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Einstige Freunde, neue Feinde

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Im Hinblick auf die Region, die uns am meisten interessiert, hatte die Kerenski-Offensive eine doppelte Bedeutung. Erstens eröffnete sie vor allem in der Ukraine eine Phase chaotischer Auseinandersetzungen um die Macht, indem letztlich jeder gegen jeden kämpfte – auf dieses Thema werden wir noch mehrfach zurückkommen. Zweitens beschleunigten Vorbereitung und Durchführung der Operation die Ethnisierung der kämpfenden Armeen. Vor 1917 sorgte die russische Führung meist dafür, dass in den meisten Einheiten der Armee ethnische Russen die Mehrheit stellten (wobei man auch Ukrainer und Weißrussen einrechnete). Eine Ausnahme bildeten ethnisch definierte Einheiten: litauische Schützen, armenische Partisanen, finnische Freiwillige, das jugoslawische Korps, polnische Einheiten oder auch die Tschechoslowakische Legion. Unter der Führung des Ministers Kerenski erfasste die Ethnisierung die gesamte Armee. In der Praxis beruhte sie auf der Versetzung von Offizieren und Soldaten in Korps, die sich mehrheitlich aus Angehörigen einer Nationalität zusammensetzten. Wie im Fall des Demokratisierungsbefehls spielte auch hier der Druck von unten eine entscheidende Rolle.

In Hinsicht auf die Dynamik und die Bedeutung für die Zukunft des Staates erwies sich die Haltung der Soldaten ukrainischer Nationalität als die wichtigste. Der nach der Februarrevolution in Kiew gegründete Ukrainische Zentralrat forderte fast von Beginn seines Bestehens an hartnäckig die Gründung einer ukrainischen Nationalarmee. Das Aufkommen einer solchen Forderung wäre an sich keine besondere Gefahr für die Provisorische Regierung gewesen. Sie wurde allerdings von zunehmend heftigen Bewegungen an der Basis begleitet. In Garnisonen, in denen viele Ukrainer stationiert waren, formten sich – in Anknüpfung an die kosakische Tradition – nationale „hromadas“ (Haufen) und „kosche“ (Lager). Die Entwicklung war nicht auf die ukrainischen Gebiete, ja nicht einmal auf Europa beschränkt. Eine der zahlenmäßig stärksten „hromadas“ formierte sich in Wladiwostok. In Kiew und anderen größeren Städten der Ukraine entstanden „kosakische“ Freiwilligeneinheiten. Die Entscheidung der Provisorischen Regierung zur Gründung einer polnischen Division (hauptsächlich aus Soldaten der Puławski-Legion) wirkte wie ein Katalysator. Die Rekrutierungsbasis für diese Einheit bildeten Gebiete, die auch die ukrainische Nationalbewegung für sich beanspruchte; in Kiew beklagte man sich (eher grundlos) darüber, dass junge Ukrainer zwangsweise der polnischen Armee zugeführt würden.

Im April entstand in Kiew mit dem Bohdan-Chmelnyzkyj-Regiment die bis dahin zahlenmäßig stärkste Freiwilligeneinheit. Die freiwillige Truppenaufstockung kurz vor der großen Offensive hätte die russische Führung freuen können, wenn nicht diese „Freiwilligen“ ohnehin bereits im Wehrdienst gestanden hätten. In den Augen der Kommandierenden der regulären Armee handelte es sich schlicht um Deserteure, die sich – statt neue Einheiten zu gründen – unverzüglich in ihren ursprünglichen Regimentern hätten einfinden sollen. Doch die russischen Offiziere hatten die Lage immer seltener im Griff. Anfang Mai 1917 fand in Kiew der erste ukrainische Militärkongress statt; in den folgenden Monaten gab es zwei weitere Treffen. Der von der Provisorischen Regierung eingesetzte Kommandant des Kiewer Militärbezirks Konstantin Oberutschew nahm an dem Maikongress teil. Was er dort erlebte, machte ihm keine Hoffnung auf den Fortbestand der multiethnischen Armee. Einer der Delegierten war als Zaporoger Kosake verkleidet, trug zugleich aber russische Kapitäns-Epauletten. Oberutschew fragte ihn, welcher Einheit er angehöre. Er antwortete, er sei Offizier der ukrainischen Armee. „Aber es gibt doch gar keine ukrainische Armee“, widersprach Oberutschew. Daraufhin erwiderte Wasyl Pawlenko, ein anderer Delegierter: „Ihr werdet sehen, eine solche Armee wird entstehen und die ganze Ukraine umfassen. Sie existiert schon, nur ihr könnt sie noch nicht erblicken.“ Während des nächsten Kongresses der ukrainischen Soldaten sprachen die Delegierten bereits offen davon, die „Iwans“ aus dem Vaterland zu vertreiben.51

