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„Der weiße Löwe hat seine Krallen gezeigt“

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Unmittelbar nach der Schlacht von Zborów hielten sich die tschechoslowakischen Legionäre längere Zeit in Kiew auf, wo sie ausruhen und die gelichteten Reihen auffüllen konnten. Die Verfassung der Soldaten besserte sich schnell. Jerzy Bandrowski, ein polnischer Tschechenfreund, der sich damals in Kiew aufhielt, beobachtete erfreut die Übungen und den Drill der neuen Rekruten:

Einen Mangel an Rasse kann man dem tschechischen Soldaten nicht vorwerfen. Wer ihn aufmerksam beobachtete, der weiß, dass der tschechische Soldat sich trotz seiner russischen Uniform vom russischen Infanteristen abhebt. Es sind schlanke Männer, gut aus den Hüften gewachsen [sic], mit breiter Brust und kräftigen Beinen. Ihre Hände sind stark, aber lang, ihre Gesichter haben etwas vorstehende, aber gut mit Haut überzogene Wangenknochen, ein energisches Kinn, kräftige Kiefer. Ich habe englische Soldaten gesehen und eben diesen ähneln die Tschechen vom Typ her. Sie haben dieselbe Präzision in ihren Bewegungen und sind darin nur etwas unruhiger. All jene, die den Tschechen mangelnde Rasse vorwerfen, sollten sich ihre Soldaten anschauen. Denn sie werden wohl mit mir übereinstimmen, dass nicht der Bankier oder Kaufmann die Rasse repräsentiert, sondern der Soldat. […] Auf dem Schauplatz des Slawentums erscheint wieder ein altes Volk, freilich wiedergeboren und verjüngt als – neue Rasse.67

Bandrowski beendet sein Loblied auf die physische (und rassische) Vitalität der Tschechen mit einer Sentenz, in der deutlich das Echo von Zborów mitschwingt: „Der weiße Löwe hat seine Krallen gezeigt.“68 Die griffige Phrase sollte allerdings erst mit einem konkreten Inhalt gefüllt werden.


Die russische Offensive führte nicht zum erwünschten Ergebnis. Das Foto zeigt die österreichisch-ungarische Siegesparade im zurückeroberten Czernowitz, 1917.

Bis Ende 1917 wuchsen die Legionen zu zwei kompletten Divisionen mitsamt Hilfstruppen an. Ihr politischer Status blieb aber umstritten. Die Verhandlungen zwischen Tomáš Masaryk und der Provisorischen Regierung waren noch nicht abgeschlossen, als sich mit dem bolschewistischen Rückzug die Kräfteverhältnisse und die Position der Tschechoslowaken in Russland erneut änderten. Im wachsenden Chaos der Revolution gehörten sie zu den wenigen Einheiten, die halbwegs die Disziplin hielten. Das sichert ihnen im Gegenzug eine relativ gute Ausstattung (im rebellierenden Kiew bewachten sie die größten Waffenlager). Die Idylle dauerte nicht allzu lange. Im Februar 1918 schloss der Ukrainische Zentralrat in Brest-Litowsk am Bug ein Abkommen mit den Mittelmächten, gleichzeitig marschierten die Bolschewiki in Kiew ein. Für die Legionäre bedeutete das die konkrete Gefahr, vor österreichisch-ungarischen Kriegsgerichten zu landen, die Staatsverrat oft und gern mit dem Strang bestraften. Als während einer Unterbrechung der deutsch-bolschewistischen Verhandlungen die Deutschen nach Osten vorrückten, taten die Tschechoslowaken ohne zu zögern dasselbe.

Der Rückzugsweg führte durch von den Bolschewiki kontrollierte Gebiete. Diese erlaubten den tschechischen Transporten den Durchzug, allerdings unter der Bedingung einer partiellen Entwaffnung. Die Forderung war zwar absolut nachvollziehbar, dennoch weckte sie Misstrauen bezüglich der wahren Absichten Lenins und Trotzkis. Zusätzlich aufgeheizt wurde die Atmosphäre durch Zwischenfälle auf dem Weg nach Osten. In den Reihen der Tschechoslowaken kam der Verdacht auf, die Bolschewiki hätten sich im Geheimen mit den Deutschen auf eine Auslieferung der Legionäre geeinigt.

