Читать книгу Der vergessene Weltkrieg - Maciej Górny - Страница 21

De Gaulle in Polen

Оглавление

Der 26-jährige Oberleutnant geriet 1916 bei Verdun schwer verwundet in deutsche Gefangenschaft. Die Deutschen versorgten ihn und steckten ihn in ein Kriegsgefangenenlager. Er versuchte fünfmal auszubrechen. Als er im Dezember 1918 nach Hause zurückkehrte, sah er, dass andere aufgestiegen waren, während seine Karriere stagnierte. Beschleunigen konnte sie nur die Teilnahme an einem neuen Krieg – doch Frankreich führte keinen. Es unterhielt aber einzelne Einheiten und Missionen im Ausland. De Gaulle entscheidet sich für die einige Hundert Personen starke Mission in Polen. Als Ordonnanz wird ihm ein Pole aus dem Posener Land [z poznańskiego] zugeteilt, der ihn an der Westfront als deutscher Soldat hätte töten können: Die Stellungen ihrer Regimenter lagen, wie sie herausfanden, einander gegenüber. Sie unterhielten sich auf Deutsch.

Am 25. April 1919 traf er in der nacheinander von „Russen, Boches und Juden“ geplünderten Festung Modlin ein. Neben den fehlenden Möbeln fielen im einige andere Dinge auf. Angeblich sollte der Sommer hier Mitte Mai den Winter ablösen. Vorerst war es kalt. Das Land war schrecklich zerstört. Die Teuerung unglaublich. Es gab alles zu kaufen, von Fleisch bis Butter, aber zu französischen Preisen. Von den Preisen für Schuhe ganz zu schweigen. Das Wichtigste: Die Polen hatten drei Jahrgänge zu den Waffen gerufen und eine Streitmacht von anderthalb Millionen Soldaten aufgestellt, der sich die aus Frankreich kommende, gut bewaffnete und von französischen Offizieren geführte Haller-Armee anschließen sollte. Sobald sie eintreffen würde, würden die Polen eine große Offensive gegen die Bolschewiki starten; daran zweifelte niemand. Man versicherte dem Franzosen, der polnische Offiziere schulen sollte, diese würden spätestens in zehn Tagen eintreffen, dann könne er mit der Arbeit beginnen.

Sie trafen weder nach zehn Tagen noch nach einem Monat ein. De Gaulle wurde schnell klar, worin die Besonderheit der polnischen Armee bestand: Die Offiziere aus den drei Teilungsgebieten bildeten eine heterogene Masse, aus der man erst eine Einheit schaffen musste. Piłsudski und Haller hassten sich („Piłsudski will Haller nicht einmal im Spiegel sehen – und umgekehrt“). Das alles nahmen die französischen Offiziere der Blauen Armee als schlechtes Vorzeichen.

So sehr die Situation der polnischen Armee, die sich tatsächlich gerade erst aus unterschiedlichen Elementen herausbildete, leicht zu verstehen war – obwohl sicher die wenigsten französischen Offiziere auf solche Dinge achteten –, so sehr irritierten de Gaulle das Mittelmaß, die Rückständigkeit und die Sorglosigkeit seiner Gastgeber und ihrer Institutionen. Nach einem untätigen Monat in Modlin schrieb er in die Heimat:

Liebste Mama,

ich habe noch keine Nachricht von Dir! Die hiesige Post existiert nicht, wie übrigens auch alles andere. Es muss wortwörtlich alles von Grund auf geschaffen werden. Die Russen haben, seit sie dieses Land besetzten, die Polen sorgfältig daran gehindert, in Handel, Industrie, Verwaltung oder Militär etwas aufzubauen. Diese Menschen, die sich selbst überlassen wurden, sind in nichts gut, doch das Schlimmste ist, dass sie sich in allem für hervorragend halten. Es wird uns viel Anstrengung kosten, ihren Staat wiederaufzubauen. Die Sache ist für uns aber so wichtig, dass sie das Risiko lohnt. Warschau ist eine charakterlose Stadt ohne besondere Eigenschaften, doch trotz allem recht angenehm und lebendig, voll von mehr oder weniger herausgeputzten Menschen – aus Russland, Weißrussland, Litauen –, deren Land von den Bolschewiki besetzt wurde und die bei allem Unglück Freude in der Unterhaltung finden.

Die Warschauer Adelsfamilien, deren Vermögen unter den jüngsten Bodenreformen, dem Krieg und übertriebenem Luxus gelitten haben, helfen ihnen nach besten Kräften und versuchen, ihnen nachzueifern. Alle sind übrigens sehr höflich und bewirten uns besser, als es uns lieb ist. Alles ist sehr teuer – ungefähr dreimal teurer als in Paris –, doch die bessere Gesellschaft verzichtet auf nichts. Die Stadt ist voll von Armen, ungefähr 500.000. Wir fragen uns, wovon diese Menschen leben, da hier weder Fabriken arbeiten noch der Handel funktioniert und auch keine Bauarbeiten durchgeführt werden. Genau in der Mitte befinden sich die zahllosen, von allen sozialen Klassen abgrundtief gehassten [Juden47]. Sie haben sich am Krieg auf Kosten der Russen, Boches und Polen bereichert. Als Anhänger der Sozialrevolution haben sie viel Geld für gemeine Taten angehäuft.48

Anfang Juni trafen endlich die polnischen Teilnehmer des Offizierslehrgangs ein, der schon einen Monat zuvor hätte beginnen sollen. Von nun an besserte sich de Gaulles Stimmung. Die jungen Polen nahmen den Kurs offensichtlich ernst und erwiesen sich als dankbare Schüler. Im Verlauf von mehr als einem halben Jahr schulte de Gaulle 200 Offiziere. Im Herbst schrieb er, es sei ihm wohl gelungen, die anfangs bestehenden Vorbehalte gegenüber den Franzosen etwas abzubauen. Ein Jahr später, während des Polnisch-Sowjetischen Krieges, sollte er auf seine Schüler und sich stolz sein.

