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Die Auslagerung von geschlechtlichen Codes aus der Wissenschaft:
Kanon und Reinheit

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Verallgemeinernd könnte man sagen, dass die ‚Naturalisierung‘ der Wissensordnung einen doppelten und dabei paradoxen historischen Prozess durchlaufen hat: Ging es zunächst um den Ausschluss von Geschlecht, so ging es in einem zweiten ‚Schritt‘ um den Einschluss – oder genauer: die Einlagerung – von geschlechtlichen Codes. Auf welche Weise sich dieser doppelte Prozess in den verschiedenen Wissensfeldern vollzogen und niedergeschlagen hat, wird aus den einzelnen Beiträgen in diesem Band deutlich. Am Begriff der ‚Reinheit‘, der für die Wissenschaft eine ähnliche Funktion erfüllt wie der des ‚Kanons‘, lässt sich diese paradoxe Bewegung am besten darstellen. Der Begriff ‚Kanon‘, der inzwischen in seinen geschlechtlichen Codierungen gut erforscht ist,2 kommt ursprünglich aus der Baukunst und heißt soviel wie Richtschnur, Maßstab. Er wurde in der griechischen Antike von dem Bildhauer Polyklet übertragen auf den menschlichen Körper, um Idealmaße und Proportionen zu bezeichnen – Idealmaße, die Polyklet ausschließlich am männlichen Körper demonstrierte. Später wurde der Begriff wiederum auf den Städtebau oder die Konstruktion großer sakraler Gebäude übertragen, die dem ‚sozialen Körper‘ das Aussehen und die Idealproportionen des menschlichen Körpers verleihen sollten, um heute fast ausschließlich auf Texte angewandt zu werden, die in den verschiedenen Disziplinen kanonischen Charakter – also eine Maßstabsfunktion – erhalten haben. Das Problem besteht freilich darin, dass sich die idealen Maßstäbe des Kanons nicht positiv benennen lassen, nur in Abgrenzung gegen das ‚Nicht-Maßstabgerechte‘. Das heißt, ihre Definition hängt immer von der Benennung eines ‚Nicht-Kanons‘ ab. Dieser hat – je nach historischer Notwendigkeit und je nach neu entwickelten medialen Speichersystemen, die über die Wissensordnung bestimmen – unterschiedliche Gestalt. Ihre einzige Gemeinsamkeit: die geschlechtliche Codierung.

Ganz ähnlich wirkt sich auch der Begriff der ‚Reinheit‘ für die Wissenschaft und auf die Etablierung von Wissensfeldern aus. Es gibt wenige Begriffe, die eine solche Macht über das Denken von Individuen und Gemeinschaften ausüben wie die ‚Reinheit‘. Kaum ein Wissensfeld, in dem er nicht eine Schlüsselstellung einnimmt – ob es sich um Religion, Politik, Sexualität, Sprache, Kultur, Psychologie oder eben die Wissenschaften und ihre Rolle für diese verschiedenen Bereiche handelt. Obgleich die [<< 14] ‚Reinheit‘ in jedem Wissensfeld eine andere Bedeutung annimmt, ist allen Bedeutungen gemeinsam, dass sie dazu dienen, Abgrenzungen und Ausschlüsse vorzunehmen. Das besagt schon die Etymologie des Wortes ‚rein‘: Aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen ‚reini‘ bzw. ‚hreni‘ stammend, bedeutet das Wort ursprünglich ‚gesiebt‘ oder ‚gesäubert‘.3 Im Wort ‚rein‘ steckt also die Bedeutung von ‚herein‘ oder ‚hereinnehmen‘, was neben dem Einschluss auch einen Ausschluss beinhaltet. Die Tatsache, dass sich das ,Reine‘ – wie der ‚Kanon‘ – nur durch den Gegensatz zum ‚Unreinen‘ definieren lässt, hat zur Folge, dass in vielen Wissensfeldern der ‚Schmutz‘ oder das ‚Unreine‘ überhaupt erst benannt, sichtbar gemacht oder ‚ritualisiert‘ werden muss. (Zu den ‚Riten‘ würde etwa die der Theologie so ähnliche Kleiderordnung der alten Universität gehören, die nicht durch Zufall dann zu verschwinden begann, als Frauen in den Akademien aufgenommen wurden).

