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3.4. Die Motive barocker Kunst und Architektur

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495/496 S. Martino (18. Jh.); Martina Franca, Apulien

Samsonow 2001, 79

Der Barock bot, wie mehrfach beschrieben, ein einmaliges Kaleidoskop dynamisch-bewegter Motive, denen er seine Faszination für die zeitgenössische Rezeption verdankt: wucherndes Muschelwerk, das Licht brechende Spiegel, rollende und tanzende Kurven, Lichtsäulen und -hüllen, Wellenschlag, Synkopen und schwingende Segel. Ich erinnere an dieser Stelle an die medientheoretische Erklärung der Renaissance durch Elisabeth von Samsonow, wonach die Deformationen der »Verschriftung des Raums« den Introitus in das Barock darstellten, wie sie meinte. Die Verflüssigungen der Renaissance »petrifiziert das Barock.« Barocke Bauwerke folgen nicht klaren geometrischen Formen, vielmehr wird diese Geometrie in komplexe Raummäntel übersetzt, durch Stauchung, Druck und Gegendruck verformt, aber stets in einem Rhythmus von konvexer These und konkaver Antithese in eine harmonische (stehende) Schwingung gebracht. Sie haben zudem »etwas bewegt himmelwärts Strebendes, ein imperatives sursum! Der Ort, nach dem alten leibhaftigen Architekturverständnis Koordinate der unwiderruflichen Immobilie, ist durch diese gebauten Himmelfahrten verächtlich gemacht.« Die Semantik, die an musikalische Begriffe erinnert, ist keineswegs zufällig. Schon Alberti verwandte im Hinblick auf diverse Proportionen der Architektur Begriffe der Musik. Die Musik wurde dabei mit der Mathematik gleichgesetzt, man habe auf die Harmonie zu achten. Der Streit um die Harmonie, also um die Parallelität von Mathematik (damit Musik) und Kunst oder Architektur war auch ein Inhalt der Querelle. Es ging darum, an wie viel Klassizität der Renaissance-Tradition noch festgehalten wurde. »In Wahrheit fanden Spekulationen über die Anwendung von musikalischen Proportionen auf bildende Kunst und Baukunst während der Mitte und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein stärkeres Interesse als allgemein bekannt ist.« François Blondel las die Fassaden Palladios von musikalischen Konsonanzen her. Sein Cours d’architecture war geradezu eine Abhandlung über musikalische Proportionen in der Architektur. Darin vermutete er die Ursache von Schönheit, eine These, der Claude Perrault unter Verweis auf Gewohnheit und empirische Erfahrung widersprach.

Ebd., 80

Architektur und Musik

Alberti 1975, 495ff

4.2.2.

Wittkower 1949, 119

4.2.4.3.1.

Inigo Jones war wie auch Henry Wotton ebenfalls überzeugt von der Kraft der Zahlenharmonie, die gleichermaßen für Architektur und Musik Geltung haben. Dies verführte Jones zur Fehldeutung von Stonehenge als Ruine eines römischen Tempels, weil seine Vermessungen eine ideale Harmonie ergaben. Zugleich erhöhte die ausufernde Benützung von Bildmaterial die Anfälligkeit für falsche Zuschreibungen: »Indem der Autor Bild und Text so aufeinander abstimmt, dass alle Hinweise und Vergleichsbeispiele auf einen römischen Rundtempel hinauszulaufen scheinen, und indem er alles auslässt, was auf die ältere Megalithkultur verweisen würde, schafft er eine Antikenfiktion: […].« Eine ähnliche Parallelisierung von Musiktheorie und Architektur verfolgten Bernardo Antonio Vittone, Charles-Etienne Briseux (gegen Perrault), aber auch Maler wie Anton Raphael Mengs.

Ebd., 115

Vöhringer 2010, II, 20f

Es waren die Barockkünstler und Barockarchitekten, welche diese Tradition aufgaben. Guarino Guarini hatte mit der Renaissancetradition gebrochen. Ihm folgte später Francesco Milizia mit einer Perspektivierung an der Stelle strenger harmonischer Proportionen. Ebenso war William Hogarth ein vehementer Gegner einer solchen Ansicht. Er gehörte mit dieser Meinung in den Kontext des Empirismus eines David Hume oder Edmund Burke.

5.1./5.2.4.

