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Metaphysik und Wissenschaft

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Gehen wir nun zurück zum Ausgang der Überlegungen, dem Wandel der Wissensordnung, der von der Theologie als Leitwissenschaft über die Geschichte / Philosophie zu den naturwissenschaftlichen Fächern als Leitwissenschaften führte. Man könnte diesen Prozess als Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses begreifen, der Entkirchlichung oder Verlust transzendenter Glaubensinhalte besagt. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass auch die neue Wissensordnung zu ihrer Konstitution einer symbolischen Geschlechterordnung bedarf und in dieser ihre ‚Biologisierung‘ findet. Die Umkehrung ist also nicht so tiefgreifend, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Und zweitens spricht dagegen auch die Tatsache, dass die neuen Leitwissenschaften in mehr als einer Hinsicht die Nachfolge der alten Leitwissenschaften angetreten haben: Ihnen wurde das alte Projekt der Unsterblichkeit überantwortet. Es gibt also eine Linie, die direkt von der Theologie zur Naturwissenschaft führt – und ihre Entwicklung weist viele Parallelen zum Wandel der Geschlechterordnung auf.

In den modernen Naturwissenschaften verbindet sich die Scheu, das Metaphy­sische zu thematisieren, mit einer bemerkenswerten Bereitschaft, religiöse Bilder zur Charakterisierung der eigenen Errungenschaften zu zitieren. So etwa, wenn Stephen Hawking in A Brief History of Time schreibt, dass die Wissenschaftler „the mind of God“ enthüllen;17 und der Physiker George Smoot, der die ‚Big-Bang-Theorie‘ mit der „treibenden Kraft des Universums“ verglichen hat, fragt: „and isn‘t that what God is?“ 18 Leon Ledermann, Nobelpreisträger der Physik, nennt die subatome Einheit, von der er glaubt, dass sie über alles bestimmt, das „God particle“.19 Welcher historische Prozess verbirgt sich hinter dieser Berufung auf das Göttliche, die mit einem Schweigen über die Metaphysik einhergeht? Könnte es sein, dass sich das Schweigen über die [<< 25] ­Metaphysik mit der Tatsache erklärt, dass die der eigenen Forschung zugrunde liegenden Paradigmen, also die historische Dimension des eigenen Werdens, ausgeblendet werden sollen? Jedenfalls verweisen die Zitate darauf, dass die Ansiedlung des alten Projekts der Unsterblichkeit in den Naturwissenschaften nicht nur eine Phantasie von Laien, sondern auch der Wissenschaftler selbst darstellt. In jedem Fall scheint die Wanderung des Unsterblichkeitsprojektes in die Naturwissenschaften dazu beigetragen zu haben, dass sie zu den ‚Leitwissenschaften‘ geworden sind.

Dieser historischen Verlagerung von Glauben zu Wissen liegt eine dem Abendland eigene Bedeutung des Begriffs ‚Säkularisierung‘ zugrunde, die in dem christlich geprägten Kulturkreis etwas anderes impliziert als etwa in der jüdischen Tradition. In der christlichen Welt bedeutet der Begriff ‚Säkularisierung‘, der sich sprachlich von lat. saeculum in der Bedeutung von Geschlecht, Generation oder auch Zeitalter herleitet, zunächst den ‚weltlichen Menschen‘, der dem durch Priesterweihe oder Mönchsgelübde gebundenen ‚religiosus‘ gegenübersteht. Ab dem 16. Jahrhundert wird der Begriff saecularisatio von französischen Kirchenrechtlern und Juristen zur Bezeichnung des Übergangs eines Ordensgeistlichen in den weltlichen Stand benutzt. Später erweitert sich der Begriff zur Bezeichnung des Übergangs kirchlichen Eigentums in weltliche Hände. Erst im 19. Jahrhundert wird der Begriff ‚Säkularisierung‘ zu einer geschichtstheoretischen oder geschichtsphilosophischen Kategorie – nun aber mit einer ambivalenten Bedeutung, die Emanzipation aus der Bevormundung durch die Kirche bzw. Entkirchlichung besagt und zugleich auf eine ‚Verfallsgeschichte‘ verweist, mit der die schwindende Integrationskraft der Religion bzw. Entleerung religiöser Gehalte gemeint sind.20 Andererseits impliziert dieser Säkularisierungsprozess aber auch, dass in der christlich-abendländischen und scheinbar ‚nachreligiösen‘ Gesellschaft ein Prozess stattgefunden hat, der sich als ‚Weltwerdung‘ des Glaubens umschreiben ließe. Diese Entwicklung, die auch die Veränderung der Wissensordnung, d. h. die Verlagerung der Leitwissenschaft von Theologie zu den Naturwissenschaften (mit dem Umweg über Philosophie und Geschichte) erklärt, scheint ein Phänomen christlicher und nachchristlicher Denktraditionen zu sein. Das zeigt z. B. der Vergleich mit der jüdischen Religion, der die Gegenüberstellung von Glauben und Wissen, von Transzendenz und Handlung fremd ist. „Unter den Vorschriften des mosaischen Gesetzes“, so schreibt Moses Mendelssohn um 1800 (also in einer Zeit, in der der christliche Säkularisierungsprozess die in christlichen Ländern lebenden jüdischen Religionsgemeinden zu [<< 26] neuen Selbstdefinitionen zwang), „lautet kein einziges: du sollst glauben oder nicht glauben; sondern alle heißen: Du sollst tun oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen, denn der nimmt keine anderen Befehle an, als die im Weg der Überzeugung zu ihm kommen.“ 21