Die Kurse fanden in der Militärbasis in Rembertów statt. Dort gab es den vermutlich letzten Missklang. Am 18. Juli ging de Gaulle zum Abendessen. Bei der Rückkehr fand er sein Zimmer geplündert. Die Diebe hatten alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war, darunter zwei Paar Schuhe und die Kleidung, vor allem aber 2000 Mark, also fast einen ganzen Monatssold. Die herbeigerufene Gendarmeriepatrouille versprach, Ermittlungen einzuleiten. De Gaulle glaubte nicht, dass die Täter je ermittelt würden. Er begriff nicht, wie es zu einem Einbruch in eine Militärbasis kommen konnte, und zugleich war ihm klar, dass die Chance, in einer solchen Ansammlung von Menschen die Diebe zu finden, verschwindend gering war. „Ich fühle mich gedemütigt, bin wütend und fassungslos“, schrieb er tags darauf seiner Mutter.

De Gaulle unterrichtete bis März 1920, von Dezember 1919 an als Leiter der Lehrgänge. Er fand auch die Zeit, seinen französischen Kollegen einen langen, gelehrten Vortrag über die Geschichte Polens zu halten. Darin ließ er deutliche Sympathie für Polen erkennen, dem ein angemessener Platz auf der Landkarte gebühre. Zudem sei die französische Politik gegenüber Deutschland und Russland ohne ein Bündnis mit Polen unvollständig.

Im April 1920 reiste de Gaulle zufrieden ab, nicht zuletzt wegen der großen Anerkennung, die er sich bei den Vorgesetzten erworben hatte. Sein Projekt einer restauration militaire, also des Aufholens des durch die zweieinhalbjährige Kriegsgefangenschaft verursachten Karriererückstands, erwies sich als gelungene Investition.

Es wäre nicht verwunderlich, wenn er geahnt hätte, dass er als Polenexperte schon drei Monate später an der Weichsel unersetzlich sein würde.

Piłsudskis Verhalten im Mai 1920 ist ebenso unerklärlich wie in anderen kritischen Momenten seines Lebens.49 Einerseits war ihm bekannt, was der Feldwebel Maciejewski täglich in der Praxis erlebte („die räuberische Armee“). Insbesondere klagte er über die von den Nationaldemokraten bewunderten, gut ausgebildeten und bewaffneten Einheiten aus Großpolen: „Ach, diese Posener Regimenter. Stellt euch vor, in Berdytschew haben sie unsere Kriegsbeute geplündert – dabei haben sie Autoreifen und Stiefel beschädigt und eine Menge Werkstattmaterial und Medikamente zerstört. Wahrlich, mit solchen Lumpen ist kein Krieg zu führen; man berichtet mir schon, der Streifen, durch den sie ziehen, sei bereit zu einem Aufstand gegen uns.“ Die bekannteste Eigenschaft der Posener Polen erwähnte er nicht, doch jeder kannte sie: Die Posener Regimenter zeichneten sich auch durch ihren Antisemitismus aus. Woher in den Soldaten aus śrem oder Gnesen, wo man kaum einem Juden begegnete, der Hass auf die „Alttestamentarischen“ kam, ist bis heute ungeklärt.

Piłsudski wusste, dass in der Ukraine der Krieg im Kontext sich überlagernder sozialer und ethnischer Konflikte stand. Am 12. Mai untersagte er den Grundbesitzern die Rückkehr auf ihre ehemaligen Landgüter in der Ukraine. Damit schützte er Petljura.

Zugleich überschätzte er ihn ungerechtfertigterweise. Die Idee einer ukrainischen Offensive gegen Odessa erwies sich als Hirngespinst. Zdanowski behielt recht: Petljuras Ukrainer schlugen sich vereinzelt wacker, doch sie bildeten zu keinem Zeitpunkt eine kritische Masse. Im Kampf gegen die Bolschewiki waren die Polen auf sich gestellt.

Unterdessen herrschte in Warschau eine erhabene Stimmung. Der Vorsitzende der Verfassunggebenden Nationalversammlung, der Nationaldemokrat Wojciech Trąmpczyński, verkündete bereits am 4. Mai in einer feierlichen Rede, nun erfüllte sich Adam Mickiewiczs Prophezeiung („Wenn unsre Adler im blitzschnellen Fluge/auf Chrobrys alter Grenze endlich ruhen“), und die Abgeordneten verabschiedeten per Akklamation folgende Resolution: „Die Nachricht von dem großartigen Sieg, den der polnische Soldat unter deiner Führung errang, Kommandeur, erfüllt die ganze polnische Nation mit freudigem Stolz. Für die blutige und heldenhafte Anstrengung, der uns dem Frieden näher bringt und ein neues Fundament unter die Macht des polnischen Staates legt – sendet im Namen des dankbaren Vaterlandes die Nationalversammlung dir, Oberster Befehlshaber, und der heldenhaften Armee herzliche Dankesworte.“50

Piłsudskis Rückkehr nach Warschau zwei Wochen später erinnerte an den Triumphzug eines römischen Heerführers nach einem gewonnenen Krieg. Vor der Alexanderkirche wurde der frischgebackene Marschall vom Klerus und vom Vorsitzenden der Nationalversammlung begrüßt. Der Feldbischof der polnischen Armee stimmte das Tedeum an. Junge Männer spannten die Pferde aus und zogen den Wagen des bewunderten Führers bis zum Belvedere. Am Abend erschien Piłsudski in der Nationalversammlung. Der betreffende Stenogrammauszug zeigt den Enthusiasmus und die Hoffnung auf die Vollendung der geschichtlichen Mission im Osten:

Vorsitzender:

Meine Herren, der Staatschef ist eingetroffen.