Die Bombe platzte Mitte Mai 1918 in Tschelabinsk im Ural. Wie nicht selten im Völkerkrieg kam es an einem Bahnhof zur ersten Auseinandersetzung. Aus einem Zug mit ungarischen Kriegsgefangenen, die nach einem Abkommen zwischen Russland und den Mittelmächten in ihre Heimat zurückkehrten, warf jemand mit einem schweren Gegenstand nach einem tschechoslowakischen Transport. Was genau es war, ist nicht bekannt, jedenfalls wurde ein Legionär am Kopf getroffen und war sofort tot. Danach ging alles blitzschnell. Die Kameraden des Getöteten fassten und erschossen den Täter noch auf dem Bahnhof, worauf sie selbst von der örtlichen bolschewistischen Wache festgenommen wurden. Die übrigen Legionäre entsandten eine Delegation, die die Freilassung der Kameraden aushandeln sollte. Die Bolschewiki verhafteten jedoch auch die Unterhändler. Dieser Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen. Die Tschechoslowaken verließen den Bahnhof und brachten unter Einsatz ihrer Waffen binnen kurzer Zeit Tschelabinsk in ihre Gewalt.


Österreichisch-ungarische Kriegsgefangene in Russland.

Es war nicht das letzte folgenschwere Zusammentreffen habsburgischer Untertanen auf russischem Boden. Viele österreichisch-ungarische Kriegsgefangene erlagen den Einflüsterungen der Bolschewiki und schlossen sich der Roten Armee an, zumal jenseits des Urals die „Internationalisten“ nicht selten der einzig wirklich bewaffnete Arm der Revolution waren. Die zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen Tschechoslowaken und Bolschewiki boten de facto nur einen Vorgeschmack der künftigen Kriege in Ostmitteleuropa. Im Juni 1918, fast genau ein Jahr nach der ungarischen Offensive in der Slowakei und der Schlacht bei Nové Zámky, kämpften Tschechoslowaken und Ungarn um die Stadt Pensa. Weitere Kämpfe zwischen den Legionären und meist ungarischen und deutschen „Internationalisten“ gab es in Irkutsk und Busuluk, wo die Tschechoslowaken eine Gruppe Kriegsgefangener erschossen. Dann verlagerte sich die bewegliche „Front“ nach Taschkent. Ein Teilnehmer der Schlacht um diese Stadt erinnert sich:

Die ganze Artillerie und alle MG wurden von Kriegsgefangenen bedient; die Ausarbeitung der Pläne für das Vorgehen besorgten Kriegsgefangene und überhaupt alles, wozu geistige Arbeit nötig war, haben die Kriegsgefangenen gemacht69

Mit der Zeit wandelte sich der Charakter dieses Krieges. Die anfänglichen Gefechte um Bahnhöfe und entlang von Bahnlinien weiteten sich immer mehr aus. In Sibirien schlossen die Legionen einen für beide Seiten vorteilhaften Vertrag mit örtlichen Genossenschaften, die von der Partei der Sozialrevolutionäre (kurz: SR) kontrolliert wurden. Durch diese Zusammenarbeit entstand in den von den Tschechoslowaken besetzten Gebieten ein neues Machtzentrum in Opposition sowohl zu den Roten als auch zu den Weißen. Damit befanden sich die Legionen plötzlich im Zentrum des russischen Bürgerkriegs.

