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1 KOSS: Kompetenzorientierte Arbeit in stationären Settings 1.1 Paradigmawechsel in der stationären Arbeit: integrale Hilfe

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[17] Die Platzierung von Kindern und Jugendlichen in einem stationären Setting erfolgt dann, wenn die Eltern den notwendigen Schutz und die erforderliche Erziehung vorübergehend oder längerfristig nicht gewährleisten können und/oder wenn beim Kind Entwicklungsbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten vorliegen, die im familiären Rahmen und mit den Ressourcen des Sozialraums nicht (genügend) beeinflusst werden können. Zu denken ist an psychische Erkrankung eines Elternteils, Gewalt in der Familie, sexuellen Missbrauch, Überforderung nach Scheidung oder mangelnde Erziehungskompetenz der Eltern (z. B. aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung). Bei den Kindern können emotionale Probleme (z. B. Angst, Depression), Verhaltensprobleme (Aufmerksamkeitsstörungen, Aggressivität, Gewalt), kognitive Probleme (Lern- und Leistungsprobleme) oder – was häufiger ist – eine Kombination verschiedener Problemtypen im Vordergrund stehen. Auch schwere Beeinträchtigungen der Kontaktfähigkeit eines Kindes (verschiedene Formen und Schweregrade von Autismus) sowie körperliche Behinderungen und kognitive Einschränkungen können eine außerfamiliäre Betreuung nötig machen.

Auch wenn in den letzten Jahren ambulante Hilfeformen – insbesondere die aufsuchende Familienarbeit (Cassée, 2019a, S. 17) – deutlich an Bedeutung und Effektivität zugenommen haben, können Platzierungen in bezeichneten Fällen indiziert sein. Notwendige Platzierungen sollen nicht hinauszögert werden. Vor einer Platzierung ist in jedem Fall eine präzise Indikation zu formulieren, in der die Notwendigkeit einer Fremdunterbringung gut begründet und die vorgeschlagene Maßnahme als notwendig und geeignet beurteilt wird. Wenn eine solche Indikation nicht vorliegt (häufig aus guten Gründen, wie z. B. bei einer Krisenplatzierung), muss sie in den ersten Wochen nach Eintritt erstellt resp. präzisiert werden.

Nach erfolgter Platzierung ist eine möglichst intensive Zusammenarbeit mit den Eltern sowie mit weiteren Personen aus der Lebenswelt des Kindes für das Gelingen der Platzierung von zentraler Bedeutung. Das Kind wird nicht «versorgt», vielmehr gilt es, stationäre und ambulante Angebote zu verknüpfen und Ressourcen in der Lebenswelt zu nutzen. Ambulante Hilfe für die Eltern und in der Lebenswelt sowie kindbezogene stationäre Hilfe werden im Sinne eines Hilfekontinuums geleistet (siehe dazu Knorth et al., 2009; Schmidt et al., 2002). Das Konzept «Hilfekontinuum» geht über die übliche Zusammenarbeit mit Eltern hinaus: die Eltern werden von Beginn an intensiv in den Entscheidungsprozess einbezogen und beteiligen sich aktiv an der Entwicklungsförderung ihres platzierten Kindes. Fachpersonen aus dem stationären Setting klären die Entwicklungsbedingungen in der Familie und in der Lebenswelt ab (resp. ergänzen vorliegende Abklärungen) und erarbeiten Ziele für die Befähigung der Eltern, damit diese ihre erzieherischen Aufgaben ganz oder teilweise wieder selber übernehmen können. Dieser Einbezug der Eltern und weiterer Akteure und Systeme in der Lebenswelt (z. B. der Schule) erfolgt sowohl parallel im Hinblick auf eine möglichst gute Abstimmung der beiden Lernorte «Lebenswelt» und «Stationäres Setting» als auch sequenziell im Sinne einer möglichst schnellen und gut vorbereiteten Rückplatzierung. Dieser Ansatz denkt Anliegen [18] der Lebenswelt- und Sozialraumorientierung konsequent weiter und versucht die beiden Lernorte, die bei einer Platzierung involviert sind, möglichst lernfördernd für alle Beteiligten miteinander zu koppeln.