(Der Staatschef zeigt sich in der Loge. Die Delegierten erheben sich und begrüßen ihn mit lang andauerndem, kräftigem Beifall).

Herr Staatschef!

Im Namen der gesamten Nationalversammlung begrüße ich dich, Oberster Befehlshaber, nach der Rückkehr vom Pfade Bolesławs des Tapferen. Seit Kirchholm und Chocim hat die polnische Nation keinen solchen Triumph seines Heeres erlebt.

Doch nicht der Sieg über einen unterlegenen Feind, nicht der Nationalstolz lässt unsere Herzen höherschlagen. Die Geschichte hat noch kein Land gesehen, dass unter so schweren Bedingungen wie wir für seine Staatlichkeit kämpfte. In diesem Augenblick gab dein siegreicher Marsch auf Kiew der Nation das Gefühl der eigenen Kraft, stärkte ihren Glauben an die eigene Zukunft, kräftigte ihren Geist und schuf vor allem die Voraussetzungen für einen günstigen und dauerhaften Frieden, den wir alle so sehr ersehnen.

Durch die militärische Tat hast du nicht nur die Kraft des polnischen Armes bezeugt, sondern auch die beste Sehnsucht der Nation befreit und zum Banner gemacht: ihre Ritterlichkeit im Dienst der Freiheit der Völker („Bravo“-Rufe). Vergeblich zählten unsere Feinde auf die politischen Unterschiede in Polen. Ganz Polen ist vereint im Wunsch, dass die Bevölkerung, die heute durch unsere Armee befreit wurde, selbst über ihr Schicksal entscheide, über die Form ihres Staates, über die Form ihrer Regierung. („Bravo“-Rufe). Auf ihren Bayonetten bringt unsere Armee dieser unterdrückten Bevölkerung die Freiheit, się bringt Frieden den Friedensliebenden Menschen vor Ort („Bravo“-Rufe).

In dir, Oberster Führer, sehen wir ohne Parteiunterschiede das Symbol unserer geliebten Armee, einer Armee von einer Stärke, die unsere Nation selbst in ihren glänzendsten Zeiten nicht besaß. Die Siege, die unsere Armee unter deiner Führung errang, werden das Schicksal Polens nicht nur in unserem Osten beeinflussen.

Heute weiß und sieht die ganze Welt: Polen ist nicht mehr wehrlos. Ein Hoch dem Obersten Führer und der polnischen Armee!

(Langer Beifall aller Fraktionen und „Hoch!“-Rufe).51

Die Euphorie der Abgeordneten korrespondierte mit der Stimmung in den Warschauer Straßen, zumindest in den intellektuell-bürgerlichen Vierteln. Der nicht zu Übertreibungen neigende linker Agrarier Maciej Rataj erinnerte sich: „[…] die Gedanken und Herzen waren beim polnischen Soldaten, der auf den Spuren der Bolesławs nach Kiew marschierte oder, wie es schien, von Flügeln getragen flog. […] Die Menschen waren wie berauscht vom Triumph und von der Begeisterung.“52

Hier stoßen wir auf die erste von drei dunkeln Wolken, die im Mai schon deutlich sichtbar am Horizont standen, vom Stolz über den vermeintlich epochalen Sieg aber aus dem Bewusstsein verdrängt wurden. Wie wir im ersten Band von „Der vergessene Weltkrieg“ gezeigt haben, lässt sich der sorgsam gehegte Mythos vom der Kriegsbegeisterung der Völker im Sommer 1914 nach jahrzehntelanger Forschung nicht mehr aufrechterhalten. Für den Krieg demonstrierten damals vor allem Großstädter und Studenten. In Arbeitervierteln und -städten, ganz zu schweigen vom Land, herrschte deutlich weniger Enthusiasmus. Nicht anders – oder noch ambivalenter – war die Stimmung sechs Jahre später in Polen. Gegen die Expedition nach Kiew war – was auf der Hand lag – die Kommunistische Arbeiterpartei Polens (KPRP), aber auch ein Teil der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), der Bund, die Fraktion der jüdischen Abgeordneten in der Nationalversammlung, die ukrainischen Bauern in Ostgalizien (diese hätten auch ohne einen neuen Krieg die Herrschaft Warschaus nicht akzeptiert) sowie ein Teil der Juden. Vor allem aber versuchten die polnischen Bauern massenhaft, dem Wehrdienst zu entgehen: Im Mai 1920, als man in Warschau den Erfolg der Kiew-Expedition feierte, reagierten 40 Prozent der wehrfähigen Männer nicht auf den Mobilisierungsbefehl. Die Anzahl der von der Gendarmerie festgenommenen Deserteure und versteckten Rekruten ging auf Kreisebene in die Hunderte, in größeren Gebieten in die Tausende.53 Es ist schwer vorstellbar, dass die Mehrheit von ihnen der kommunistischen Propaganda glaubte; die Situation erinnerte eher an die baltischen Länder vor der Bekanntmachung von Bodenreformen.