Tommaso Temanza publizierte 1762 eine Biographie über Palladio (Vita di Andrea Palladio). Darin verwahrte er sich gegen eine Gleichsetzung von musikalischer und architektonischer Harmonielehre, ohne in Frage zu stellen, dass beide von Zahlen bestimmt werden. Sein unmittelbarer Gegner in dieser Diskussion war der geradezu dogmatisch denkende Architekt Francesco Maria Preti aus Treviso. Er arbeitete in einer Gruppe von Theoretikern, die von der Parallelität von Mathematik und Musik überzeugt waren und eine Schule von Treviso bildeten. Temanzas Einwände hoben einerseits auf das Sehvermögen ab, das Länge, Breite und Höhe eines Raums nicht gleichzeitig erfassen könne, und andererseits auf eine grundsätzliche Relativität architektonischer Proportionen. Sie ergäben sich schon daraus, dass beim Blick auf die Proportionen eines Gebäudes stets der Blickwinkel mit berücksichtigt werden müsse.

Wittkower 1949, 117f

Es ist klar, dass zur kunstphilosophischen Position des Klassizismus die Gleichsetzung von mathematischer Harmonie und Schönheitskonzept gehört. Die Musiktheorie konnte hilfreich sein, »die Anforderung einer ganzheitlichen Proportionierung auf rationalistische Weise zu bewältigen […].« Die Wiederaufnahme der barocken Kunst Ende des 19. Jh.s geschah gleichzeitig mit der Wiederentdeckung der barocken Musik. Stand beim Klassizismus (im Sinne des Pythagoreismus) die den mathematischen Gesetzen gehorchende Harmonielehre im Vordergrund, ging es im Barock vor allem um das Dynamische des Rhythmus, des Taktes und um den Klang der Töne.

Hoppe 2003, 159

Kaufmann 2011, 85

III.2.2.3.

Auch abseits von der Idee des Gesamtkunstwerks gibt es im Barock schon im Sinn einer Synästhesie eine Konvergenz von verschiedenen Genres der Kunst. In die Architektur, so wird oft gesagt, habe die Malerei Einzug gehalten. Man kann ein barockes Gebäude ähnlich beschreiben wie ein Gemälde. Heinrich Wölfflin arbeitete den Unterschied zwischen Renaissance und Barock mit Verweis auf die Bildmächtigkeit des letzteren heraus: »Während im klassischen Stil die bleibende Form den Akzent hat und die wechselnde Erscheinung daneben keinen selbständigen Wert besitzt, ist hier die Komposition von vorneherein auf ›Bilder‹ angelegt. Je vielfacher sie sind und je mehr sie sich von der objektiven Form entfernen, für um so malerischer wird die Architektur geschätzt.« Er sah in diesem Malerischen Schein und Bewegung in die Architektur kommen. Malerisches stehe im Gegensatz zum Symmetrischen und Linearen. Das Malerische – so das aktualisierte Narrativ von disegno und colorire – umfasse nicht Klarheit, sondern das Unabschließbare, Stimmungsvolle und öffne sich der Phantasie. An die Stelle von Linie und Umriss treten Rundung und das Amorphe. War der Sakralraum der Renaissance »klar bis in den hintersten Winkel«, verwischt die malerische Architektur mit den dunklen Kapellen die Grenzen und leitet die Phantasie ins »Unbestimmte«.

Einheit der Künste

Wölfflin 1915, 69f

Wölfflin 1888, 28f

Ebd., 122

Die Effekte des Malerischen erzeugen Bewegung und Virtualität. Diese Effekte fanden auf allen Gebieten Anwendung, nicht nur in der Baukunst. Es sind diese »Effekte« barocker Inszenierung, welche die postmoderne Rezeption vor allem speist. Indes unterliegen die barocken Inszenierungen, wie schon gesagt, einer rationalen Planung. Über die dynamischen Motive spannt sich gleichsam die Klammer des Systems. Selbst die ausufernden Feste des Barock folgten einem Ordnungsschema. Versteht man es von der Rhetorik her, bleibt auch unter diesem Gesichtspunkt das Schema der rhetorischen Form, die Pathosformel sozusagen, eine ordnende Klammer. Barbara Borngässer verweist am Beispiel des Innenraums der Kirche Sant’Ivo alla Sapientia in Rom auf dieses System, das die Dynamik einer Ordnung unterzieht: »Seine Kontur scheint zu atmen, sich zu dehnen und sich zusammenzuziehen. Nur schwer wird man gewahr, dass diesem Ein- und Ausschwingen ein ausgeklügeltes geometrisches System zugrunde liegt.«