Wie auch die abendländische ‚Wissenschaft‘ von der Theologie ihren Ausgang nahm, hat auch die ‚Reinheit‘ zunächst religiöse Ursprünge. Es gibt, allgemein gesagt, keine Religion, die nicht in der einen oder anderen Weise auf Reinheitsgesetze oder – alternativ – auf die ‚Reinheit‘ des Transzendenten und die ‚Unreinheit‘ des Irdischen Bezug nimmt. Allerdings ist das, was als ‚rein‘ bezeichnet wird, in jeder religiösen Kultur unterschiedlich. Bezieht sich die ‚Reinheit‘ zum Beispiel in der jüdischen Religion auf die Zeremonialgesetze, die eine scharfe Trennung zwischen bestimmten Speisen und über diese zwischen dem Heiligen und dem Profanen fordern,4 so findet in der christlichen Religion eher eine Gegenüberstellung von Bildern statt, die einander ‚ähneln‘ und dennoch als Gegensätze konstruiert werden – etwa die Bilder des Blutes, bei denen das ‚reine‘ Blut des Gekreuzigten oder der Märtyrer dem ‚unreinen‘ Blut, das dem sexuellen Körper und der Sexualität eigen ist, gegenübergestellt wird.5 Auf der Basis einer solchen Gegenüberstellung erhielt zum Beispiel die geschlechtlich übertragene Syphilis den Namen ‚Böses Blut‘. Solche christlichen Bilder von ‚Reinheit‘ fanden sich nach dem Säkularisierungsprozess auf vielen modernen Wissensfeldern wieder. Heute gibt es zum Beispiel einen breiten Konsens darüber, dass Sauberkeit, Hygiene und Gesundheit etwas ‚Gutes‘ darstellen, während alles, was unter den Begriff des Schmutzes fällt, dem Fremden zugerechnet wird. Dass es sich bei dieser Bedeutung von ‚Reinlichkeit‘ um eine symbolische Zuordnung handelt, kann man an sich selbst [<< 15] beobachten: An Orten, die uns fremd sind oder in Ländern, deren Sprache wir nicht sprechen, nehmen wir Schmutz viel deutlicher wahr als in der eigenen Stube. Auch neigen wir dazu, Gefühle von Fremdheit mit Worten und Bildern zu umschreiben, in denen von mangelnder Sauberkeit oder schlechtem Geruch die Rede ist. Solche Wahrnehmungen stehen in einer langen Geistestradition, in der das Fremde (oder Auszuschließende) mit dem Schmutz – oder dem Unreinen – gleichgesetzt wird. In diesem Sinne ist die Reinlichkeit (sozusagen die säkulare Reinheit) auch wiederholt politisch funktionalisiert worden: etwa im rassistischen Antisemitismus, wo von der ‚Reinheit‘ des Volkskörpers und der ‚Unreinheit‘ des ‚jüdischen Blutes‘ die Rede war. In solchen Wissensfeldern und ihren Wissensformen eine hard science zu sehen, würde die moderne Wissenschaft heute – und zu Recht – ablehnen. Dennoch waren es eben diese ‚biologisierten‘ theologischen Diskurse, die im 19. Jahrhundert den Wandel der Wissensordnung vorantrieben und dazu beitrugen, dass die Naturwissenschaften zu Leitwissenschaften aufstiegen.

In der Ästhetik verweist die ‚reine‘ Form bzw. die ‚reine Kunst‘, wie bei der Mathematik oder der Logik, auf eine Vorstellung von Kunst, die keinen Bezug zu Politik, Religion oder sonstigen ‚Botschaften‘ hat, die also frei ist von Inhalten, die nicht ihr selbst, der Kunst gelten. Dann kann ‚Reinheit‘ in der Kunst aber auch auf eine Ästhetik verweisen, die sich dem ‚reinen Denken‘ oder der ‚reinen Form‘ verschrieben hat – etwa die autonome Literatur oder die abstrakte Kunst und die Musik. Oder der Begriff ‚Reinheit‘ bezeichnet eine Architektur, deren Formen von ‚reiner‘ Zwecküberlegung bestimmt werden. Den Begriff der ‚reinen‘ Kunst nehmen freilich auch ästhetische Formen für sich in Anspruch, die gerade eine politische oder religiöse Botschaft zu transportieren versuchen: das ‚Bühnenweihfestspiel‘ Richard Wagners zum Beispiel bzw. die dem ‚Blut und Boden‘ verhaftete Kunst der NS-Zeit, die die Kunst der Moderne als ‚entartet‘, mithin als ‚unnatürliche‘ und ‚fremde‘ Kunst bezeichnete. In allen diesen Fällen geht es um den Ausschluss eines – wie auch immer definierten – ‚Fremdkörpers‘. Dasselbe gilt auch für die Forderung nach einer ‚Reinheit der Sprache‘, die immer dann auftaucht, wenn es darum geht, eine Nation oder ein Sprachgebiet gegen eine vermeintliche ‚Überfremdung‘ zu schützen.