Die zweite Wolke ballte sich im Westen zusammen. Nur Frankreich unterstützte die Kiew-Expedition, indem es der polnischen Armee rund 1000 Offiziere und mehr als 2000 Unteroffiziere und Rekruten sowie reichlich Waffen und anderes Kriegsmaterial zur Verfügung stellte. Überall sonst wurde Polen von der Linken bis zur Rechten der Aggression gegen „Russland“ beschuldigt. Ein linkes, von Labour Party und Gewerkschaften gegründetes Antikriegskomitee in Großbritannien nannte sich schlicht und einfach „Hands Off Russia“. Die tschechischen und slowakischen Eisenbahner traten in einen Streik. Londoner und Danziger Hafenarbeiter taten alles, damit Lieferungen aus Großbritannien und Frankreich so spät wie möglich in Polen eintrafen. In Danzig entluden die Franzosen unter dem Schutz der Kanonen ihrer Kriegsschiffe ihre Ausrüstung letztlich selbst.

Die dritte Wolke, die man in Warschau ausblendete, ballte sich in Russland zusammen. Wohl niemand begriff, wie sehr die polnische Offensive der bolschewistischen Propaganda in die Hände spielte. Die Geschichte wurde schon oft beschrieben; die Einnahme Kiews wurde für die überwältigende Mehrheit der Russen zum Symbol der Bedrohung oder gar Demütigung. Das Gespenst der Rückkehr der „polnischen Herren“ bot ideales Propagandamaterial auch zur Mobilisierung der Ukrainer. Wladimir Majakowski brachte es in einem Plakat für die Russische Telegrafenagentur auf den Punkt: „Ukrainer und Russen verbinden sich in einem Schrei: Der Herr soll nie wieder über dem Arbeiter stehen.“54 Tausende meldeten sich nun zur Roten Armee. Sogar der einzige siegreiche zaristische Kommandeur an der Ostfront, General Aleksei Aleksejewitsch Brussilow, trat ihr demonstrativ bei: Das Vaterland war in Not, also war keine Zeit für innere Konflikte.

Binnen einem Monat vervielfachten und reorganisierten die Bolschewiki ihre Streitkräfte, deren größten Teil sie im Norden einsetzten. In den ersten Wochen errangen sie keine großen Erfolge, doch sie zwangen die Polen dazu, einen Teil ihrer Kräfte von der Süd- an die Nordfront zu verlegen. Am 26. Mai begannen sie im Süden eine Offensive. Angst und Schrecken verbreitete vor allem Semjon Budjonnys Reiterarmee, die immer wieder im Rücken der polnischen Truppen auftauchte. Angesichts der drohenden Einkreisung zogen sich die Polen am 10. Juni nach nicht ganz fünf Wochen aus Kiew zurück.

Auf der ganzen Länge der Front begann ein großer Rückzug, der mehrfach zur Flucht wurde. Die beste Beschreibung dieser Wochen lieferte der heute vergessene Stanisław Rembek in seinem pazifistisch-expressionistischen Roman Na polu (Im Felde, 1937). Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde er nur von einigen wenigen prominenten Intellektuellen wahrgenommen, nach 1945 konnte von einer Neuauflage nicht die Rede sein, weil das Thema und seine Gestaltung nicht einmal in den liberalsten Phasen der kommunistischen Geschichtspolitik entsprachen. Als Veteran des Kriegs von 1920 wusste Rembek, wovon er schreibt. Er schildert die Niederlage des Sommers aus der Sicht von Rekruten und Unteroffizieren, gelegentlich auch von Unter- oder Oberleutnants. Höhere Chargen kommen im Roman nur sporadisch vor. Der Kollektivheld ist eine Schützenkompanie. Bei Beginn der bolschewistischen Offensive zählt sie 60 Soldaten, Unteroffiziere und jüngere Offiziere. Wir ersparen dem Leser Zitate der Beschreibungen von herausquellenden Eingeweiden und Gehirnen, zermalmten oder abgeschnittenen Gliedmaßen, von Selbstmorden und getöteten Kriegsgefangenen oder von Körpern, die von Geschossen so zerfetzt wurden, dass man nicht wusste, wie man sie bestatten soll. Rembek ging sogar noch weiter: Am Ende seines Romans lässt er auch die letzten Soldaten sterben, die nach den zahlreichen Niederlagen noch übrig sind. Die Kompanie wird nicht dezimiert. Sie wird ausgelöscht.

Rembek, dessen Roman Kenner mit Erich Maria Remarques acht Jahre zuvor erschienenem Werk Im Westen nichts Neues vergleichen, zeichnete ein schockierendes, gleichwohl aber grundlegend falsches Bild. Der Polnisch-Sowjetische Krieg erinnerte in nichts an Verdun, wo tatsächlich nicht nur Kompanien, sondern ganze Regimenter innerhalb weniger Stunden vernichtet wurden. Im Osten war die Lage anders: Auf einen Kilometer (sofern man ihn überhaupt bestimmen konnte) kam ein winziger Prozentsatz der Geschütze, Mörser und schweren MGs, die in Belgien, Frankreich oder am Isonzo eingesetzt wurden. Die Truppen bewegten sich in atemberaubendem Tempo hin und zurück.