Die Hoffnung, angesichts der immer weiter gehenden Forderungen der Nationalitäten des einstigen Imperiums die Armee durch Zugeständnisse in einem schlagkräftigen Zustand halten zu können, verflüchtigte sich bald. Während alle anderen Ziele der Kerenski-Offensive verfehlt wurden, war die Ethnisierung der russischen Armee dauerhaft. Ab 1917 betrachteten sie die in Ostmitteleuropa erscheinenden politischen Bewegungen nicht mehr als eigenständige Kraft, sondern als Reservoir von Rekruten für die eigenen nationalen Streitkräfte.

Auch kurzfristig trug das Verhalten der russischen Soldaten im Sommer 1917 wesentlich zur Konsolidierung der Verbündeten bei. Dort, wo nicht nur Russen kämpften, stieß ihre frisch eingeführte Militärdemokratie auf eine völlig andere Kriegskultur. Mindestens an zwei wichtigen Frontabschnitten führte das Versagen der Russen auch zur Entstehung nationaler Mythen, die an die Kostiuchnówka-Erzählung der polnischen Legionäre erinnern.

Einer dieser Abschnitte war die rumänische Front. Schon während der Vorbereitungen zur Offensive verblüffte der neue Stil der Kriegsführung die rumänischen Verbindungsoffiziere. Einer von ihnen, Oberleutnant Mavrocordat, meldete seinen Vorgesetzten, dass russische XLVII. Korps entsende

[…] fast täglich Soldaten zur 40. Infanteriedivision – mit der Forderung, sie solle sich nicht an der Offensive beteiligen. Sollte die Division sich entscheiden, am Angriff teilzunehmen, erhalten die Soldaten des XLVII. Korps den Befehl, auf die Soldaten der 40. Division zu schießen.52

Die Nachricht vom Scheitern der Offensive in Galizien steigerte die Kampflust nicht. Einige russische Einheiten stimmten nicht nur über die Teilnahme an Operationen ab, sondern sogar über einzelne Manöver. Rumänische Offiziere berichteten von Russen, die sich selbst in die Hand schossen oder sich in Scharen ergaben. Es gab jedoch auch Einheiten, die tapfer kämpften. Philippe Berthelot fasst das Chaos treffend zusammen: „Die Russen sind instabil. Einmal gehen sie entschlossen zum Gegenangriff über, ein andermal ziehen sich dieselben Einheiten unter Beschuss zurück.“53


Bei der Modernisierung der rumänischen Armee blieb die Marschmusik außen vor.