Da der Begriff der ‚Reinheit‘ in enger Beziehung zur Körperlichkeit und mithin zum Tastsinn steht, dieser aber oft (vor allem in seiner sexuellen Bestimmung) als ‚kontaminierend‘ für den ‚reinen Geist‘ betrachtet wurde, ist es nicht erstaunlich, dass das Sehen, schon seit Aristoteles, als der ‚reinste‘ der Sinne gilt, weil er – Distanz zum Objekt voraussetzend – einen hohen Abstraktionsgrad ermöglicht. Hier liegt einer der Schlüssel zum Verständnis des engen Zusammenhangs, den die Moderne zwischen Sehen und Wissenschaft hergestellt hat: Der Begriff der ‚Erkenntnis‘ ist fast zu [<< 16] einem Synonym für Betrachten geworden, und das gilt nicht nur für die Objekte des Wissens, die sich durch das Mikroskop oder andere technische Sehgeräte betrachten lassen – es gilt auch für die am Rechner erstellten Bilder, die etwas ‚sichtbar‘ machen, das eigentlich gar nicht zu sehen ist, etwa die Tätigkeit des Gehirns oder die Doppelhelix der Genwissenschaft. Ausgerechnet diese synthetischen Bilder, die nicht etwa abbilden, sondern eine symbolische Umsetzung für Vorgänge bieten, die in bildhafter Form ‚vorstellbar‘ werden, sind heute zu einer Art von Logo der ‚reinen Wissenschaft‘ geworden, die sich der sinnlichen Wahrnehmung – auch in ihrer abstraktesten Art: dem Auge – entzieht. Auch diese synthetischen Bilder verweisen, wie die Biologisierung theologischer Diskurse, zugleich auf die Einlagerung von Geschlechtercodes in die Wissenschaft.

Allgemein impliziert der Begriff der ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft, dass das Wissen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt und den ‚Gefühlen‘ fernzuhalten ist; es geht also auch um den Ausschluss von Emotionen und von allen Bereichen des Mensch­lichen, die mit dem Begriff des Subjektiven, des Irrationalen oder gar der ‚Leidenschaften‘ einhergehen. Deshalb spielt für die ‚Reinheit‘ auch das psychologische Moment eine wichtige Rolle. Das griechische Wort ‚Katharsis‘ bedeutet Reinigung und beinhaltet das Abreagieren von Affekten. Aristoteles sah in der Tragödie ein Mittel, die Katharsis herbeizuführen. Die Pythagoräer vertraten dagegen die Ansicht, dass sich Angstgefühle am besten durch Musik überwinden lassen, da sie von allen Künsten der Mathematik am nächsten stehe. Die moderne Psychologie und Psychoanalyse – mit ihrem ‚­chimney sweeping‘, wie Joseph Breuers Patientin Anna O. die Vorgänge nannte 6 – setzt ebenfalls auf eine Form von Katharsis, die einer ähnlichen Metaphorik folgt: Durch Verbalisierung und Bewusstmachung soll die Seele von Bedrückendem gereinigt werden. Andere Formen von Therapie versuchen, seelische Konflikte durch ‚Abreagieren‘ aufzulösen. In jedem Fall aber geht es darum, dass es ‚reines Wissen‘ – und das heißt berechenbares, verifizierbares Wissen – nur unter dem Ausschluss von Gefühlen geben kann, die ihrerseits als ‚unrein‘ zu gelten haben. Auch auf diesem Gebiet ist freilich ein paradoxer historischer Prozess zu beobachten, bei dem auf den Ausschluss von Geschlechtlichkeit – die ganz allgemein für ‚das Gefühl‘ (im kollektiven Singular) steht – eine neue und positive Bewertung der Gefühle, also deren Einlagerung folgt: deutlich zu beobachten an der Kultivierung der ‚Empfindsamkeit‘ um 1770 oder später, etwa in der Décadence, an einer neuen Begeisterung für Sinnlichkeit und [<< 17] ‚Leidenschaft‘ bzw. Leiden. Dabei lässt sich zeigen, dass die historischen Veränderungen in der Geschlechterordnung nicht nur die Geschichte der Gefühle beeinflusste, die Norbert Elias so intensiv untersucht hat, sondern auch Rückwirkungen auf den Wandel der Wissensordnung hatte.