Den Veteranen der Westfront war diese Art der Kriegsführung unbegreiflich. Umso besser verstand dafür Charles de Gaulle den Oberleutnant der polnischen Armee, der als preußischer Soldat einst sein Feind war, als dieser über die „kindischen Kämpfe hier“ klagte: „Das ist kein Krieg, Herr Major! Es gibt keine Toten! Die Divisionen rücken vor oder weichen zurück! Aber niemand weiß warum!“ Er selbst kommentierte den Krieg im Osten mit dem Blick des Experten noch bissiger:

Eine kleine Zahl von Soldaten befindet sich an einer zu weit auseinandergezogenen Linie. Es gibt keine organisierten Stellungen, keine Reserven. Aufseiten des Feindes dasselbe Bild. Wenn eine Partei vorrückt, findet sie immer riesige Löcher zwischen den Gruppen der Verteidiger, durch die sie hindurchdringt. Dann beginnt für die Verteidiger der Rückzug – bis ihr Kommandeur beschließt, seine Kräfte neu zu gruppieren, sie auf Angriff einzustellen und loszustürmen. Dann flieht die eben noch angreifende Partei und so geht es hin und her. Das ist das Geheimnis der erstaunlichen Vor- und Rück wärts be wegungen der Bolschewiki und der Polen […]. Sie folgen dem Prinzip der russischen Romane, von denen man immer meint, jetzt müssten sie enden, und unterdessen fangen sie von vorn an.

Ein Frontaufenthalt im Stab der 3. Infanteriedivision bestätigte diesen Eindruck:

Ach. Keine große Sache, eine Division, die einsam operiert. 3000 Kämpfende, verstreut auf 40 Quadratkilometer. Für die Kommunikation: weder Telefon noch Drahtlostelegraf noch optische Geräte. Jeder geht auf gut Glück in die Richtung, die ihm befohlen wurde, und am Abend suchen alle sich gegenseitig; man weiß ja auch, auf unserem Boden, in einem slawischen Land, wird sich am Ende alle irgendwie fügen.55

Zur Erinnerung: De Gaulle schrieb über den größten Krieg im Osten nach 1918, in dem (abgesehen vom russischen Bürgerkrieg) mehr Soldaten kämpften als in allen anderen Kriegen zusammen. In der schon angesprochenen legendären Schlacht von Wenden (Cēsis) verzeichneten die Sieger 450 Tote. Im Sommer 1920 verloren beide Armeen täglich weitaus mehr Soldaten. Wie viele Deserteure darunter waren, lässt sich nicht mehr feststellen.

Rembek übertrieb, de Gaulle untertrieb. Die Verluste der polnischen Armee während des großen Rückzugs im Sommer waren deutlich höher als die der Roten Armee im Frühjahr 1920. Im Norden begann die echte Offensive der Armeegruppe von General Michail Tuchatschewski am 4. Juli. Innerhalb von acht Tagen wichen die Polen 200(!) Kilometer zurück und verloren über 50 Prozent ihrer Ausgangsstärke. Sie konnten keinen ihrer Verteidigungspläne umsetzen. Ehe sie die einst deutschen Stellungen von 1915–17 besetzten konnten, war Gaik Bschischkjan schon in ihrem Rücken. Wilna, Grodno, Białystok und die Festung Osowiec mussten noch im Juli aufgegeben werden. Ehe die polnischen Hauptstreitkräfte die Festung Brest erreichten, war diese schon in bolschewistischer Hand. Am 10. August gab Tuchatschewski den Befehl zum Angriff auf Warschau. Im Norden drangen die Bolschewiki bis an die Grenze des früheren preußischen Teilungsgebiets vor. Thorn war zum Greifen nah.

Am Rand ihrer militärischen Erfolgte – von Minsk nach Warschau benötigte sie genau einen Monat – beging die Rote Armee exakt dieselben Fehler wie die Polen während ihrer sogenannten Kiew-Expedition einige Wochen zuvor. Erstens verlängerte sie den Abstand zwischen den kämpfenden Truppen und ihren Versorgungsbasen auf mehrere Hundert Kilometer. Zweitens ließ sie sich von ihren Erfolgen täuschen: Die Unterstützung durch die Bevölkerung der eroberten Gebiete schien ihr selbstverständlich. Erst später bekannte Lenin der deutschen Kommunistin Clara Zetkin:

[…] es ist in Polen gekommen, wie es gekommen ist, wie es vielleicht kommen mußte. Sie kennen doch alle die Umstände, die bewirkt haben, daß unsere tollkühne, siegessichere Vorhut keinen Nachschub von Truppenmassen und Munition und nicht einmal von genug trockenem Brot erhalten konnte. Sie mußte Brot und anderes Unentbehrliche bei den polnischen Bauern und Kleinbürgern requirieren. Und diese erblickten in den Rotarmisten Feinde, nicht Brüder und Befreier. Sie fühlten, dachten und handelten keineswegs sozial, revolutionär, sondern national, imperialistisch. Die Revolution in Polen, mit der wir gerechnet hatten, blieb aus. Die Bauern und Arbeiter, von den Pisudski- und Daszyński-Leuten beschwindelt, verteidigten ihre Klassenfeinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten verhungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot. […] alle Vorzüge Budjonnys und anderer revolutionärer Heerführer konnten […] unseren politischen Rechenfehler nicht ausgleichen.56

