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Lettland

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Das südliche Nachbarland war Estland in vielerlei Hinsicht ähnlich. Auch dort gab es – aus Sicht der im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalbewegungen – zwei Feinde: die lokalen deutschen Eliten (in Estland waren Anfang des 20. Jahrhunderts 74 Prozent des Bodens in deutschem Besitz, in Lettland 55 Prozent) und die Russen, von denen Esten und Letten sich durch Sprache, Religion und die fast völlige Eliminierung des Analphabetismus unterschieden. Beide Feinde hatten eines gemeinsam: Sie verachteten ihre Untertanen. Die Deutschen wollten nicht zur Kenntnis nehmen, dass ihre privilegierte Stellung in den Ostseeprovinzen ein Relikt der Vergangenheit war, ein Erbe ihrer Vorfahren, das in der Epoche der Demokratisierung keine Aussicht auf Fortbestand hatte. Auch die Russen verstanden die nationsbildenden Prozesse nicht. Ihnen wollte nicht in den Sinn, dass der Durchschnittseste oder -lette las, also mehr wusste, anders lebte, besser arbeitete als der Durchschnittsrusse und angesichts dessen auf die Idee kommen konnte, dass er das Imperium nicht brauchte.

Zugleich unterschieden sich Esten und Letten in mindestens drei Aspekten. Der erste war struktureller Art. Riga war einer der wichtigsten Industriestandorte des Zarenreichs. 1913 war es dreimal so groß wie Reval (Tallinn), die Anzahl der lokalen Arbeiter war mehr als viermal so hoch. Entsprechend stärker waren dort schon vor dem Krieg linke Parteien verwurzelt. Den zweiten Unterschied bildete die unterschiedliche Kriegserfahrung. Vor Riga standen die Deutschen schon im Oktober 1915, sie besetzten einen großen Teil des Landes. Nach Tallinn kamen sie erst zweieinhalb Jahre später. Überdies gab es kein estnisches Pendant zu den lettischen Schützen, von denen im Kontext der Ethnisierung des Kriegs schon die Rede war. Im Januar 1917 erwarben diese sich neuen Ruhm, als sie in einer Offensive um Jelgava (Mitau) bei Temperatur von –30 °C zwei Verteidigungslinien der Deutschen eroberten.

Weil die benachbarten russischen Einheiten streikten und wie immer Versorgung und Koordination nicht funktionierten, hatten die Deutschen Zeit, um Reserven und Artillerie heranzuholen. Nach drei Wochen gingen sie zum Gegenangriff über und eroberten fast das gesamte verlorene Terrain zurück. Die lettischen Schützen verloren ein Drittel ihrer Männer. Ab diesem Zeitpunkt wollten sie vom zaristischen Russland nicht mehr viel wissen. Ein Teil von ihnen schloss sich später den Bolschewiki an, ein Teil kehrte – wie andere russische Soldaten – nach Hause zurück. Erstere spielten als rote lettische Schützen zunächst eine prominente Rolle während der Oktoberrevolution und retteten 1918 mehrfach die Herrschaft der Bolschewiki. Der Lette Jukums Vācietis wurde zum ersten Oberbefehlshaber der Roten Armee. Vorerst wenden wir uns aber wieder dem Herbst des Vorjahres zu.

Im November fanden im unbesetzten Teil des künftigen Lettlands, das damals Livland hieß, Wahlen zur russischen Konstituante statt. Die lettischen Bolschewiki erhielten rekordverdächtige 72 Prozent der Stimmen; es schien, als gehöre ihnen die Zukunft. Über das von ihnen gegründete Iskolat schreiben wir an anderer Stelle. Im Februar 1918 zogen sie sich aus Livland zurück – gegen den deutschen „Eisenbahnfeldzug“ waren sie machtlos. Zur selben Zeit machten sich unabhängig voneinander zwei nichtbolschewistische Formationen mit dem Gedanken an einen lettischen Staat vertraut. Als wichtigste erwies sich nach der deutschen Kapitulation einige Monate später die Gruppe um Kārlis Ulmanis, einen Absolventen der – schon damals renommierten – Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, Praktiker des Genossenschaftswesens und – wie sein polnischer und estnischer Kollege – Charismatiker. Am 17. November wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt. Ihm standen keine größeren Streitkräfte und kein besserer Verwaltungsapparat zur Verfügung als Päts in Estland. Der Staat existierte nur auf dem Papier.

