Читать книгу Gender@Wissen - Группа авторов - Страница 14

Das heilige Gen

Оглавление

Dass in der christlichen und postchristlichen Gesellschaft eine enge Beziehung zwischen Wissenschaft und Metaphysik besteht, lässt sich am deutlichsten an den Wissenszweigen darstellen, die um ‚das Gen‘ entstanden sind. Das Gen ist als die Körper- und Wissenschaftsmetapher der Moderne zu bezeichnen, und nicht durch Zufall firmieren die Disziplinen, die genetische Forschung betreiben, inzwischen unter dem Namen ‚Lebenswissenschaften‘. In den Genwissenschaften verbinden sich ­mediale Techniken wie die Schrift, das Alphabet und der binäre Code 40 mit Wissen und religiösen Paradigmen, und diese spiegeln sich ihrerseits in den beiden Konzepten des Körpers wider, dem biologischen und dem sozialen. In den Genwissenschaften verbinden sich also die verschiedenen zur Etablierung der Wissensordnung notwendigen Faktoren – mediale Techniken, sozialer Körper, physiologischer Körper – und zugleich spiegeln sich in ihrer Geschichte die historischen Transformationsprozesse wider, die die Geschichte der Wissensordnung wie die Geschichte der symbolischen Geschlechterordnung durchlaufen hat.

Die Genforschung wird oft als Selbstermächtigung des Menschen interpretiert, als Versuch, sich göttliche Macht anzueignen, und in dieser Hinsicht als der christlichen Demut konträr beschrieben. Es lässt sich aber auch die gegenteilige These aufstellen: dass nämlich der Diskurs über das Gen in der christlichen Tradition selbst verhaftet ist und diese fortführt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Genwissenschaft als Religion mit transzendenter Botschaft zu betrachten sei, sondern vielmehr, dass sie sich den Strukturen christlichen Denkens – und einem spezifisch christlichen Säkularisierungskonzept, das die Weltwerdung der Heilsbotschaft einfordert – verdankt. Ist Christus der Fleisch gewordene Logos, so geht es in der Wissenschaft vom Gen um das Biologie gewordene Bit. In beiden Fällen hängen die ‚Heilsbotschaften‘ eng mit den jeweiligen medialen Errungenschaften zusammen: Dem Christentum war die Erfindung des griechischen Alphabets vorausgegangen, der Genwissenschaft die Erfindung des binären Codes.

Nichts ist schwieriger zu definieren als das Gen, das als eine linguistische Fiktion begann, erfunden vom dänischen Genetiker Wilhelm Johannsen im Jahre 1909, um eine angenommene Zelleneinheit zu beschreiben, die bestimmte Eigenschaften [<< 32] hervorrufen kann. Johannsen übernahm den Begriff wiederum von dem deutschen Physiologen Hugo DeVries, der den Begriff des ‚Pangens‘ von Charles Darwins ‚Pangenesis‘ abgeleitet hatte: Mit Pangenesis (der Verweis auf die Bibel kommt nicht von ungefähr) war die Theorie über den Ursprung der biologischen Variation gemeint. Für die erste Generation der experimentellen Genetiker Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnete das ‚Gen‘ eine physische Eigenschaft – die Flügelform oder Augenfarbe der Fliege Drosophila zum Beispiel, die sich von einem (bis dahin nicht identifizierten) Substrakt von Erbmaterial herzuleiten schien. Heute begreift man DNS (aus der sich das ‚Genom‘ zusammensetzt) nicht als Vorgabe für eine bestimmte körper­liche Eigenschaft, sondern als eine Art von Interaktion der ‚Gene‘ mit sich selbst und dem weiteren Umfeld. Wie bei der Hirnforschung spielen auch bei diesem Wandel die neuen medialen Techniken – Computer und Internet – eine wichtige Rolle. Das moderne Konzept des Gens hat dazu geführt, dass der Körper selbst nicht als eine feste Gegebenheit betrachtet wird, sondern – vergleichbar dem Computer – als ein ‚Satz von Anweisungen‘, als ein ‚Programm‘, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. In ihrem Buch The DNA Mystique schreiben Nelkin und Lindee:

„Menschen sind die ‚Computerausdrucke‘ ihrer Gene. Wenn Wissenschaftler den Text entziffern und decodieren können, die Markierungen auf der Karte klassifizieren und Anweisungen lesen können, so die Vorstellung, dann werden sie auch die Essenz der menschlichen Wesen rekonstruieren, menschliche Krankheit und die menschliche Natur selbst entschlüsseln können, um so die letzten Antworten auf das Gebot ‚Kenne dich selbst‘ zu geben. Der Genetiker Walter Gilbert beginnt seine öffentlichen Vorlesungen über Gensequenzierung damit, dass er eine Kompaktdiskette aus der Tasche zieht und dem Publikum verkündet: ‚this is you‘.“ 41

