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Bücher zwischen Baum- und Netzstrukturen

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Ein besonders erfolgreiches System der Wissensrepräsentation war seit dem Hochmittelalter der Baum. Vom porphyrischen Baum bis zu den Bäumen des Raimundus Lullus (im 13. Jahrhundert), von den sephirotischen Bäumen der Kabbala bis zu den horizontalen Bäumen des Petrus Ramus (im 16. Jahrhundert) blieb der Baum in der Geschichte der Wissensordnungen das prägende Strukturmodell. Diderot stellte seiner Encyclopédie einen Wissensbaum voran, und bis heute werden Datenbanken gelegentlich wie Bäume organisiert. Die Evolutionsgeschichte oder die Entwicklung von Kunst- und Stilrichtungen evoziert nach wie vor das Bild eines Baumes, weshalb Norbert Elias in seinem Buch Engagement und Distanzierung überzeugt behauptete: »In der Tat kann man das Wachstum des Wissens mit dem eines Baumes vergleichen.« Bäume sind geeignete Modelle zur Darstellung komplexer Beziehungen; dennoch wurden sie inzwischen vom Modell des Netzwerks, der Mindmap oder des Rhizoms überholt.

In der Differenz zwischen Baum- und Netzstruktur verkörpert sich auf unauffällige Weise der viel leicht wichtigste Unterschied zwischen den Epochen Gutenbergs und Turings. Das Internet funktioniert nicht mehr wie eine traditionelle Bibliothekssystematik; die Verknüpfung der Themen und In halte widersetzt sich mancher logischen Metastruktur, ohne darum in Chaos und Unübersichtlichkeit abzustürzen. Wissen beginnt vielmehr frei zu flottieren, jenseits von Überschriften und Rubriken; und seine gesteigerte Zugänglichkeit steht offenkundig in engem Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust möglicher Zuordnungen. In diesem System der Netzwerke wird die Beurteilung der Qualität und Verlässlichkeit frei zirkulierender Wissensinhalte immer wichtiger. Mit dem ubiquitären Schlagwort vom Wissensmanagement assoziiert sich daher nicht nur die Frage, auf welchen Wegen ich zu welchem Wissen gelange, sondern auch, wie ich das jeweils erworbene Wissen bewerten und einschätzen soll. Die Kriterien solcher Bewertung können unterschiedlich ausfallen; sie orientieren sich jedoch nur selten an den traditionellen Einteilungen des Wissens. Der Buchmarkt ist zwar – wie jeder andere Markt auch – ein ökonomisches und politisches Netzwerk; davon abgesehen propagiert er aber ein Modell der Wissensrepräsentation, das eher den alten Katalogen und Baumstrukturen verpflichtet ist als den neueren Erscheinungsformen eines frei zirkulierenden, nicht hierarchisierten Wissens. Womöglich artikuliert sich in dieser Haltung ein ebenso nachvollziehbares wie gefährliches Missverständnis. Der Wunsch, das alte Medium Buch erfolgreich zu verkaufen, erzeugt einerseits den verhängnisvollen Zwang, Bücher wie Modewaren zu behandeln; andererseits begünstigt er – viel leicht sogar in einer Kompensation dieses scheinbaren Zwangs zum Neuen – die Tendenz, an einer Einteilung der Bücher und Wissensformen festzuhalten, die inzwischen selbst an konservativen Universitäten aufgegeben wird. Während dort unter steigendem Legitimationsdruck unentwegt neue Studiengänge und Fächer eingerichtet werden, orientiert sich der Buchhandel unbeirrt an Kategorien und Einteilungen der Volkshochschulprogramme aus den Fünfzigerjahren.

Schon die Trennung von fiction und non-fiction entspricht längst nicht mehr einer Realität, in der etwa Erfolgsschriftsteller wie Stanislaw Lem, Umberto Eco oder auch Michael Crichton ihre wissenschaftliche Bildung überzeugend in Romanen dokumentieren, während auf der anderen Seite die Wissenschaften einzusehen beginnen, dass sie ihre Theorien und Erkenntnisse nicht nur der scientific community nahebringen müssen, sondern zumindest jenem Publikum, das in den forschungspolitischen Kontroversen – von Genforschungsbis zu Denkmalsdebatten – Mitspracherecht reklamiert. Spätestens seit Enzensbergers Balladen aus der Geschichte des Fortschritts (von 1975) ist evident, dass die Trennung zwischen Literatur und Sachbuch der Vergangenheit angehört; Wissensinhalte können heute in einer Formenvielfalt dargestellt werden, die von traditionellen Rubriken gar nicht erfasst wird. Noch klarer gesagt: Jedes gelungene Buch widersetzt sich auch seinem Genre. Dava Sobels Bestseller Longitude (von 1995) war ein gutes Beispiel. Wo sollte der Buchhändler dieses Buch aufstellen? Unter der Kategorie »Geschichte«, »Biografie«, »Roman« oder »Technik«? Gehören die amüsanten Bücher von Douglas Adams zur Philosophie, zu den Jugendbüchern, zur Science-Fiction oder zu den Ratgebern? Die Warengruppen-Systematik der Barsortimenter verordnet nach wie vor, jedes Buch in eine einzige Warengruppen-Kategorie einzutragen. Die klassische Baumstruktur der Warengruppen wurde zwar weiter ausdifferenziert; aber die Zuordnungsprobleme werden dadurch nicht gelöst. Allenfalls werden die Verlage gezwungen, ihre Titel noch eindeutiger zu definieren, was jedes Experiment erschwert. Es ist paradox: Was den Verkauf erleichtern soll, erschwert den Einkauf, nämlich die rasche Auffindung der gesuchten Bücher.

Wie aber soll ein Buch erscheinen, wenn es nur noch unter einer einzigen, womöglich falschen Rubrik erscheinen darf? Vielleicht werden darum die Neuerscheinungen – zum Nachteil für ihre eigene Zukunft, denn neu sind die Bücher eben nur einige Monate lang – so rücksichtslos in den Vordergrund gedrängt. Nur das Neue findet einen strategisch günstigen Platz in der Buchhandlung. Seine mögliche Kollision mit den veralteten Kategorien der Wissenseinteilung verschwindet kurzfristig hinter der ein zig überzeugenden Zuordnung, die offenbar noch erbracht werden kann: der Kategorisierung als neu. Können Bücher aber überhaupt noch erscheinen (im emphatischen Sinn dieses Ausdrucks), wenn sie bloß als neu erscheinen dürfen? Inzwischen haben Themenbuchhandlungen und Themenverlage die Konsequenzen aus dieser fatalen Entwicklung gezogen: Sie sind gleichsam in die Zonen der book people aus Bradburys Fahrenheit 451 ausgewandert, wo sie ganz bestimmte Werke zu einem – wo möglich in der Warengruppensystematik gar nicht vorgesehenen – Schwerpunkt präsentieren. Sie kündigen die zwanghafte Bindung an ubiquitäre Tagesaktualität, im Namen der Faszination von Büchern als singulären Objekten, die auf Reisen in Wälder oder auf die notorischen Inseln mitgenommen und gelesen werden wollen. Besteht nicht die Magie der Bücher – auch im Zeitalter des Internets – aus dem Versprechen jener Verwandlung, von der Bradbury und Truffaut erzählen wollten? Mit Staunen und Faszination erfährt Montag: »They are books. Each one, men and women, everyone, commits a book they’ve chosen to memory, and they become the books.«

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