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Ungarn

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Der Intellektuelle Oszkár Jászi, ein kluger Kommentator und prominenter Beteiligter der Ereignisse der Jahre 1918/19, schrieb ein Jahr später in seinen Erinnerungen, man könne – sofern man an die geschichtliche Wirkmacht des Individuums glaube – István Tisza als Vater und Oberstleutnant Fernand Vix als Taufpaten des ungarischen Bolschewismus betrachten.25 Zur Erklärung: Tisza war bis Mai 1917 ungarischer Ministerpräsident; Vix, Chef der französischen Militärmission in Budapest, überbrachte der Regierung am 20. März 1919 das Ultimatum der Alliierten, das zum Rücktritt der demokratischen Regierung und tags darauf zur Machtübernahme durch die Kommunisten führte.

Jászi irrte, indem er Tisza und Vix als Köpfe der feindlichen Mächte darstellte. Im übertragenen Sinn gilt seine Diagnose aber bis heute. Sie verweist nämlich auf die zwei Hauptverantwortlichen für das Scheitern der liberalen Revolution in Ungarn: die Konservativen, die sich allen ernsten Reformen des Königreichs widersetzten und der in den letzten Oktobertagen 1918 entstandenen demokratischen Regierung Steine in den Weg legten, sowie die Entente, deren Ultimatum den Demokraten den Rest gab. Und irgendwo zwischen der berechtigten Anklage auf allgemeiner Ebene und der falschen Personifizierung des Übels liegt der Schlüssel zum Verständnis der ungarischen Tragödie des Jahres 1919.

Nach dem Ausgleich mit Wien 1867 erlebte das Königreich Ungarn eine Blütezeit, obwohl ein Teil seiner politischen Eliten dies nicht wahrhaben wollte. Die herrschende Nation war in den weitläufigen Grenzen Transleithaniens zwar die größte Volksgruppe, an den Rändern aber nur eine Minderheit im Verhältnis zu den Kroaten in Kroatien, den Serben in der Wojwodina, den Rumänen in Siebenbürgern, den Slowaken in Oberungarn oder den Ruthenen in Transkarpatien. Die von fast allen Parlamentariern und einer großen Mehrheit geteilte Staatsräson des Königreichs beruhte auf der Magyarisierung der Minderheiten (inklusive der in den Städten lebenden Deutschen und Juden) sowie auf der drakonischen Bestrafung jeglicher Form von Separatismus. Die Idee der Transformation des Einheitsstaats in ein föderales Gebilde, die vor 1914 unter anderen von Jászi ins Spiel gebracht worden war, prallte am politischen Mainstream ab.