Der russische Verbündete wurde somit genau in dem Moment unzuverlässig, als Rumänien die blutigsten und zugleich erfolgreichsten Kämpfe des gesamten Kriegs bestritt. In den drei großen Schlachten des Rumänienfeldzugs bei Măraşti, Mărăşeşti und Oituz wurde der Nationalstolz wiederhergestellt, der während des vorangegangenen Feldzugs stark gelitten hatte. Die noch vor Kurzem chaotische und erfolglose Armee bewährte sich nun selbst in Artilleriegefechten („Selbst vor Verdun habe ich kein so entsetzliches Artilleriefeuer gesehen“54, notierte ein Bayer aus der 12. Infanteriedivision). In der Luftwaffe besaßen die Rumänen dank französischer Ausrüstung sogar ein Übergewicht. Wichtiger für die Moral der Soldaten und die Gesellschaft des Landes, das größtenteils unter feindlicher Besatzung stand, war aber die unmittelbare Erfahrung der Kämpfe, in denen der General und spätere Ministerpräsident Alexandru Averescu hartnäckig alle Fehler der ersten Feldzüge des Ersten Weltkriegs wiederholte. Die rumänische Infanterie griff in Wellen an, bis sie völlig erschöpft war. In ebenso heldenhaften wie schlecht vorbereiteten Bajonettangriffen auf die befestigten Stellungen des Feindes verloren manche rumänischen Einheiten mehr als 80 Prozent ihrer Soldaten. Und doch wurden selbst sinnlose Befehle ausgeführt. Nach Einschätzung der österreichisch-ungarischen Aufklärung zeichnete sich die neue rumänische Armee


Die rumänische Armee hatte lange mit Ausstattungsmängeln zu kämpfen. Weil Stacheldraht fehlte, nutzte man angespitzte Äste zur Errichtung von Feldbefestigungen.

[…] im Angriff durch Energie und Todesverachtung aus. Ermuntert durch die intensive patriotische rumänische Propaganda, ziehen die Menschen ohne Widerstand in den Kampf […]. Die jungen Offiziere verfügen über eine seriöse militärische Ausbildung, sie sind flexibel, treten würdevoll auf und lassen im Gespräch flammenden Patriotismus, Pflichtgefühl, Begeisterung und Selbstgewissheit erkennen.55

Die praktischen Auswirkungen der rumänischen Erfolge rechtfertigten die euphorische Stimmung der Offizierskader keineswegs. Der rumänischen Armee gelang es gerade einmal, die völlige Niederlage zu vermeiden und ein Stück des Staatsterritoriums zu halten, während in der Hauptstadt der Feind schaltete und waltete. Im Herbst 1917 flauten die Kämpfe ab, an ihre Stelle traten verstärkte Propagandaaktionen. Anfangs dominierten die Deutschen, die rumänische Zeitungen aus dem besetzten Bukarest auf die andere Seite der Front lieferten. Die Lektüre von GAZETĂ BUCUREŞTILOR oder SĂPTĂMÂNĂ ILLUSTRATĂ sollte die Soldaten davon überzeugen, dass hinter den deutschen Linien das Leben seinen normalen, ruhigen Gang gehe. Die Presse veröffentlichte Fotos und Aussagen von Deserteuren, die mit ihrer Entscheidung zufrieden waren. Auch Flugblätter, die Überläufern die freie Rückkehr in ihre Heimatorte in Aussicht stellten, ermunterten zur Desertion. Die Rumänen reagierten mit der Herausgabe der deutschsprachigen Feldzeitung KRIEGSWOCHE, die über Niederlagen der Mittelmächte und über Hungerunruhen in Berlin und anderen deutschen Städten berichteten. Beide Aktionen wurden in dem Moment obsolet, in dem die Oktoberrevolution die russische Armee quasi komplett lahmlegte.


Diskussion mit französischen Militärberatern.