Eben weil die ‚Leidenschaft‘ und starke Gefühle als ‚unrein‘ gelten, fällt auch der Sexualtrieb in vielen Kulturen in den Bereich des ‚Unreinen‘, das es zu domestizieren und damit unschädlich zu machen gilt. Dafür gibt es strenge, von einer Kultur zur anderen sich unterscheidende Vorschriften, die etwa festlegen, mit wem der Geschlechtsverkehr ‚rein‘ oder ‚unrein‘ ist. Oder aber die ‚Reinheit‘ wird hergestellt, indem die Bereiche des (asexuell) Heiligen und des (sexuell) Profanen streng von­einander getrennt werden. Eine dritte Form des Umgangs mit der Sexualität bestand in ihrer ‚Heiligung‘, also gerade in der Vermischung des Profanen mit dem Transzendenten. In der christlichen Theologie, die für die westliche Wissensordnung bestimmend werden sollte, wurde die Vorstellung, dass durch Sexualität Leben erzeugt wird, zunehmend verdrängt durch die Auffassung, dass der reine Geist als ‚fruchtbarer Same‘ zu wirken habe. Solche Konstruktionen implizierten immer die Gleichsetzung des weiblichen Körpers, da wo er Körperlichkeit und Sexualität symbolisierte, mit einer ‚unreinen‘ Zeugungsfähigkeit. Wenn Frauen also über Jahrhunderte von klerikalen Ämtern, von kultureller Tätigkeit und vor allem von wissenschaftlicher Arbeit ausgeschlossen blieben, so stand dahinter die Vorstellung, dass der weibliche Körper eine gefährliche Kontamination für die ‚Reinheit‘ des ‚Wissens‘ darstelle.

Insgesamt bedeutet ‚Reinheit‘ in der Wissenschaft also, dass die Forschung durch keine Elemente des Psychischen, des Historischen oder des ‚Subjektiven‘ beeinflusst werden darf. Ging die Theologie noch von einer ‚Reinheit‘ des Wissens aus, das vor allem durch die Sexualität (oder die Leiblichkeit) kontaminiert werden konnte, so gehen die modernen Naturwissenschaften von einen Prinzip der ‚Reinheit‘ aus, das auf dem Ausschluss jedes Zufalls beruht und deshalb in seiner ‚reinsten Form‘ nur im Labor durchgeführt werden kann, wo die Einflüsse der äußeren Welt und das Subjekt des Betrachters auf ein Minimum reduziert sind. Allerdings ist der Unterschied zum theologischen Ausschluss der Leiblichkeit nicht so groß, wie er scheint. Er hat sich nur auf ein anderes Feld verlagert. Hielt sich der Kleriker im Kloster und durch Askese von den schädlichen Einflüssen des irdischen Lebens und seiner Leiblichkeit fern, so übernimmt nun das Labor diese Funktion. Es ist zur modernen Form des Klosters geworden. In dieser Form der Abgeschiedenheit wird keine Askese gefordert, sondern der ‚wissenschaftliche Leib‘ selbst ausgeschlossen, stellt dieser doch ein potentielles Einfallstor des ‚Unreinen‘ und des Zufalls dar. Das heißt, idealiter hat sich die moderne Wissenschaft von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ ihres Trägers [<< 18] verabschiedet; als vollkommen ‚reine Wissenschaft‘ empfindet sie sich erst dann, wenn es ihr gelingt, diesen Wissenschaftler völlig zu ersetzen. Da dies nur in den Naturwissenschaften, zumindest als Phantasie, möglich ist, in den Geisteswissenschaften hingegen an der notwendigen ‚Empfindsamkeit‘ des Forschers scheitern muss, ist hier eine der Erklärungen für die neue Wissensordnung zu suchen. Hard science heißt im Idealfall science without the body of the scientist. Interessanterweise ist eben dies der historische Moment, in dem die Frau, Verkörperung der Körperlichkeit, das Reich der Wissenschaft betritt. Da sich die ‚Reinheit‘ der Wissenschaft – im Prinzip – von der Forderung nach einer ‚Reinheit‘ des Forschers unabhängig gemacht hat, gilt auch die Wissenschaftlerin nicht mehr als kontaminierend.

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