Lenins Ausführungen betrafen im Grunde einige weitere Fehler der Roten Armee. Hätte der Weg nach Warschau durch das Dombrowaer Kohlenbecken geführt, hätte man vielleicht mehr Anhänger für die Idee einer polnischen Räterepublik gewinnen können. Doch die Südwestfront, deren politischer Kommissar der schon erwähnte Josef Stalin war, rückte sehr viel langsamer voran als Tuchatschewskis Truppen und kam im Juli in der Nähe von Lemberg zum Stehen. Damit war die Nordwestfront, die sich zum Angriff auf Warschau anschickte und im Norden die Grenze des preußischen Teilungsgebiets überschritt, ebenso isoliert wie drei Monate zuvor die polnischen Divisionen in Kiew. Tuchatschewski war von der eigenen Logistik und den eigenen Reserven abgeschnitten, von lokalen Verbündeten, auf die man ganz offensichtlich in Moskau gezählt hatte, ganz zu schweigen. Weitere Fehler betrafen die Kriegsziele. Am 2. Juli gab Tuchatschewski einen Befehl, der den Charakter des Kriegs veränderte. Es ging nun nicht mehr um die Verteidigung Russlands: Über „Polens Leiche“, so der General, führe der Weg zur Entfesselung der Revolution in Europa. Als die Alliierten auf der Konferenz von Spa im Versuch, zwischen Warschau und Moskau zu vermitteln, Polen extrem ungünstige Bedingungen aufzuzwingen versuchten, offenbarten die Bolschewiki ihre wahren Absichten. Sie wollten Polen nicht nur auf die Grenzen des „Weichselgebiets“ vor 1914 zurechtstutzen, sondern auch zu einem Vasallenstaat machen. Der internationale Status Polen wäre in etwa dem ungarischen vergleichbar gewesen, die Souveränität wäre de facto noch stärker eingeschränkt worden: So wäre die Stärke der Streitkräfte begrenzt worden, zudem hätte eine Bahnlinie auf dem Territorium der Republik Polen unter russische Verwaltung gestellt werden müssen.

Ebenso erfolglos endete im Sommer 1920 der Versuch, eine alternative Regierung einzusetzen. Die polnischen Kommunisten konnten weder auf die Unterstützung der Bauern (über die Auseinandersetzung Lenins und Dserschinskis mit Marchlewski in der Agrarfrage schreiben wir an anderer Stelle57) noch auf die der sogenannten Arbeiterklasse hoffen. Eine offensichtlich auf die Bajonette der Roten Armee gestützte Regierung hatte keine Überlebenschance. Darum widmete auch Stefan Żeromski, dem wir die knappste und zugleich treffendste Schilderung dieses Experiments verdanken, dem sogenannten Provisorischen Polnischen Revolutionskomitee (Polrewkom) in seiner ohnehin kurzen Erzählung Na probostwie w Wyszkowie (In der Pfarrei von Wyszków, 1920) gerade einmal einen Abschnitt. Zudem gilt sein Interesse nicht der Vision einer bolschewistischen Regierung in Warschau, sondern der Bereitschaft der polnischen politischen Klasse zu Reformen, die zur Identifikation der Gesellschaft mit dem wiedererrichteten Staat beitragen, von dem Bauern und Arbeiter eine grundsätzliche Umverteilung des Besitzes erwarten; wieder handelt es sich um dasselbe Problem wie in Litauen oder in Rumänien.

Die von gegenseitigem Misstrauen oder gar Hass erfüllte politische Klasse in Warschau bestand die Prüfung des Sommers 1920 – ebenso wie im November 1918 – erstaunlich gut. Der parteilose, den Nationaldemokraten nahestehende Experte Władysław Grabski übernahm die Verantwortung für das Fiasko in Spa. Er war von Piłsudski zum Abschuss freigegeben worden: Der Marschall und faktische Staatschef war den entscheidenden Verhandlungen mit den Alliierten ferngeblieben. Grabski hatte als Ministerpräsident keine große Wahl, doch er tat, was er konnte: Ein besseres Ergebnis war nicht zu erreichen. Er zog die Konsequenzen und trat zurück. Seine Klasse sollte er drei Jahre später bei der Reform der Staatfinanzen unter Beweis stellen, die ihm noch mehr Hass eintrug.

Grabskis Nachfolger wurde – als Ministerpräsident der Regierung der nationalen Verteidigung – der „bäuerliche“ Politiker Wincenty Witos. Er hatte es leichter: Der Sejm spielte keine Rolle mehr, seine Rolle hatte der Nationale Verteidigungsrat übernommen. Dennoch wurde am 15. Juli 1920 – ohne Abstimmung! – ein Gesetz über die Durchführung der Bodenreform verabschiedet, eine leere Geste, mit der die politische Klasse das „Landvolk“ oder – wie Paderewski in seinem archaischen Polnisch formulierte – die „lieben Landleute und Redermacher“ für sich einnehmen wollte.58 Im schon zitierten Tagebuch Zdanowskis, dem Piłsudski, die Linke und die bäuerlichen Delegierten gleichermaßen verhasst waren und der auch die polnischen Grundbesitzer zutiefst verachtete, wird dieses Thema mit keinem Wort erwähnt. Von ebenso symbolischem Charakter war die Rekrutierung zur sogenannten Freiwilligenarmee. Zwar traten ihr 100.000 Polen bei, doch an der Front kam sie nicht zum Einsatz. Was zählte, war die Bereitschaft zum Kampf für die Unabhängigkeit.

Als de Gaulle am 1. Juli nach Warschau zurückkehrte, war er leicht entsetzt über den Stimmungswandel, der sich in seiner Abwesenheit vollzogen hatte: „Welche Veränderung! Steht da nicht Angst in jedem Gesicht? Nie habe ich Furcht bei diesem stillen Volk erlebt; doch das ist schlimmer: Resignation. Sie habe ich oft bei den Slawen gesehen: Das Gefühl der Gefahr erregt sie nicht, es drückt sie nieder.“ Er sah in diesen ersten Julitagen Armut, Hunger und Niedergeschlagenheit. „Aber in den Straßen gibt es immer noch viele elegante Offiziere, die stolz ihre Säbel tragen. Auch die Frauen haben sich nicht abgedunkelt und ihrer Sommerkleidung Schwere verliehen. Niemand schreit, es gibt keine Unruhe in der Menge. Was soll das bedeuten? Ist es die Gelassenheit einer Gesellschaft, die sich ihrer Stärke und ihrer Bestimmung bewusst ist, oder die Resignation eines Volkes nach einer unglücklichen Vergangenheit, das keine Zeit hatte, seine freie Seele wiederzuentdecken, und das Misserfolge nicht berühren?“