Das Problem der Minderheiten, die faktisch die Mehrheit (laut dreist gefälschten amtlichen Statistiken die Hälfte) der Bevölkerung stellten, hatte unter anderem auch Konsequenzen für die Frage des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts. In Cisleithanien, dem österreichischen Teil der Monarchie, wurde es 1907 eingeführt. In Ungarn, wo ein Zensuswahlrecht galt, waren nur acht Prozent der Einwohner stimmberechtigt, die überwiegende Mehrheit davon waren Ungarn. Die von ihnen gewählten Delegierten lehnten unabhängig von der Parteizugehörigkeit eine Wahlrechtsreform ab und hielten so die Vertreter der Minderheiten und die Sozialisten von der legislativen Macht fern. Als Symbol dieser Politik galt völlig zu Recht Graf István Tisza.26 Der Sohn des Ministerpräsidenten der Jahre 1875–90 und Gründer der Liberalen Partei amtierte in den Jahren 1903–05 und 1913–17 selbst als Ministerpräsident des Königreichs Ungarn. Nach seinem Rücktritt im Mai – der neue ungarische König Karl IV. wollte wirklich eine Wahlrechtsreform – blieb er als eigentlicher Anführer der Parlamentsmehrheit in der Politik. Als überzeugter Konservativer kämpfte er konsequent gegen Sozialisten, Minderheiten und die Pläne zur Föderalisierung des Königreichs. Zugleich war er eine Gallionsfigur des Dualismus, das heißt – in den Augen der Unabhängigkeitspartei, die in ihrem Programm die Befreiung von den angeblichen österreichischen Fesseln forderte – dem ewigen ungarischen Scheitern. 1918 erinnerte sich kaum jemand daran, wie viele Zugeständnisse er als Ministerpräsident Wien abgerungen hatte. Stattdessen kritisierte man seinen – übrigens aufrichtigen – Standpunkt, Ungarn könne seine Grenzen und seinen halbimperialen Status nur als zweites Glied der k. u. k. Monarchie bewahren. In Jászis metaphorischer Darstellung war Tisza als Ministerpräsident im Sommer 1914 für Ungarns Kriegseintritt verantwortlich. Dabei hatte gerade Tisza im letzten Friedensmonat eine ganze Woche versucht, seine Wiener Kollegen von einem Feldzug gegen Serbien abzuhalten, der sich – so Tiszas Auffassung – von einer scheinbar sicheren Strafexpedition in einen europäischen Krieg verwandeln könne. In einem solchen Krieg könne Ungarn faktisch nur verlieren, selbst wenn es ihn gewinne. Trotzdem wurde er in den folgenden vier Jahren zum Sinnbild eines Kriegstreibers und zum Schuldigen an allem magyarischen Unglück.

Zunächst hielt es sich noch in Grenzen, denn Ungarn überstand den Ersten Weltkrieg etwas besser als die meisten anderen beteiligten Staaten. Nur Siebenbürgen, also ein kleiner Teil des Königreichs, geriet unter feindliche Besatzung – und auch das nur für Tage und Wochen, nicht Monate oder Jahre. Die Niederlagen der k. u. k. Armee trübten nicht den Nationalstolz – das Kommando führten ja Österreicher –, Siege hingegen boten Anlass, die Tapferkeit der Honveds in den Himmel zu heben. Soldaten ungarischer Nationalität fielen nicht häufiger und gerieten nicht öfter in Gefangenschaft als die in denselben Einheiten kämpfenden Slowaken, Rumänen oder Kroaten. Auf dem Land ging das Leben in großen Teilen normal weiter. Anders als in Cisleithanien wurde das Parlament nicht aufgelöst, sondern arbeitete fast wie zu Friedenszeiten, was immer das bedeutete – das Abgeordnetenhaus in Budapest war seit Jahren für Zwist und Demagogie berüchtigt, die an das skandalöse Gebaren der Wiener Abgeordneten vor dem Krieg erinnerten. Im Juli 1916 spaltete sich die Unabhängigkeitspartei, ein Teil der Abgeordneten verließ die Parlamentsfraktion. Ihr Anführer wurde der Großgrundbesitzer, Glücksspieler und Verschwender Graf Mihály Károlyi, ein Gegner Wiens und Anhänger der Entente, der zugleich als Pazifist und Liberaler bekannt war. Nach Tiszas Rücktritt – des wichtigsten Gegners allgemeiner Wahlen und der dominierenden Gestalt in der ungarischen Politik – arbeiteten die schnell wechselnden neuen Regierungen an einer Reform des Wahlrechts. Es wurde viel über dieses Thema geschrieben und diskutiert. Der Berg gebar jedoch eine Maus. Das Wahlgesetz von Juli 1918 erweiterte den Kreis der Stimmberechtigten um 13 Prozent der Bevölkerung. Tisza hielt auch das für zu viel, doch er akzeptierte den „Kompromiss“ – der eigentlich ein weiterer Sieg war – aus Verpflichtung gegenüber den Soldaten an der Front mit dem Ziel, dass „diese Patrioten zum Schutz der auf dem Spiel stehenden Interessen des Vaterlandes einander während und nach dem Krieg die Hand reichen können“27.