Für die Wirksamkeit dieses neuen Paradigmas, das auch als Outreachingansatz bezeichnet wird, gibt es deutliche Hinweise aus diversen Studien. Bartels et al. (2001) fassen Ergebnisse der internationalen Literatur zusammen, in welcher wirksame Interventionen bei abweichendem Verhalten von Jugendlichen dargestellt werden. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Interventionen umso erfolgreicher sind, je mehr die folgenden Kriterien berücksichtigt werden (nach Slot & Spanjaard, 2009, S. 34–35):

• Die Arbeitsweise ist outreaching, das heißt sie richtet sich auch an das Umfeld des Kindes, in dem sich die Probleme manifestieren (in der Familie, in der Schule etc.).

• In der Intervention ist das Lernen konkreter Fähigkeiten zentral.

• Die Interventionen sind konkret, meistens verhaltenstheoretisch ausgestaltet unter Beachtung von Kognitionen und Emotionen.

• Die Arbeitsweise ermittelt individuelle Schutz- und Risikofaktoren, die systematisch genutzt resp. beeinflusst werden.

• Die Intervention nutzt die im Umfeld vorhandenen Schutzfaktoren und beeinflusst die externen Risikofaktoren.

Beelmann & Raabe (2007, S. 212) beziehen sich auf einschlägige Metastudien und halten fest, dass in Bezug auf Jugendliche in Institutionen «familienbezogene Programme und die Vermittlung sozialer Fertigkeiten sehr wirksam zu sein scheinen». Zudem betont Beelmann in einer weiteren Publikation die Bedeutung entwicklungspsychologischer Überlegungen und die Schaffung von Entwicklungsopportunitäten in der Arbeit mit entwicklungsbelasteten Kindern und Jugendlichen (Beelmann, 2012, S. 87—89). Um solche Opportunitäten in der Lebenswelt zu schaffen, muss die Hilfe outreaching sein.

Unter der Bezeichnung «integrale Hilfe» ist der Outreachingansatz in den Niederlanden seit ca. zehn Jahren sehr verbreitet und als Richtlinie für die Jugendhilfe beschrieben (Lange et al., 2016). Der Ansatz integriert Angebote für belastete Kinder, Jugendliche und Familien und gilt als theoretisch und empirisch gut begründet. Als wirksame Merkmale dieser integralen Hilfe werden genannt:

• Hilfsangebote erfolgen in mehreren Bereichen: stationäres Setting, Familie, Schule, Freizeit.

• Wenn mehrere Personen und Stellen involviert sind, bestehen konkrete Absprachen darüber, wer was tut, und wie die Kommunikation gestaltet werden soll.

Der Einbezug und die Unterstützung der Eltern während des Aufenthalts ihres Kindes in einer stationären Einrichtung sind in diesem Paradigma zwingend. Der Rückkehr in die Familie und in reguläre Bildungssettings in der Lebenswelt soll – dort, wo dies indiziert ist – so rasch als möglich erfolgen und durch intensive Zusammenarbeit mit den Eltern und ggf. mit der Regelschule/dem Ausbildungsplatz vorbereitet und begleitet werden. Wenn eine Rückkehr in die Familie nicht indiziert ist, sind Anschlusslösungen vorzusehen (z. B. selbständiges Wohnen für Jugendliche, Platzierungen in einer Familiengruppe oder in einer Pflegefamilie). Der Aufenthalt im stationären Rahmen ist so kurz wie möglich und so intensiv wie nötig zu gestalten.

[19] Zentrale Dimensionen dieser integralen Hilfe resp. des Outreachingansatzes sind in der KOSS-Methodik verankert (z. B. im Aufnahmeverfahren, beim Einbezug der Eltern, in der Arbeit mit dem Netzwerk sowie in der Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen). Die Erfordernisse einer integralen Arbeitsweise sind in der vorliegenden Ausgabe des Manuals nochmals ergänzt und geschärft worden.

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