Nach einem Monat und noch bevor Tuchatschewski sich Warschau näherte, fand er eine Antwort auf diese Frage. Trotz immer neuer Niederlagen wuchs „[…] von oben nach unten die Moral. Die Führung, die am Anfang vor Verwunderung fast wie gelähmt war, hat sich zusammengerissen: Der Siegeswille ist zurückgekehrt und zugleich treffen Verstärkung, Waffen und Verpflegung bei der Armee ein. In den Köpfen und in den Reihen herrscht wieder Ordnung, die Soldatenherzen fassen wieder Vertrauen und auf die Lippen kehrt das Lied zurück.“59

Zwei Wochen später, als die Situation wirklich hoffnungslos schien, vermerkte der britische Gesandte in Warschau, Edgar Vincent, 1. Viscount D’Abernon, mit noch größerer Verblüffung: „Das Ausbleiben jeglicher Panik in der breiten Masse der Einwohner ist wirklich außergewöhnlich. Die höheren Schichten der Gesellschaft haben die Stadt schon verlassen und in vielen Fällen ihre Malereisammlungen und andere Kostbarkeiten der Obhut der Museumsbehörden überlassen. Warschau war schon so oft von fremden Truppen besetzt, dass die heute drohende Gefahr in der Bevölkerung weder Unruhe noch Panik hervorruft, die in anderen Städten entstehen, die noch keine bewaffnete feindliche Besetzung erlebt haben.“ Der Gesandte, der später Tuchatschewskis Niederlage als „Die 18. entscheidende Schlacht in der Weltgeschichte“ bezeichnete60 und deshalb in polnischen Büchern über das Jahr 1920 häufig zitiert wird, verstand in Wirklichkeit nur wenig von der um ihn herum herrschenden Atmosphäre. Am 27. Juli notierte er: „Der Ministerpräsident, ein Landwirt, ist heute abgereist, um seine Ernte einzubringen. Niemand sieht darin etwas Außergewöhnliches.“61

Der Gesandte des Vereinigten Königreichs fantasierte. Witos bildete seine Regierung am 24. Juli. Ab diesem Tag war er entweder in Warschau, an der Front oder dort, wo er sich am wohlsten fühlte – unter seinen bäuerlichen Wählern. D’Abernon, der weitaus gebildeter als der frischgebackene Ministerpräsident war, verstand die Botschaft nicht, die auf ein Vorbild aus der Antike zurückgriff, das ihm spätestens vor dem Abitur begegnet sein musste. Witos inszenierte sich nämlich als polnischer Cincinnatus – ein Bauer, der seine Scholle verlässt, weil das Vaterland ruft:

Eines Tages, es war weder ein Feiertag noch ein Markttag und daher für Zusammenkünfte ungeeignet, blieb ich zu Hause, um das Feld für Lupinen zu pflügen und zu düngen. Gegen drei Uhr nachmittags machte mich ein Knecht darauf aufmerksam, dass ein Auto vor dem Haus vorgefahren sei, also sicher ein Besucher für mich. Ich arbeitete weiter, denn ich wusste, wer etwas von mir wollte, würde mich finden. Ich irrte mich nicht, nach ein paar Minuten kam ein Offizier mit ungeheuer ernster Miene aufs Feld und verkündete, nachdem er sich versichert hatte, dass er es mit mir zu tun hatte, er komme vom Staatschef, Piłsudski, und er habe den Befehl, mich unverzüglich nach Warschau zu bringen […]. Ich wusch mich ein wenig und eine halbe Stunde später saß ich schon im Auto.62

Witos, als Ministerpräsident von Amts wegen Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats, spielte keine größere Rolle als das Gesetz über die Bodenreform oder die Freiwilligenarmee. Er war lediglich ein Symbol der Einheit, des Zusammenwachsens von Nation und Volk zu einer Gemeinschaft, die bereit war, das Vaterland zu verteidigen. Im Rat entschied Piłsudski. Als die Lage an der Front immer kritischer wurde, versuchte Dmowski ihn als Oberbefehlshaber abzusetzen. Piłsudski wusste nur zu gut, was sich hinter dem Antrag des Führers der Nationaldemokratie verbarg. Dmowski pries einen der unfähigsten Generäle der Polnischen Armee, er riet, man solle sich an die „Alliierten“ wenden, und betonte, nicht die Armee versage, sondern es seien „organisatorische, strategische und taktische Fehler gemacht worden, infolge derer die Armee das Vertrauen [in die Führung] verlor“.

Während der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates am 19. Juli explodierte Piłsudski, der seit Wochen unter extremem Stress stand: „Ihr alle steht am Abgrund, ihr werdet euch morgen die Köpfe einschlagen […]. Kann die Armee gesund sein,63 wenn im Augenblick der Prüfung ihr nicht standhaltet? Meine Herren, denkt nach, wenn ich Unfrieden stifte, setzt mich ab, nehmt jemand anderen, vielleicht werdet ihr euch kurz einig, aber wacht endlich auf, setzt ein sichtbares Zeichen der Einheit, denn sonst ist alles nur notdürftiges Flickwerk, das ich auf mich nehme, weil es meine verdammte Pflicht ist.“