Mit der Herrschaft Karls IV. waren auch Hoffnungen verbunden. Auf dem Foto segnet ein Rabbiner das Königspaar während eines der letzten Besuche in Pressburg 1918.

Er kontrollierte noch immer die parlamentarische Mehrheit. Károlyi hingegen verbrachte einen großen Teil des Sommers auf seinen Landgütern. In Budapest standen die Leute Schlange nach Brot, es wurde viel von Hunger geschrieben – vielleicht deshalb, weil die Verfasser der anklagenden Artikel lange nicht in Berlin oder Wien gewesen waren. Von Zeit zu Zeit brachen Streiks aus. Die im Parlament nicht vertretene, in den Budapester Fabriken dominierende und deshalb als politische Macht angesehene sozialistische Partei hatte es indessen nicht eilig mit der Revolution. Das russische Beispiel radikalisierte nur einen Teil der Arbeiter und Intellektuellen. Gewerkschaftsführer und sozialistische Politiker wollten diesem Vorbild nicht folgen.

Im Juni ging die schlecht ausgerüstete und geführte, nicht mehr an den Sieg glaubende österreichisch-ungarische Armee am Piave zur Offensive über. Die Artillerie verfügte über fünf Geschosse pro Geschütz, am Ende standen weitere 150.000 Verwundete, Gefallene und Gefangene. Zur selben Zeit rief Tisza im Parlament zum weiteren Kampf auf.

Im September war auch den größten Optimisten klar, dass der Krieg verloren war. In Ungarn zählte man noch immer auf den US-Präsidenten: Dessen Aufruf vom Januar 1917 zu einem „Frieden ohne Sieger“ hatte große Hoffnungen geweckt, seine ein Jahr später veröffentlichten 14 Punkte sahen zwar die Auflösung der Monarchie, aber nicht Ungarns vor. Die Politiker in Budapest entwarfen fantastische Pläne – etwa die Vereinigung der Südslawen im Rahmen des Königreichs –, bevor sie sich zur Aufkündigung der Realunion mit Österreich entschieden und als einziges verbindendes Element die Person des gemeinsamen Monarchen anerkannten. Am 17. Oktober gestand Tisza im Parlament die Niederlage ein. Der ehemalige Ministerpräsident appellierte angesichts des Zerfalls nicht nur der Monarchie, sondern auch des eigenen Staates an die Verantwortung der politischen Klasse, die er verkörperte. 90 Prozent der Delegierten, so Tisza, begriffen nicht, was für ein Drama sich abspiele, und benähmen sich wie im Kindergarten.

Am 23. Oktober vollzog Tisza die größte Kehrtwende in seinem Leben. Um die territoriale Integrität Ungarns zu wahren und die Sozialisten zu neutralisieren, stimmte er der Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu. Doch es war zu spät: Die Vorstellung, dass Kroaten und Rumänen freiwillig Untertanen Budapests blieben, weil es endlich ihre Staatsbürgerrechte anerkannt hatte, war in der letzten Oktoberwoche 1918 reines Wunschdenken. Ebenso wenig ließen sich die Sozialisten durch die Wahlrechtsreform befrieden – sie wollten die Macht, und zwar ohne kompromittierte Politiker wie Tisza und seine 90 Prozent Kindergartenkinder.

