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Multimedia und transmedia Storytelling

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Friedrich Nietzsche experimentierte 1882 ein paar Monate mit einer Frühform der Schreibmaschine – der von dem Kopenhagener Pastor Rasmus Malling-Hansen 1865 konstruierten Skrivekugle (Schreibkugel), der ersten in Serie hergestellten Schreibmaschine der Welt. Die auf der Maschine entstandenen Manuskripte kamen im Unterschied zu handgeschriebenen Texten im damaligen Empfinden erstmalig der Druckansicht sehr nahe. Sie erhielten schon beim Schreiben eine Endgültigkeit, die man in dieser Zeit nur von den Fahnenabzügen gesetzter Texte kannte, der letzten Korrekturmöglichkeit für den Autor, bevor das Manuskript sich in die Endgültigkeit eines Buches verwandelte und sich damit dem Einfluss des Urhebers entzog. Dieses Phänomen veränderte Nietzsches Schreibprozess. »Sie haben recht«, schrieb er seinem Sekretär Heinrich Köselitz, »unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.«

Heute stellt uns das Netz einen ganzen Werkzeugkasten technologischer Instrumente zur Verfügung, um eine Geschichte zu erzählen: Bilder und Videos, Musik, spielerische Elemente und vieles mehr. Auch dieses moderne »Schreibzeug« wird an den Gedanken der Autoren mitarbeiten und neue Formen des Erzählens ermöglichen. Die im Gustav Lübbe Verlag 2011 zunächst nur in elektronischer Form erschienene Romanstaffel Apocalypsis war eine Pionierleistung intermedialen Erzählens, die inzwischen einige Nachfolger gefunden hat. Derzeit macht das Deathbook aus dem Hause Rowohlt von sich reden, das nicht nur multimedial erzählt, sondern auch transmediale Interaktivitäten anbietet. So bekommt man (falls man beim Download seine Kontaktdaten hinterlegt) durchaus beunruhigende Anrufe, Mails und Briefe, die die Geschichte des Buches in das eigene wirkliche Leben überschwappen lassen. Wir dürfen in jedem Fall erwarten, dass solche Erzählstrukturen weiterentwickelt und verfeinert werden – ob uns das gefällt oder nicht.

Spätestens an dieser Stelle werden sich bestimmt einige zu Wort melden, die den Roman in vertrauter Form gegen seine Transformation in Schutz nehmen möchten. Denn ein Roman mit Fotos, Videos, Musik, Internetlinks, Games und anderen technologischen Fremdkörpern sei eben kein Roman mehr.

Aber was ist ein Roman überhaupt? Wikipedia definiert den Roman als »eine literarische Gattung, und zwar die Langform der schriftlichen Erzählung«, die sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelt habe und abzugrenzen sei von der Geschichtsschreibung. Einverstanden, der Roman ist eine literarische Gattung, die sich im 17. Jahrhundert entwickelt hat und vermutlich irgendwann untergehen wird, wie vor ihm das antike Trauerspiel und der Minnesang, um nur einige Erzählformate der Vergangenheit zu nennen. Denn im Kern geht es nicht um literarische Gattung oder Formen, sondern um deren Inhalte, die immer Geschichten erzählen. Und seitdem die Menschheit Geschichten erzählt, aufschreibt und verbreitet, ganz egal in welchem Format, nutzt sie intermediale Techniken.

Mit den christlichen Katakombenmalereien im Rom des dritten Jahrhunderts taucht neben der mündlichen und schriftlichen Überlieferung die Illustration als drittes Medium auf, in dem die Geschichte von Jesus erzählt wird. Später kommen Kirchenfenster, Decken- und Wandmalereien sowie die gesamte Ausstattung von Kirchen hinzu. In einem engeren Sinn ist es sogar so, dass die Geschichte der Buchillustration so alt wie das Buch selbst ist. Schon die ägyptischen Totenbücher, die vor etwa 3.500 Jahren verkauft wurden, waren teils prächtig illustriert. Zu dieser Zeit stellten die Tempelpriester Totenbücher in einer größeren Anzahl her, so dass man fast von einer Auflage im heutigen Sinn sprechen kann. Zur Individualisierung der vorproduzierten Bücher ließ man im Text Platz für den Namen des Verstorbenen. Die ägyptischen Totenbücher wurden wie andere Handelswaren verkauft und sind der früheste Beleg für ein gewerbliches Handeln mit vervielfältigten Texten, der bisher gefunden wurde. Der Comic stellt als relativ junge literarische Gattung zwischen Text und Bild eine Gleichwertigkeit her. Das Bild illustriert nicht den Text, der Text erklärt nicht das Bild. Das intermediale Erzählen, die Verwendung von Bildern für das Auge ergänzend zu den Bildern, die beim Lesen im Kopf entstehen, ist also nicht neu, sondern mediengeschichtlich ein alter Hut. Angesichts der heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Produktion wird der Unterschied zwischen der literarischen Gattung des gedruckten Romans und der einer intermedialen oder transmedialen Erzählung vermutlich in absehbarer Zeit so groß werden, dass Letztere irgendwann nicht mehr als Roman bezeichnet werden kann.

Die bildenden Kunst kann übrigens heute schon auf ähnliche Prozesse zurück blicken. In ihrer kubistischen Phase nutzten Braque und Picasso reale Gegenstände, um sie mit den gemalten Motiven auf der Leinwand zusammenzuführen. In einen gemalten Korbstuhl wurde dann eben ein Stück echten Stuhlgeflechts eingefügt. Schon Jahre vorher hatte Edgar Degas 1881 für seine Plastik Vierzehnjährige Tänzerin ein echtes Tutu, das mehrlagige Tüllkleid der Ballerinen, verwendet. Noch weiter ist Marcel Duchamp gegangen. Er kaufte 1914 in dem Pariser Warenhaus Bazar de l’Hôtel-de-Ville einen Flaschentrockner aus Eisen und erklärte ihn durch eigenhändige Signatur zur Kunst. Er vertrat die Auffassung, dass schon seine Auswahl eines Gegenstandes ein künstlerisches Werk sei. Allen drei Beispiele eigen ist die Nutzung von Gegenständen zur Produktion von Kunst, die mit den traditionellen Werkstoffen der Kunstherstellung nichts zu tun hatten. Die bildende Kunst ist in der Verwendung transmedialer Erzählformen dem literarischen Erzählen also schon weit voraus. Trotzdem wird heute noch auf traditionelle Weise gemalt. Der Kunstmarkt lebt immer noch ganz überwiegend von einer Malerei, die in herkömmlicher Weise produziert wird.

In gleicher Weise wird neben den intermedialen und transmedialen Erzählformen auch der Roman weiter existieren und vermutlich sogar noch lange Zeit das marktdominierende Erzählformat bleiben – bis er (vielleicht) irgenwann einmal in die Reihe literaturgeschichtlich vergangener Gattungen gestellt werden muss.

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