Borngässer Barbara in Toman 2010, 600

Diesem Schwingen kommt etwas Leichtes zu, trotzdem wird – namentlich von Giulio Carlo Argan und Wölfflin – der Barock neben der Bewegung auch mit Massigkeit und Schwere in Verbindung gebracht, bis hin zum Pathologischen. Das kann aus heutiger Sicht allenfalls an der immer noch an der Klassik orientierten Veränderung der Renaissance nachvollzogen werden, aber kaum an der Rhetorik des geschwungenen Barock. Wie erwähnt eignet sich dieses Bedeutungs-Lastige für Deutungen, die den Barock mit der Melancholie in Verbindung bringen. Auch die Ambivalenzen, die den Barock auszeichnen, scheinen einem Kalkül gefolgt zu sein. Es wurde der Sinnenfreude gehuldigt, zugleich das memento mori zelebriert. Die überschäumende materielle Pracht – man halte sich vor Augen, wie wohl ein Bernhard von Clairvaux eine von Cosmas Damian Asam gestaltete Kirche wie die Johann-Nepomuk-Kirche in München kommentiert hätte – ging Hand in Hand mit einem strengen Glaubensernst.

Wölfflin 1888, 45ff, 63f

V.6.2.4.

Der Barock kannte in der bildenden Kunst eine ausschweifende Herrscherikonographie. Sie griff zurück auf die Mythologie der Antike, auf deren Heroen wie Herkules und Äneas, Ausdruck von Stärke und Gründermetaphorik, dann auf Apollon mit seiner Licht- und Sonnenmetaphorik, die sich für die Konnotation des Sonnenkönigs und Herrschers eines Goldenen Zeitalters fruchtbar machen ließ. Er vertreibt die Mächte des Dunkels und des Bösen aus seinem Reich. Daneben bleiben die bereits in der Renaissance beliebten Themen der guten Regierung durch den Triumph der Weisheit aktuell.

Hier vor allem, bei dieser Phänomenologie der barocken Oberfläche, ist der Ort, wo der Barock seine Faszination für die zeitgenössische Kunst entfaltet. In den vergangenen Jahrzehnten ist allenthalben eine Re-Vision (so ein Symposiumstitel des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien 1996) des Barock in der Kunstszene zu beobachten: going for Baroque! Zur Schau gestellt wird das Sinnliche, Theatralische, die Oberfläche, Erotik, Feminines (gemeint das Vorbild der Madame de Pompadour), das Dynamische, Visuelle und so fort. Zeitgenössische Kunst, die sich mit Raum oder mit Zeit beschäftigt, organische Formen an die Stelle des International Style stellte, arbeitet an Themen des Barock. Barock als Rahmen, in den sich, wie man plötzlich zu bemerken schien, allerlei einfügen lässt. Wo Flammenartiges auftaucht, ist Mystik mit der heiligen Teresa nicht weit, wo sich Falten zeigen, der Barock des Deleuze, wo es kräftig farbig wird, ist man an die Farborgien des Manierismus erinnert. Solche Motive für den »Barock des 20. Jh.s« hat Omar Calabrese zusammengestellt.

going for Baroque!

Bal 2011, 185f

Calabrese 1987

»Das Barock ist also nicht so sehr eine Epoche, ein Stil oder sogar ein Ort, sondern ein Treffpunkt, dessen Verkehrsampel uns stoppt, uns anhält zum Nachdenken über die (Kultur der) Gegenwart und (einige Elemente der) Vergangenheit.« Oder anders die gleiche Mieke Bal: »The idea of a ›contemporary baroque‹ is, then, a fundamentally baroque one and, hence, a tautology: baroque already entails contemporariness./Baroque art, then, […] is an art of performance – hence, performance art.«


497 Otto Zitko, Informelle Malerei in Barockgebäude; Innsbruck

Bal 2001, 23

Bal 2011, 188/199

Bei den gegenwärtigen Deutungen von Benjamin, Deleuze, Buci-Glucksmann, Ellen Hills und anderen geht es um die nicht unumstrittene Unternehmung, den Begriff Barock aus dem historischen Kontext zu lösen und ihn als transhistorisches Phänomen zur zeitlosen Charakterisierung von Kunst- und Architekturformen zu verwenden. Solche Deutungen des Barock vertragen sich nun gar nicht mit der provokant vorgetragenen und deshalb mit einiger Bekanntheit ausgestatteten These des Historikers Peter Hersche (Muße und Verschwendung: europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter; 2006). Hersche spricht dem Barock generell jede Aufklärungsambition ab. Da er den Barock an den Katholizismus koppelt, hat für ihn im katholischen Bereich Aufklärung überhaupt nicht stattgefunden und der Barock hat in Protestantismus und Aufklärung seine Gegner gehabt. Diese nun doch ziemlich eindimensionale Sicht der Dinge erhält noch eine Volte dadurch, dass Hersche den Barockkatholizismus zu guter Letzt als Remedium gegen die Modernisierung anpreist.