General Grigorescu erhielt für Mărăşeşti den Orden der Ehrenlegion …

Die psychologische und politische Bedeutung des Rumänien-Feldzugs von 1917 wurde erst nach einer gewissen Zeit sichtbar. An seinem Ende waren die Aussichten für die Anhänger der Entente alles andere als gut. Das Land, das spät in den Krieg eingetreten war, dann in Rekordgeschwindigkeit eine demütigende Niederlage erlitten hatte und nur dank seines mächtigen Verbündeten Reste seines Territoriums halten konnte, durfte eher nicht auf Dankbarkeit seitens der Bündnispartner hoffen. Von der rumänischen Armee indes konnte man mit Fug und Recht sagen, dass sie faktisch zum Zusammenbruch der russischen Front beitrug, indem sie wesentliche Kräfte von dort abzog. Nach diesem Bärendienst am Verbündeten war Rumänien zu weiteren Kämpfen nicht mehr in der Lage. Das Land war kein aktiver Bündnispartner Frankreichs und Großbritanniens mehr. In dieser Situation lieferte der Heldenmut der rumänischen Soldaten bei Măraşti, Mărăşeşti und Oituz für die Westmächte ein gewichtiges (und für die Propaganda ergiebiges) Argument dafür, den gedemütigten Partner nicht ganz fallen zu lassen. Einer Armee, die derartige Tapferkeit bewies, konnte man nach Ansicht der französischen und britischen Strategen in künftigen Kämpfen vertrauen.


… während seine Untergebenen sich mit weniger prestigeträchtigen rumänischen Aus zeichnungen zufrieden geben mussten.


Rumänische Bauern beim Hora-Tanz mit deutschen Soldaten, 1917.

Von großer Bedeutung für das Selbstbewusstsein der rumänischen Politiker, die sich – wie etwa der Historiker Nicolae Iorga – nie mit der Niederlage abgefunden hatten, war neben dem Heroismus des rumänischen Soldaten auch der Kontext, der seinen Wert noch unterstrich. Diesen Kontext bildeten die Russen. Den rumänischen Beobachtern waren die pazifistischen Parolen der 1.-Mai-Demonstration 1917 in Jassy nicht entgangen. Im Zug waren mehr russische Militärmäntel zu sehen gewesen als Zivilkleidung; Schätzungen zufolge hatten 15.000 Soldaten teilgenommen.56 Rumänische Berichte über den Feldzug von 1917 betonten, ähnlich wie vergleichbare deutsche oder österreichisch-ungarische Texte, immer wieder die offensichtliche Überlegenheit der rumänischen Armee. Die praktischen Folgen dieses diskursiven Manövers zeigten sich rasch. Im November 1917 veröffentlichten die Bolschewiki ihr Dekret über den Frieden. Der Oberbefehlshaber der russischen Truppen in Rumänien, General Dymitr Schtscherbatschew, verweigerte Lenin die Gefolgschaft und unterstellte sich der ukrainischen Regierung. Seine Soldaten interessierte das nicht mehr. Um ein Ende der Kämpfe zu erzwingen, begannen sie etwas, was man als Streik bezeichnen könnte. Die machtlose Führung musste einen Waffenstillstand mit den Deutschen aushandeln. Die auf sich selbst gestellten Rumänen mussten ebenfalls Verhandlungen mit den Deutschen aufnehmen. Der Präliminarfrieden wurde im März 1918 geschlossen, im Mai erfolgte der feierliche Friedensschluss mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei.


Rumänische Kriegsgefangene in den Straßen von Bukarest.

Unterdessen bereiteten sich die Russen auf die Evakuierung vor. Deren Verlauf und die unmittelbar anschließenden Ereignisse illustrieren anschaulich das Tempo des Übergangs vom Krieg der Imperien zum Krieg der Nationen. Bis zum November kämpften Rumänen und Russen, wenn auch nicht ohne Probleme, Seite an Seite gegen den gemeinsamen Feind. In der zweiten Januarhälfte 1918 schlugen die einstigen Verbündeten bereits einige kleinere Schlachten gegeneinander, deren Anlass meist Missverständnisse während der Evakuierung waren. In der Gegend um Galaţi kämpften die 9. und 10. Infanteriedivision des IV. Sibirischen Korps zwei Tage lang mit rumänischen Einheiten; das Gefecht endete erst, als die rumänische Donauflottille die Russen unter Beschuss nahm und die Infanterie zum Bajonettangriff überging. Eine knappe Woche später marschierte die rumänische Armee ins von den Bolschewiki verlassene Chişinău ein. Offiziell versprach man, die Autonomie der lokalen Selbstverwaltung – repräsentiert durch einen Delegiertenrat, den sogenannten Sfatul Ţării – zu respektieren. Die Haltung der Besatzer gab den Einheimischen allerdings immer mehr Grund zur Sorge:


Die rumänische Friedensdelegation in Bukarest.