Doch das war nicht ihr Ziel. Gegen den Wunsch der Briten, die die Legionen gern zum Schutz des Hafens in Archangelsk eingesetzt hätten, wollten sowohl das Tschechoslowakische Nationalkomitee als auch die Soldaten Russland so schnell wie möglich verlassen. Damit war das Schicksal der sibirischen Sozialrevolutionäre besiegelt und auch das Abenteuer der Legionen nahm eine letzte Wendung. Ende 1918 flüchteten sie vor den herandrängenden Bolschewiki immer weiter nach Osten bis nach Wladiwostok. Von dort gelangten die verbliebenen Legionäre ohne größere Hindernisse nach Hause. Um das exotische Abenteuer der Tschechoslowaken rankten sich zahlreiche Erzählungen und Legenden. Die Legionäre selbst trugen dazu bei. In der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit galten sie als besonders verdienstvolle Kämpfer für das Vaterland. Viele machten Karriere in der Armee, die Erlebnisberichte von Veteranen wie Rudolf Medek erschienen in hohen Auflagen.

Die sibirische Anabasis (wie man den Rückzug der Legionen nannte) hatte einen weiteren, etwas in Vergessenheit geratenen Aspekt. Unterwegs schlossen sich ihnen kleinere antibolschewistische Einheiten an, darunter die polnische Sibirische Division mit einigen Tausend Soldaten. In den letzten Wochen des Feldzugs, an der Jahreswende 1919/20, deckte sie den Rückzug der Tschechoslowaken. Die Legionäre entluden unterdessen ihre Züge so langsam, dass die Polen von den Bolschewiki eingeholt wurden. Die Reste der zerschlagenen Division erreichten die Heimat erst viel später über Japan.

Die Anabasis der Legionen spielte sich weit entfernt von der Heimat vieler Teilnehmer der Kämpfe ab und doch handelte es sich in gewissem Sinn um einen Ausschnitt der mitteleuropäischen Völkerkriege. Auf der einen Seite standen Tschechen und Slowaken, meist österreichisch-ungarische Kriegsgefangene, auf der anderen Seite ihre früheren Armeekameraden, „Internationalisten“, überwiegend Ungarn und Deutsche. In Nebenrollen traten auch Polen auf. Manche Episoden dieser Geschichte waren Vorboten der künftigen Konflikte und Animositäten im „alten Land“. In der Zwischenkriegszeit blieben sie in lebendiger Erinnerung, für die Tschechoslowaken als Anlass zum Stolz, für Ungarn und Deutsche eher als unangenehme Erinnerung an verlorene Schlachten, für die Polen hingegen als Erinnerung an tschechischen Kleinmut und Verrat.

Wie dynamisch diese Abspaltungsprozesse waren und in welch unklarer Situation sich die nichtrussischen Soldaten im neuen, demokratischen Russland befanden, zeigt das Schicksal der polnischen Formationen, die bald die Basis des I. Polnischen Korps von General Józef Dowbor-Muśnicki bilden sollten. Während die Tschechoslowaken vor Zborów kämpften, standen die Polen einige Dutzend Kilometer weiter südlich, in der Nähe von Stanislaus (heute Iwano-Frankiwsk). Hier gerieten sie zunächst unter Beschuss durch die österreichisch-ungarische Artillerie, die Gasgranaten abfeuerte. Anschließend schloss sich ein Teil der polnischen Soldaten Marodeuren aus den russischen Regimentern an, die die umliegenden Lager plünderten. Die Lage ließ sich beruhigen, doch die Einheit erlitt einen schmerzhaften Schlag. Die russische Führung zwang die Regimenter, in denen die meisten Desertionen verzeichnet wurden, zur Rückgabe eines Teils ihrer Bewaffnung. Schlimmer noch, die Polen sollten diese Waffen den Tschechoslowaken übergeben. Unmittelbar nach dieser Demütigung intervenierten die Ulanen des 1. Regiments in Stanislaus, das zeitweilig in der Hand marodierender russischer Banden war. Es gelang ihnen, Ordnung herzustellen, doch schon bald mussten sie die Stadt selbst verlassen, weil sie erneut vom heranziehenden Feind beschossen wurden.70 Letztlich beschränkte sich der Feindkontakt der Polen auf ständige Rückzüge unter Beschuss. Die Kämpfe Mann gegen Mann wurden von Soldaten in jeweils denselben russischen Uniformen ausgetragen.

Der vergessene Weltkrieg

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