Christine Buci-Glucksmann bemüht sich demgegenüber um eine möglichst breite Rezeption und unterscheidet zwei Aspekte, die zwei Paradigmen des Barock entsprechen und die sie Leibniz und Benjamin zuordnet: (1) Der Leibnizsche Komplexitätstypus (neu buchstabiert durch Deleuze) mit der Theorie der Falte und einem Barock mit Kraft und Fülle. Darüber wurde unter 2.2.1. bereits berichtet. (2) Der Benjaminsche Komplexitätstypus mit den Figuren der Ruine, des Fragments, der Melancholie und der Allegorie. Benjamin setze in seiner modernen Allegoriedeutung (z. U. von einer mythischen Einholung des Allegorischen) auf ein destruktives Prinzip, welches die Totalität in Fragmente aufsprengt. Buci-Glucksmann nennt das die »barocke ›Detaillierung‹«. Benjamins Allegorie-Deutung betreibe den Tod der Intention und entspreche der barocken Spannung von Weltorientierung und Transzendenz. Diese zwei Aspekte sind nicht als ausschließender Dualismus zu verstehen, vielmehr bilden sie eine komplexe Beziehung oder – anders ausgedrückt – eine postmoderne Doppelcodierung. Mit Hilfe der Allegorie gelinge Benjamin eine Erweiterung der Bedeutungen und visuellen Vielfalt des Objekts. Benjamins Umgang mit der Allegorie und der Allegorisierung der Welt habe nicht nur die Nachahmung der Natur beendet, sondern auch die Fortschrittsidee zugunsten »derjenigen einer unzeitigen Zeit mit Konstellationen von Vergangenheit und Zukunft in einem ›Gegenwärtigen‹, das von einer Vor- und Nachgeschichte geprägt ist.«

Buci-Glucksmann 2001, 206f

Ebd., 207

IX.3.8.2.

Ebd., 206

Benjamin sah in der Allegorie den Ursprung des Schocks und der Zerstreuung. Bei Buci-Glucksmann wird sie als Kunst des Fragmentarischen und der Dekonstruktion gewürdigt. Die Tätigkeit des Allegorikers bestehe darin, »dieses und jenes Bild mit dieser und jener Bedeutung zu verbinden, wie beim Weben eines Netzes.« Mit Blick auf die Komplexität barocker Anordnungen dechiffriert sie diese als Gesamtheit der Kräfte, die einerseits in Prozessen zwischen dem Virtuellen und dem Realen spielen, andererseits Fraktalität aufweisen, also Selbstähnlichkeit zwischen jedem Detail und dem Ganzen. Der nichtauratische Blick der Allegorie ist Teil eines Theaters »des Trauerns und des Leidens, in welchem eine blendende, spiegelähnliche und kristalline Erscheinung gestattet, dem Tod und dem Nichts zu entfliehen.«

Ebd., 208

Ebd.

Letztlich buchstabiert Buci-Glucksmann die barocke Allegorie in der philosophischen Brechung durch Benjamin als postmoderne Dekonstruktion. Damit liefert sie mit Hilfe der Vorlagen von Walter Benjamin und Gilles Deleuze eine stupende Beschreibung der dekonstruktivistischen Architektur auf der Grundlage einer Universalisierung des Barockparadigmas, das überall anwendbar scheint, wo Falte, Dynamik, Allegorie, System und gesprengtes System auftauchen: »Von den Bahnen der Brownschen Bewegung bis zu den übergeordneten Kurven in einer Dimension existiert ein ganzes Gebiet von unregelmäßigen, sich verzweigenden oder zersprungenen Formen, das mittels Agglutination, Anhäufung und Turbulenz vorgeht und damit eine ganz enge Affinität zu den Modellen einer barocken Ästhetik aufweist, die mittels Inflexionen und ›Falten ins Unendliche‹ vorgeht. […] Das Barock erfindet diesen multidimensionalen Projektionsraum, der alle Formen temporalisiert und sich einer vielfach wahrnehmbaren Ästhetik öffnet, die alle Kunstformen miteinander verbindet.«

Ebd., 210


498/499 Palais des Ducs, umgestaltet von Hardouin-Mansart (1689), Ansicht und Westflügel; Dijon

Kunstphilosophie und Ästhetik

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