Von Beginn an gab es Vorbehalte gegen das Verhalten einiger rumänischer Offiziere, etwa von Gen. [Ernest] Broşteanu. Er regierte Chişinău mit harter Hand, wobei er den Sfatul Ţării meist ignorierte. Er führte ein strenges Regime nach dem Kriegsrecht, einschließlich der Todesstrafe. Als der Präsident des Sfatul Ţării ihn informierte, dass die Verfassung der Republik Moldau keine Todesstrafe vorsehe, soll Broşteanu erwidert haben: „Hier bin ich der Richter und jedes Verbrechen wird streng bestraft werden.“ Unter die Kriegsgerichtsbarkeit fielen unter anderem Verbrechen wie die „Beleidigung rumänischer Offiziere in Wort oder Schrift“.57

Innerhalb von nur zwei Monaten wendete sich das Blatt um 180 Grad. Vom Bittsteller, der um russischen Beistand ersuchte, wurde die rumänische Armee zum Besatzer eines Gebiets, das kurz zuvor noch zu Russland gehört hatte, einem Besatzer, der vor harten Repressionen nicht zurückschreckte.58 Bei der Einnahme von Bender (im moldauischen Transnistrien) starben mehrere Dutzend rumänische Soldaten. Als Vergeltung verübten die Eroberer in der Stadt ein Massaker.59 Eine solche Entwicklung hätte ein halbes Jahr zuvor, als das russische Expeditionskorps in der Dobrudscha landete, sicher niemand erwartet.

Abgesehen von den Kämpfen in Moldau, erzielte die Kerenski-Offensive nur auf einem Abschnitt einen lokalen Erfolg. Sein Ausmaß war wesentlich geringer als das der großen und blutigen Schlachten bei Măraşti oder Mărăşeşti, doch die propagandistische und politische Bedeutung war womöglich noch größer. Bei Zborów in der Ukraine kamen Anfang Juli in der russischen Armee erstmals tschechische und slowakische Freiwillige zum Einsatz – der Kern der späteren Tschechoslowakischen Legion. In einem frontalen Bajonettangriff eroberten sie die österreichisch-ungarischen Stellungen und machten über 3000 Gefangene (also grob gerechnet genauso viele, wie die Tschechoslowakische Brigade an Soldaten zählte). Die Verluste an Toten und Verwundeten betrugen fast ein Drittel. In der Folge mussten sich die erschöpften Tschechoslowaken zusammen mit der russischen Front zurückziehen.

Die Bilanz der Gewinne und Verluste dieser Operation hätte wenig imposant ausgesehen, hätte sie nicht auf tschechischem Territorium sowie unter Tschechen und Slowaken große Resonanz gefunden. In Wien registrierte man den Erfolg der Legionäre sehr aufmerksam. Grund dafür war eine zufällige Koinzidenz. Der Abschnitt, in dem die Tschechoslowaken angegriffen hatten, war nämlich unter anderem von zwei Regimentern (dem 75. und dem 35.) verteidigt worden, in denen mehrheitlich tschechische Rekruten dienten. Ausgerechnet aus ihren Reihen stammten die meisten Gefangenen. Blitzartig machten unzutreffende Verschwörungstheorien die Runde. Die liberale Wiener NEUE FREIE PRESSE schrieb von tschechischer Felonie, das weniger zurückhaltende GRAZER TAGBLATT vom „wohl schändlichsten Verbrechen, dass die Söhne Österreichs in diesem Krieg begingen“.60 Die Ironie des Schicksals wollte es, dass am Tag der Schlacht Kaiser Karl I. eine Gruppe tschechischer Politiker amnestierte, die des Staatsverrats verdächtigt worden waren. Die deutsch-österreichischen Nationalisten überschlugen sich vor Empörung. Die unter strenger Kontrolle der Zensur stehende tschechische Presse hatte wenig Gelegenheit zur Verteidigung. Die beste und sicherste Taktik in dieser misslichen Situation bestand darin, sich in Zynismus zu flüchten. So gab sich die Redaktion von VENKOV verblüfft:

