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Bücher auf dem Weg von der Gutenberg- in die Turing-Galaxis

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Uneinigkeit herrscht auch bei der Beurteilung von Marktbereinigungs- und Konzentrationsprozessen. Während einerseits der Untergang kleiner Buchhandlungen und unabhängiger Verlage beklagt wird, heißt es andererseits, die Konzentrationsbildung verlaufe noch viel zu zaghaft und langsam. Kritisiert werden die komplizierten Strukturen des Vertriebs oder die Tendenzen zur Überproduktion, die sich in erhöhten Lagerkosten niederschlagen. Wahlweise wird die Aufrechterhaltung oder der Verstoß gegen die Buchpreisbindung als Krisensymptom moniert; bis heute ist es in Europa bei den gesetzlich fixierten Buchpreisen geblieben, die den Verlagen die Mischkalkulation erleichtern. Den ökonomischen Analysen sekundiert die Behauptung, dass wir im Zeitalter eines umfassenden Medienwechsels leben: Gleichsam mit Lichtgeschwindigkeit werde der Flug von der Gutenberg- zur Turing-Galaxis absolviert. Computer, Smartphones und Internet, so lautet die Hypothese, verändern die Praktiken der Lektüre – die kulturellen Techniken der Distribution von Wissen und Information – viel dramatischer als alle anderen Medien der Moderne zusammen. Bücher und Zeitungen scheinen im Netz nicht ohne tief greifenden Funktions- und Gestaltwandel überleben zu können; befürchtet wird oben drein, dass der Internet-Buchhandel seine Geschäftsanteile durch logistische und technische Perfektionierung weiterhin erheblich steigern wird. Bekanntlich kann man ja heute ein Buch mit einem einzigen Mausklick bestellen, an die Haustür liefern lassen, Kurzbeschreibungen, Zeitungs- und Kundenrezensionen lesen, ja sogar eruieren, was die anderen Kunden, die das Buch gekauft haben, sonst noch in Erwägung gezogen haben; individuelle Empfehlungen (automatisch generiert aus den letzten eigenen Bestellungen), Suchfunktionen und die persönliche Buchhaltung ergänzen ein Servicepaket, das kaum eine stationäre Buchhandlung mehr selbstverständlich anbieten kann.

Dennoch lehren bisherige Erfahrungen, dass ein Medienwechsel nicht automatisch zur Auslöschung des älteren durch das neuere Medium führt. Viel häufiger entwickeln sich unerwartete Wechselwirkungen, Synergien, die manche Potenziale und Qualitäten der scheinbar überwundenen Medien überhaupt erst sichtbar machen. So hat die Briefpost vom Telefon nicht weniger profitiert als der Film vom Fernsehen oder das Buch von der Zeitung (und umgekehrt). Und darum ist die Erwartung durchaus legitim, dass auch die Bücher vom Internet profitieren werden. Aber wie? Und welche Bücher? Am Ende von Truffauts Fahrenheit-Film werden – nach dem inszenierten Tod des Feuerwehrmanns Montag – verschiedene »Buchmenschen« mit den Titeln der Bücher vorgestellt, die sie auswendig lernen (oder bereits gelernt haben). Alle Bürger und Bürgerinnen dieser Buchrepublik repräsentieren Klassiker: Platons Politeia, Wuthering Heights von Emily Brontë, The Corsair von Lord Byron, Lewis Carrolls Alice in Wonderland (und Through the Looking Glass), Pilgrim’s Progress von John Bunyan, Becketts Waiting for Godot, Jean-Paul Sartres Traktat zur Judenfrage – gewiss eine seltsame und überraschende Wahl –, Ray Bradburys Martian Chronicles (eine Reverenz an den Autor von Fahrenheit 451), The Pickwick Papers und David Copperfield von Charles Dickens, Machiavellis Il Principe und Jane Austens Pride and Prejudice, in zwei Bänden, vertreten durch zwei Brüder, die mit den Namen Pride und Prejudice vorgestellt werden. Montag, der ehemalige Feuerwehrmann, entscheidet sich für die Tales of Mystery and Imagination von Edgar Allan Poe. Die Auswahl ist vielleicht ein wenig konservativ und irritierend; sie betrifft – mit Ausnahme lediglich von Platon, Machiavelli und Sartre – den Kanon britischer Nationalliteratur, jenseits der Frage nach Original und Übersetzung. Wenn ich vor die Entscheidung gestellt wäre, einen Teil meines Lebens mit einem einzigen Buch zu verbringen, würde ich vermutlich einen anderen Titel auswählen.

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