Am 4. Januar 1919 marschierten die Roten in Riga ein. Ulmanis ging denselben Weg wie Päts – er verbündete sich mit den Deutschen und nutzte die Unterstützung der teils aus Baltendeutschen, teils aus sogenannten Freiwilligen aus dem Reich zusammengesetzten Baltischen Landeswehr. Der Unterschied zum Baltenregiment in Estland war nur scheinbar gering: In Estland handelte es sich um einen Teil der Streitkräfte der entstehenden Republik, die Baltische Landwehr hingegen war von Anfang an ein extraterritoriales Gebilde. Den lettischen Staat erkannte sie gleichsam nur bedingt an. Ähnlich verhielt es sich mit einer zweiten deutschen Einheit, der sogenannten Eisernen Brigade (später Division), die sich zur – gleichfalls bedingten – Loyalität gegenüber dem deutschen Oberbefehlshaber bekannte; diese Position bekleidete nach Abschluss der finnischen Mission General von der Goltz.

Im Januar befand sich fast ganz Lettland, nun Lettische Sowjetrepublik, unter roter Herrschaft. Letten und Deutsche sammelten sich zur Gegenoffensive. Im März eroberten sie Teilgebiete zurück, doch der wahre Charakter dieses merkwürdigen Krieges zeigte sich erst am 16. April in Liepāja (Libau), als Untereinheiten der Landwehr unter dem Kommando von Oberleutnant Hans Manteuffel-Szoege die Regierung Ulmanis stürzten. Der Ministerpräsident floh zum Hafen. Das Schiff, auf dem er Asyl im eigenen Land fand, wurde von britischen Einheiten geschützt. Neuer Ministerpräsident wurde der prodeutsche Pastor und Schriftsteller Andrievs Niedra. Er war natürlich eine Marionette und zugleich Symbol für die Lösung der baltischen Frage nach dem Modell des von Deutschen dominierten Ständestaats.

In diesem Augenblick war es Lettland kaum möglich, exakt zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Der Krieg mit den Bolschewiki dauerte noch an. Ende Mai ereignete sich das „Wunder an der Düna“. Deutsche und estnische Truppen befreiten die Hauptstadt des verbündeten Staates. Problematisch war nur, dass die einen im Namen der Regierung Niedra handelten, die anderen hingegen im Sinn des mit der Regierung Ulmanis geschlossenen Abkommens.18 Lettlands nördlicher Nachbar verstand sehr wohl Botschaft und Symbolik des lokalen Durcheinanders. Als im Juni im Rahmen einer antibolschewistischen Operation die von Westen angreifenden deutschen Truppen mit den von Norden heranziehenden Esten Kontakt aufnahmen, stand die Souveränität der baltischen Staaten auf dem Spiel. Am 23. Juni machte die estnische Armee mit der Unterstützung lettischer Einheiten in der Schlacht von Wenden (estnisch Cēsis) die deutschen Vorstellungen von der Zukunft der Region endgültig zunichte. Für die Esten wurde der 23. Juni bald zum Tag des Sieges. Die Schlacht war kaum mit dem sogenannten Wunder von der Weichsel und noch weniger mit Tannenberg (Grundwald) zu vergleichen, doch in symbolischer Hinsicht schienen den Zeitgenossen beide Vergleiche absolut treffend.

Zu den überaus merkwürdigen estnisch-lettischen Konstellationen gehört schließlich noch diese: Der zaristische Offizier Pawel Bermondt, ein Abenteurer, der sich in dieser Zeit Fürst Bermondt-Awaloff nannte, organisierte im Sommer 1919 die sogenannte Westrussische Befreiungsarmee. Sie soll an die 50.000 Soldaten gezählt haben, 80 Prozent davon Deutsche, der Rest – mehr oder weniger – weiße Russen. Angeblich wollte er das zaristische Imperium wiederbeleben. Stattdessen attackierte er im Oktober Riga (das die Deutschen im Mai von den Bolschewiki zurückerobert hatten), wo inzwischen die lettische Regierung ihren Sitz hatte. Die Letten schlugen im November mithilfe britischer Kriegsschiffe und estnischer Truppen den Angriff der Söldner zurück, die daraufhin ihre Aktivitäten nach Süden verlagerten. Wenig später verdrängten auch die Litauer Bermondts Armee von ihrem Territorium.

Der vergessene Weltkrieg

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