renaissance, machte nun einem Raum Platz, der vom Subjekt gestaltet wird. Der Künstler inszenierte eine Geschichte in einem von ihm beherrschten Bühnenraum. In den gewaltigen, ins Monströse gesteigerten Schlossanlagen des Barock, Visualisierungen der ebenso monströsen Systemräume von Leibniz bis Hegel, treffen sich das System mit dem dieses organisierenden Subjekt. Wenn man will, kann man auch weniger philosophisch ambitioniert an die Sache herangehen und auf eine Weiterentwicklung der Perspektive im Barock verweisen. War die Mathematik der Linearperspektive in der Renaissance noch auf einen festen Beobachterstandpunkt bezogen, änderte sich das im Barock. Insbesondere der Städtebau war ein Bereich, »in dem das Konzept des unbewegten Betrachters bald an seine Grenzen stößt, da die dem Blick vor allem offenstehenden Straßenachsen des urbanen Raumes prinzipiell auch Räume der Betrachter-Bewegung sind.« Kunsthistoriker wie Schmarsow und Wölfflin haben diese Veränderung identifiziert und damit die Dynamik als Charakteristikum des Barock erkannt.


494 Dom Maria Himmelfahrt, Deckengemälde v. Paul Troger (1750); Brixen

Hoppe 2003, 212

1.0.

Genau an dieser Linie verlief der Streit zwischen Carracci und Pozzo um die Beibehaltung eines Fluchtpunktes oder die Einführung von mehreren Fluchtpunkten, die der bewegten Betrachterin verschiedene Blickpunkte ermöglichten. An Stellen wie diesen bemerkt man, wie sehr die Frage nach Dynamik und System auf der einen und dem Subjekt auf der anderen Seite ineinandergreifen und nur schwer zu trennen sind. Besonders ergiebig in dieser Hinsicht ist die Deckenmalerei Tiepolos in der von Balthasar Neumann (mit ständigen Eingriffen seines Konkurrenten Johann Lucas von Hildebrandt) gebauten Residenz in Würzburg. Es bieten sich auf dem gewaltigen, 600 m2 umfassenden freien Gewölbe als Malfläche unzählige Blickpunkte, es »scheinen sogar die gemalten Figuren Tiepolos auf die Bewegung des Betrachters zu reagieren: […].«

Ebd., 234

Damit sind wir auf das Subjekt zurückgeworfen. Ernst Cassirer kam auf die Spannung zwischen Rationalismus und Empirismus im Kontext des Barock und des Subjekts zu sprechen. Während das cartesianische Systemdenken zur objektiven zeitlosen Wahrheit neigte, stellte der Subjektbegriff des Empirismus für Cassirer die raum-zeitliche Erfahrungssphäre in den Vordergrund.

Cassirer 1932, 402

Kunstphilosophie und Ästhetik

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