Wer hätte denn ahnen können, dass Tschechen und Slowaken in Russland eine Brigade gründen? Davon war während des ganzen Kriegs nie die Rede. Wo hätten sie dort so plötzlich herkommen sollen?61

Ebenso bedeutsam war die psychologische Wirkung der Schlacht bei Zborów für die Haltung der Tschechen und Slowaken in Russland. Die Berichte der Teilnehmer sind nicht selten eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand. Die mit einer Missachtung der Fakten und signifikanten Ausblendungen einhergehenden expressionistischen Schilderungen erinnern stark an die ein Jahr älteren Berichte über die Kämpfe bei Kostiuchnówka. So notiert der Legionär František Wildmann:

Wir bringen die Gefangenen nicht in die Etappe, wir sind nur wenige; während des Angriffs darf kein Bruder fehlen, also ziehen auch Köche, Schreiber und Hilfskräfte mit. Deshalb zeigen wir den Gefangenen nur mit dem Arm, in welche Richtung sie gehen sollen, und prüfen nur flüchtig, ob sie ihre Waffen abgelegt haben. Um ein Haar hätten wir teuer dafür bezahlt, dass wir sie nicht eskortierten; drei Gefangene schnappten sich wieder ihre Gewehre und begannen, uns in den Rücken zu schießen. Es kam sie teuer zu stehen.62

Diese kurze Notiz enthält zwei wichtige Informationen. Erstens ist die Beteiligung von Köchen und Schreibern an dem bravourösen Angriff kein Ausdruck patriotischen Überschwangs, sondern zeugt von einem Mangel an kampfwilligen Soldaten. Dieser resultierte unter anderem daraus, dass am Vortag der Operation viele Legionäre, zumal Tschechen aus Russland, die Teilnahme verweigert hatten (die Demokratisierung der russischen Armee gab ihnen das Recht dazu). Zweitens belegt die euphemistisch umschriebene Exekution der drei Kriegsgefangenen, dass die Bereitschaft der österreichisch-ungarischen Soldaten zur Kapitulation und zum eventuellen Übertritt auf die andere Seite keineswegs so groß war, wie russische Propagandisten und deutsch-österreichische Nationalisten behaupteten. Ebenso ambivalent erscheinen die Äußerungen der Tagebuchschreiber über die russischen Verbündeten und die russischen Offiziere in den eigenen Reihen. Die Positionen, die die Tschechoslowaken von der zuvor dort stationierten russischen Einheit übernahmen, erinnerten nicht im Geringsten an Schützengräben. Einige Monate Ruhe und intensives Fraternisieren hatten deutliche Spuren hinterlassen: Verwahrlosung, Munitionsmangel, absichtlich beschädigte Waffen. Die Legionäre griffen den Feind allein an, ohne aktive Unterstützung der benachbarten russischen Divisionen, die in ihren Stellungen blieben. Geleitet wurde der Angriff von tschechischen Unteroffizieren. Zu den höheren Kadern, die von russischen Linienoffizieren gebildet wurden, finden sich in den Erinnerungen von Legionären zahlreiche kritische Äußerungen. Wie sie es von ihrem bisherigen Dienstort gewohnt waren, versuchten sie die Freiwilligen durch Schläge zum Gehorsam zu zwingen. In Kiew, wo in den Monaten zuvor tschechoslowakische Einheiten zusammengezogen worden waren, gab es Vorfälle, die sehr an die Auseinandersetzungen zwischen polnischen Legionären und Deutschen erinnerten, einschließlich einer Schlägerei in einem Freudenhaus. Während der Schlacht von Zborów sollen die russischen Offiziere nicht sonderlich dienstwillig gewesen sein, ein Teil von ihnen sei auch betrunken gewesen.63