Hic est corpus meum … Die Geste des Genetikers erinnert an die Worte des Priesters während der Messe, kurz nachdem die Glocke den Akt der Verwandlung von Hostie und Wein in Fleisch und Blut verkündet hat. Und tatsächlich lässt sich das undefinierbare Gen auch am besten mit der Hostie vergleichen, dem corpus christi mysticum, mit dem sowohl der Leib Christi, das ‚fleischgewordene Wort‘, als auch die Gemeinde der Gläubigen bezeichnet wird. Beide Funktionen hat das Gen übernommen. Das Gen ist Zeichen und Fleisch zugleich, eine Metapher für den individuellen und den kollektiven Körper, und es bietet das Versprechen einer fleischlichen Unsterblichkeit. [<< 33] Wie Hostie und Heiliges Abendmahl macht es das Göttliche ‚gegenwärtig‘, es birgt die Erlösung von der ‚Erbsünde‘ (erblicher Krankheit oder Behinderung); und wie bei der Transsubstantiation verspricht es magische Verwandlungen und ‚Wunderheilungen‘. Es ist die Leib gewordene Schrift. Mit der Gentechnologie, so schreibt Hans Jörg Rheinberger,

„wird das Labor, diese privilegierte Schmiede epistemischer Dinge, in den Organismus selbst verlegt und damit potentiell unsterblich, fängt sie doch an, mit der eigenen Schreibmaschine des Seins zu schreiben. Das größte Entzifferungsprojekt dieses Jahrhunderts, das Vorhaben, das menschliche Genom zu sequenzieren, ist auf den Weg gebracht – auf den Weg des Biochip.“ 42

Allein die Tatsache, dass es sich um einen Vorgang des Sequenzierens handelt, verweist auf die Buchstabenkette des Alphabets, und Genwissenschaftler selbst sprechen von der ‚Entzifferung‘ der genetischen Zusammensetzung oder dem Alphabet des Genoms. So wie die Buchstaben des Alphabets eine eigene historische Wirkungsmacht entwickel­ten,43 so verspricht auch dieses ‚Programm‘ den Körper zu verwandeln.

„Die Schrift des Lebens ist in den Schriftraum des Labors transponiert, zum epis­temischen Ding gemacht, in die Welt der mittleren Dimensionen geholt, in denen unsere Sinnesorgane operieren. Der Biologe, als Forscher, arbeitet nicht mehr mit den Genen der Zelle – er weiß ebensowenig wie jeder andere, was das ‚wirklich‘ ist – er arbeitet mit experimentell in einem Repräsentationsraum produzierten Graphemen. Wenn er wissen will, was sie bedeuten, hat er keine andere Möglichkeit, als diese Artikulation von Graphemen durch eine andere zu interpretieren. Die Interpretation eines Sequenzgels kann nie etwas anderes sein als ein weiteres Sequenzgel.“ 44

Genetiker selbst vergleichen das Gen manchmal mit ‚der Bibel‘, dem ‚Heiligen Gral‘, dem ‚Buch des Menschen‘.45 Es erscheint wie ein sakraler Text, der über die Schö [<< 34] pfung der Natur wie über die moralische Ordnung bestimmt. Manchmal wird das Gen auch mit einem ‚Wörterbuch‘, einer ‚Bibliothek‘, einer ‚Karte‘, einem ‚Rezept‘, einem ‚Referenzwerk‘ verglichen. Auch Christus ist Gral, Buch, Bibel und Speise zugleich. Ebenso wie Christus Gott und Mensch, unsichtbar und dennoch materiell ist, verbinden sich auch in DNS Kultur und Natur, Zeichen und Fleisch. In den Worten von James Watson, Nobelpreisträger und ehemaliger Leiter des Human Genome Project, ist das ‚Schreibprogramm‘ DNA „what makes us human“.46 Daher haben Abtreibungsgegner DNS auch als „the letters of a divine alphabet spell(ing) out the unique characteristics of a new individual“ bezeichnet.47

Gibt es – dank des Gens – eine biologisch definierte ‚Erbsünde‘, so ist das Gen auch dazu da, vergleichbar der Hostie, die Absolution zu erteilen: eine Erlösung von der Schuld. Wenn es die Gene sind, die über Verhalten und Handlungen bestimmen, so kann der Mensch nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die Kirche behielt sich das Recht vor, den ‚Sünder‘ nicht in geweihter Erde zu bestatten und ihm damit auch das Recht auf Auferstehung und ewiges Leben zu verweigern. Der Genetiker Francis Crick sagt: „No newborn infant should be declared human until it has passed certain tests regarding its genetic endowment […]. If it fails these tests, it forfeits the right to live.“ 48