Das Christentum hingegen, das zwischen Glauben und Vernunft unterschied, entwickelte ein mächtiges Bedürfnis, die weltliche Wirklichkeit den Glaubensgrundsätzen anzupassen. Für das christliche Denken stellte die Veränderung der Welt, der wahrnehmbaren Wirklichkeit eine religiöse Notwendigkeit dar. Nur so ließ sich der Abgrund zwischen Metaphysik und Physik, zwischen Geist und Körper überbrücken. Wissenschaft und Logik wurden vom Glauben an die Leine genommen. Deshalb begleitet die christliche Wissensgeschichte auch eine seltsame Paradoxie. Keine andere Religion der Welt hat die Erkenntnisse der Wissenschaft und der Vernunft so erbittert bekämpft und verfolgt wie die christliche. Zugleich hat aber auch keine andere reli­giöse Kultur so viele Wissenschaftler und wissenschaftliche Neuerungen hervorgebracht wie das Christentum.22 Das lässt sich nicht mit der Tatsache erklären, dass die Neuerer Häretiker gewesen seien. Das waren sie ganz entschieden nicht: Ein Gutteil der Neuerungen kam aus den Klöstern selbst; und auch außerhalb der kirchlichen Strukturen waren die Neuerer – bis tief in die Neuzeit hinein – zumeist gläubige Christen. Descartes zum Beispiel erklärte: „Die Philosophie ist wie ein Baum. Die Wurzeln sind die Metaphysik, der Stamm ist die Physik, und die Zweige sind die anderen Wissenschaften.“ 23 Er entwarf also das Bild einer Wissenschaft, die das Sichtbare (oder die Natur) als das Produkt oder Ergebnis des Unsichtbaren oder des Transzendenten betrachtete. Dennoch vergleicht er den menschlichen Körper mit einem Räderwerk,24 also einer Schöpfung des menschlichen Erfindergeistes. Damit machte er Gott, an den er als Schöpfer glaubte, zu einem idealen Mechaniker – d. h. zum ‚Ebenbild‘ des Menschen. Für Leibniz, auch er zutiefst gläubig, wurden Maschine [<< 27] und Uhrwerk sogar zu einer Art von Gottesbeweis: „So ist jeder organische Körper eines Lebewesens sozusagen eine göttliche Maschine oder ein natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft […]. Aber die Maschinen der Natur, d. h. die lebenden Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche, Maschinen.“ 25 In diese Logik bezog er auch die Seele ein, von der er schrieb, dass sie „ein geistiger, bewunderungswürdiger Automat“ sei, der „durch göttliche Präformation erzeugt“ werde.26 Hinter einer solchen Vorstellung von ‚Wissenschaft‘, die den göttlichen Plan mit den Erfindungen des menschlichen Geistes und den Glauben mit wissenschaftlicher Neuerung in Eins setzte, steckte ein Neuerungsdrang, der dem Christentum eigen war und als eine Art von Dialektik zu verstehen ist, die dem aufeinanderfolgenden Ausschluss und Einschluss von Geschlechtlichkeit ähnelt: Gottfremdes Wissen wird zunächst ausgelagert und verfolgt, bis es zu einem Teil des christlichen ‚Heilsplanes‘ geworden ist. Diese Dialektik hat die christliche Wissensordnung von Anfang an begleitet und wirkt bis in die moderne Wissenschaft weiter, denn den Kern dieses ‚Heilsplans‘ bildet die Herstellung einer spezifischen, sich dem Prinzip der Berechenbarkeit verdankenden Wissensordnung. Dass ausgerechnet das Christentum, das stärker als irgendeine andere Religion auf dem Prinzip des Glaubens beruht – d. h. auf einem Prinzip, das der von der hard science gestellten Forderung nach ‚Verifizierbarkeit‘ widerspricht –, diese Dialektik vorangetrieben hat, ist nicht notwendigerweise ein Widerspruch, begreift man den ‚Glauben‘ als eine historische Triebfeder und die Wissensordnung als das Ziel dieses Triebs. Während Sexual- und der Todestrieb zu den Charakteristika des Individuums gehören, zeichnet sich die Triebstruktur des sozialen Körpers durch die Berechenbarkeit aus, und der deutlichste Niederschlag einer solchen Triebstruktur ist die Wissensordnung. Das Produkt dieses abendländischen Neuerungsdrangs bestand in einer Vorstellung von „Wissen“, die der Philosoph und Sozialwissenschaftler Cornelius Castoriadis als eine spezifische Idee von „rationalem Wissen“ bezeichnet hat:

„Die aufeinander folgenden Umwälzungen, die sich im ‚rationalen Wissen‘ aller bekannten Gesellschaften finden lassen, setzen stets einen grundlegenden Wandel des gesamten imaginären Weltbildes (und der Vorstellungen vom Wesen und Ziel des Wissens selbst) voraus. Die letzte dieser Umwälzungen, die vor einigen Jahrhunderten im Abendland stattfand, [<< 28] hat jene eigentümliche imaginäre Vorstellung geschaffen, der zufolge alles Seiende ‚rational‘ (und insbesondere mathematisierbar) ist, nach der der Raum des möglichen Wissens von Rechts wegen vollständig ausgeschöpft werden kann und wonach das Ziel des Wissens in der Beherrschung und Aneignung der Natur liegt.“ 27

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