Die Tschechoslowaken befanden sich während der Kerenski-Offensive in keiner beneidenswerten Position. Die fortschreitende Lähmung der russischen Armee bedeutete für sie fehlende Unterstützung und unnötige Verluste. Zu allem Übel war ihre unversöhnliche Haltung dem Feind gegenüber mit den pazifistischen Stimmungen in Russland nicht vereinbar. Schon vor Zborów kam es zu Konflikten zwischen Tschechoslowaken und Russen. Letztere hatten genug vom Krieg und blickten unwillig auf Einheiten, die offensichtlich bereit waren, ihn fortzusetzen. Die Tschechoslowaken wiederum hatten keine große Wahl. Die Kriegsgefangenschaft war für die ehemaligen Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee gleichbedeutend mit Kriegsgericht und Todesstrafe. Die Kluft zwischen den Tschechen und Slowaken in russischer Uniform und ihren russischen Kameraden vertiefte sich, die anfänglichen Missverständnisse verwandelten sich immer öfter in offene Feindseligkeit.

Die tschechoslowakische Erinnerungskultur bewahrte eine Spur dieser Ungnade. Ein wichtiges Element der Schilderungen der Schlacht von Zborów war die kritische Darstellung des damaligen Zustands der – wie Politiker (darunter Edvard Beneš) anlässlich von Jahrestagen gewohnheitsmäßig zu sagen pflegten – in „unaufhaltsamen Zerfall“64 befindlichen russischen Armee. Von den russischen Nachbardivisionen der Tschechoslowakischen Brigade hieß es immer wieder, sie hätten ihre Stellungen überhaupt nicht verlassen. Angesichts des ansonsten eher herzlichen Verhältnisses der Tagebuchschreiber zu Russland und den Russen fallen diese Bemerkungen umso mehr ins Auge. In den tschechoslowakischen Erinnerungen tauchen nebenbei immer wieder Szenen auf, die in ihrer Dramaturgie an die Schilderungen von Kostiuchnówka erinnern. So beschreibt etwa Karel Voženílek die psychologischen Auswirkungen des Angriffs auf die Russen: „ein begeisterter russischer Soldat küsst meine verschmutzte Hand.“65 Ähnlich ist auch die Schlussfolgerung, zu der tschechoslowakische „neue Menschen“ freilich mehr Zeit als ihre polnischen Kameraden benötigten:

Die russische Armee, die sich aus Millionen mobilisierter, überwiegend uninformierter Soldaten zusammensetzte, denen in fast drei Jahren Krieg niemand dessen Ursachen, Sinn und Ziel erklärt hatte und von denen noch vor der Revolution zwei Millionen desertierten, war von der Sehnsucht nach Frieden, nach Land, nach einer Rückkehr in die Heimat im Hinterland erfüllt. Unsere Regimenter indes, die zwar aus wenigen, dafür aber informierten Freiwilligen bestanden, die das Kriegsziel klar vor Augen sahen, brannten auf den revolutionären Kampf; auch sie wollten natürlich nach Hause zurückkehren, doch den Weg dorthin verstellte der verhasste Unterdrücker. Eine solche Truppe hatte natürlich eine andere Kriegspsychologie. Vor diesem Hintergrund mussten sich die Wege unserer Revolution und der russischen Revolution trennen und sie trennten sich. Das geschah im fünften Monat der russischen Revolution, im Juli 1917.66

Der vergessene Weltkrieg

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