Schon die Eugeniker der Jahrhundertwende sprachen von einem „Körperex­trakt“, dem „Beständigkeit bis zur Unsterblichkeit“ eigen sei.49 „Das ewige Leben“, schrieben die amerikanischen Eugeniker Paul Popenoe and Roswell Hill Johnson in den 1920er-Jahren, „ist mehr als eine Metapher oder ein theologisches Konzept.“ Der Tod einer riesigen Agglomeration hochspezialisierter Zellen habe wenig Bedeutung, sobald das Keimplasma weitergegeben worden sei, denn es enthalte „die Seele selbst“ des Individuums.50 Das hatte Folgen: Anfang dieses Jahrhunderts führte die Zeugung und Züchtung von „wertvollem Erbgut“ in den USA zu den sogenannten Better Babies ­Contests. Auf einem Foto ist die Gewinnerin des Wettbewerbs von 1914 zu sehen: die sechs Monate alte Virginia June Nay, nackt auf dem Boden vor einem Bündel Getre [<< 35] ideähren sitzend.51 Diese Bildgestaltung erinnert nicht durch Zufall an mittelalterliche Darstellungen von Christus: Die Kornähren neben dem Abbild des Erlösers verwiesen auf das Brot, die Hostie: den Leib des Herrn als Speise, die Unsterblichkeit verleiht. Bei den Eugenikern hatte das ‚unsterbliche Erbgut‘ diese Funktion übernommen. Better Crops war das Schlagwort, unter dem für verbesserten Nachwuchs geworben wurde.

Prämiert wurde auf den Better Babies Contests nicht etwa die Schönheit des Kindes, sondern seine Übereinstimmung mit Durchschnittsnormen wie Körpergröße, Wachstum etc., das heißt, es ging um Maßstäbe und Normen, um den Kanon selbst. „Hässliche Babys konnten Preise gewinnen. Das einzige, das zählte, waren die objektiven Maße. Für jede Abweichung von der Norm in Größe, Entwicklung oder Gestalt wurden Punkte abgezogen.“ 52 So wird die Norm selbst zum ,heiligen Text‘, zu einem dem Körper eingeschriebenen Kanon. Im säkularen Kontext tritt an die Stelle des ‚Heiligen‘ bzw. der ‚Sünde‘ ‚normal‘ und ‚deviant‘, die wiederum mit ‚natürlich‘ und ‚unnatürlich‘ gleichgesetzt werden. Auf diese Weise wurde die Eugenik zu einer ‚civil religion‘, in deren Zentrum das ‚sakralisierte Kind‘53 steht: ein Topos, der seinen christlichen Ursprung kaum verleugnen kann.54 Mit der Genwissenschaft taucht schließlich auch der Gedanke einer ‚geschlechtslosen‘ Konzeption auf, deren christliche Herkunft kaum zu übersehen ist. Dank der In-vitro-Fertilisation ist die ‚Jungfrauengeburt‘ heute nicht mehr religiöses Dogma, sondern praktizierte Medizin, die bereits bei Frauen durchgeführt wurde, die noch nie Geschlechtsverkehr hatten.55

Mit anderen Worten: Geistesgeschichtlich gesehen bilden viele Fortschritte der Neuzeit und wissenschaftliche Neuerungen keinen Gegensatz zu theologischen Diskursen, sondern geradezu deren Realisierung. Diese Erkenntnis tritt am deutlichsten zutage, wenn man die Geschichte der Wissensordnung mit der Geschichte der symbolischen Geschlechterordnung vergleicht. Das bedeutet weder das Ende der ‚fruchtbaren Ehe‘ von Wissen und Glauben noch stellt es die Bedeutung wissenschaftlicher Errungenschaften in Frage – es impliziert vielmehr einen Erkenntnisvorgang, bei dem Wissensordnung und symbolische Geschlechterordnung auf ihre Überlagerungen und Verflechtungen untersucht werden müssen. Genau das ist das Anliegen dieses [<< 36] Buches: eine Untersuchung der Rolle, die die Kategorie ‚Geschlecht‘ für die Eta­blierung theo­retischer Diskurse sowie für die Wissensordnung insgesamt gehabt hat und weiterhin hat. Dabei rücken auch die Neuen Medien, die wie die Geschlechterstudien eine ‚Querschnittswissenschaft‘ sind, in den Blickpunkt des Interesses: Die Geschichte der Wissensordnung hängt eng mit der Geschichte medialer Vernetzungen und Speichersysteme zusammen. Eben dieser Zusammenhang wird jedoch von der Wissensgeschichte ausgeblendet, so als gelte es die ‚Ursprünge‘ oder die Triebkraft der Wissensordnung zu verbergen. Die symbolische Geschlechterordnung offenbart die historische Wirkungsmacht der Medien über die Wissensordnung, hat doch jede mediale Neuerung im Abendland auch eine Veränderung der symbolischen Geschlechterordnung zur Folge gehabt.

Gender@Wissen

Подняться наверх