Dmowski kniff in diesem entscheidenden Moment: „Auch ich habe mein ganzes Leben Polen gewidmet. Ich habe die Vorwürfe nicht vorgebracht und halte sie nicht aufrecht, damit Sie abtreten, ich würde Sie bitten zu bleiben, aber in der Armeeführung werden Fehler gemacht, die die Leute demotivieren. Aber ein Mensch kann nicht alles machen.“ In der für den Kriegsausgang entscheidenden Abstimmung stimmte Dmowski dafür, dem Oberbefehlshaber das Vertrauen auszusprechen. Einen Tag später trat er aus dem Nationalen Verteidigungsrat zurück. Der uns schon bekannte Nationaldemokrat Zdanowski kommentierte: „Nachdem Dmowski Piłsudski im Verteidigungsrat ausgeschimpft hatte, stimmte er später dafür, ihm das volle Vertrauen auszusprechen. Und wieder: Er hätte ihn entweder nicht ausschimpfen oder hinterher nicht an der Abstimmung teilnehmen dürfen.“64

Was Dmowski allerdings nicht wusste und woran Piłsudski als Retter des Vater landes nicht erinnern wollte: So schmerzlich die Attacken der roten Kavallerie an den Flanken und im Rücken der zurückweichenden polnischen Truppen waren, so effektiv war die Arbeit einiger Spezialisten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben die russischen Geheimcodes zu entschlüsseln.65 Die Polen wussten, wo sich die Einheiten der Roten befanden und welche operativen Ziele sie verfolgten. Umgekehrt wussten die Roten nichts über die polnischen Truppenbewegungen. Manchmal wiegt die Arbeit einiger Fachleute mehr als die Millionen Kilometer, die mehrere Hunderttausend Infanteristen im Bewegungskrieg zurücklegen.

Der Rest der Geschichte des Kriegs von 1920 ist schnell erzählt.

Die bolschewistischen „Armeen“, die im Norden die geschwächten Einheiten von General Władysław Sikorski – dem heimlichen Helden dieses Sommers – angriffen, verloren ihre Funkgeräte. Sie schlugen blind zu und unterlagen in zahlreichen kleinen Gefechten, bis sie schließlich auseinanderfielen: Wer nicht in polnische Gefangenschaft geriet, ging über die ostpreußische Grenze und ließ sich internieren.

Vor Warschau waren die Polen gut vorbereitet. Obwohl die Rote Armee dreimal Radzymin eroberte, drang sie nicht bis zum östlichen Warschauer Stadtteil Praga vor. Der Tod des Priesters Ignacy Skorupka, der die Soldaten zum Gegenangriff führte, trug das Seine bei: Er verband den Kampf um ein unabhängiges Polen mit dem dominierenden Glauben. Aus Sicht der römisch-katholischen Kirche hätte man sich kein besseres Symbol wünschen können.

Piłsudski versetzte Tuchatschewski den entscheidenden Stoß. Er zog einige Divisionen östlich der Weichsel zusammen. Am 16. August griff er von Süden an. Die Rote Armee wurde komplett überrumpelt. Sie verhielt sich genau so, wie de Gaulle den Krieg 1920 beschrieben hatte: Wenn der Gegner die Initiative übernahm, blieb nur der Rückzug, der sich in Flucht verwandelte. Die Polen rückten ebenso schnell nach Osten vor wie die Bolschewiki in den Wochen zuvor nach Westen.

Ende August wurde schließlich Budjonnys Reiterarmee besiegt. Im Herbst siegten die Polen noch einmal in der sogenannten Schlacht an der Memel. Beide Parteien waren nach dem fast ein halbes Jahr andauernden Bewegungskrieg, in dem schon im Sommer auf beiden Seiten Stiefel und Uniformen fehlten, völlig erschöpft. Am 12. Oktober wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der sechs Tage später in Kraft trat. Am 18. März 1921 wurde in Riga der Friedensvertrag zwischen dem bolschewistischen Russland und der Republik Polen unterzeichnet. Es verdient ein eigenes Buch zu den polnisch-sowjetischen, polnisch-ukrainischweißrussisch-litauischen und nicht zuletzt polnisch-polnischen Beziehungen.66 Polen brauchte dringend einen Friedensschluss (und eine Verfassung, die am Tag zuvor verabschiedet wurde), um sich am 20. März bei der Volksabstimmung in Schlesien als stabiler Staat zu präsentieren, der imstande war, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Der Verlauf der Grenzen spielte in diesem Kontext keine größere Rolle.

Ohne ins Detail zu gehen: Die Polen erreichten in Riga mehr oder weniger das, was sie schon 1919 hätten erreichen können. Die Ukraine und Weißrussland wurden zwischen den beiden benachbarten Großmächten aufgeteilt. Litauen ließ sich nicht aufteilen, doch es verlor Wilna und das Umland. Die polnischen Ostgrenzen entsprachen weder Piłsudskis noch Dmowskis Erwartungen. Piłsudskis Konzeption eines von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichenden Staatenbundes mit Polen als Kern durchkreuzte der Friedensvertrag von Riga ebenso wie Dmowskis Idee, der ein zu großes Polen ablehnte; in der Volkszählung von 1921 stellte sich heraus, dass jeder dritte Bürger der Republik Polen weder Pole noch römisch-katholischer Konfession war.

Doch letztlich siegte Piłsudski. Er schuf im August 1920 den Gründungsmythos der neuen polnischen Republik, indem er den ursprünglichen Angriffskrieg zur heldenhaften Verteidigung der Eigenstaatlichkeit gegen die bolschewistischen Horden umdeutete. Der Frieden von Riga stabilisierte die gesamte Region – die Unabhängigkeit der baltischen Staaten wäre ohne das in der lettischen Hauptstadt unterzeichnete Abkommen kaum vorstellbar gewesen.

Erst jetzt – und nicht am 11. November 1918, an dem sich nichts Wichtiges ereignete – wurde Piłsudski zum Gründungsvater der Zweiten Polnischen Republik.

Der vergessene Weltkrieg

Подняться наверх