Am 30. Oktober erklärten sich die Ungarn für unabhängig. Sie waren nicht die Ersten, die Kroaten hatten diesen Schritt schon am 19. Oktober vollzogen. Zum Symbol der Revolution wurden die im Herbst blühenden Astern, die sich die Anhänger des neuen Systems an die Hüte steckten. Ministerpräsident der neuen Koalitionsregierung, an der auch die Sozialisten beteiligt waren, wurde Károlyi. Doch, obwohl die demokratische und nationale Revolution friedlich vollzogen wurde, zerfiel der Staat. Im Süden erholte sich das feindliche Serbien, im Osten das ebenso feindliche Rumänien, beide Länder als Mitglieder der Entente. Im Norden, im scheinbar weit entfernten Prag, wurde am 28. Oktober die Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Die meisten Ungarn wussten vermutlich nicht, dass das schon immer zum Königreich gehörende Oberungarn für andere die Slowakei war. Am 13. November wurde in Belgrad der Waffenstillstand zwischen der Entente und Ungarn unterzeichnet. Die Vereinbarung legte im Osten und im Westen eine von den historischen Grenzen abweichende Demarkationslinie fest: Rumänen und Serben sollten im Namen der Entente einen Teil des Grenzgebiets besetzen. Über die Nordgrenze sagte das Dokument nichts. Dass Frankreich der Prager Regierung die Slowakei versprochen hatte, blieb vorerst geheim. In den folgenden Wochen überschritten rumänische und serbische Truppen die in Belgrad festgelegte Demarkationslinie und drangen auf ungarisches Territorium vor. Tschechen und Slowaken besetzten die Slowakei.

Auch im Inneren zerfiel der Staat, schlimmer noch, die gesellschaftliche Ordnung löste sich auf. Bauern und Landarbeiter stellten Forderungen an die Grundbesitzer, Diener schnauzten ihre Herren an. Wie sich der Ton zwischen den Ehemännern, die nach Jahren von der Front heimkehrten, und ihren Ehefrauen, die in dieser Zeit die Familie versorgt hatten, änderte, wissen wir nicht. Ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene sollten sich bald als schlimmste Aufrührer erweisen. Viele der Gefangenen kamen aus Russland zurück. Ein Teil hasste die Bolschewiki, ein Teil sah sie als Vorbild. In einem Punkt waren sich beide Gruppen einig: Nur durch radikale Veränderungen ohne Rücksicht auf Wahlergebnisse könnten Ungarns Probleme – Ungleichheit, Ausbeutung, Exklusion und Armut – gelöst werden. Unter den Agitatoren tat sich Béla Kun hervor, der als Rekrut zur Armee eingezogen wurde und sich – ehe er in russische Gefangenschaft geriet – zum Feldwebel hochdiente, was angesichts der großen Verluste keine Sensation war, aber doch für den Soldaten sprach. Wie viele andere Agitatoren stammte Kun aus einer jüdischen Familie. Am 24. November entstand die Ungarische Kommunistische Partei. Ihre vorerst wenigen, aber lauten Anhänger betrachteten die Demokratisierung bestenfalls als Zeitverlust. Wie die Bolschewiki in Russland wollten sie die Macht der bisherigen Eliten hier und jetzt brechen.

Für die sogenannten Unabhängigkeitsparteien verbesserte der sichtbare Niedergang der Habsburgerdynastie die Chancen auf eine Loslösung von Wien, das seit Jahrzehnten als Hauptfeind und Hindernis auf dem Weg zur Unabhängigkeit galt. Die Unabhängigkeit wiederum betrachteten sie als Allheilmittel gegen alle inneren Probleme Transleithaniens. Im Grunde waren sie ebenso realitätsfern wie die Liberalen. Die Radikalität der Kommunisten sicherte ihnen einige Monate später die Rückkehr auf die politische Bühne, als die Frage der Beziehungen zu Wien schon im Archiv der Diplomatiegeschichte gelandet war.

In Ungarn verlief der Konflikt zwischen Kommunisten und dem Rest des Landes grundsätzlich nicht hitziger als in den baltischen Ländern. Dennoch kam hier ein Faktor hinzu, der auch in den anderen Ländern existierte, dort aber vor 1914 kaum zu vergleichbaren Konflikten geführt hatte: das Verhältnis zu den Juden. Nicht von ungefähr haben wir die jüdischen Wurzeln des Gründers der Ungarischen Kommunistischen Partei erwähnt. Ihre Entstehung überlagerte Trennlinien, die deutlich älter als die 3. Internationale waren. Traditionell waren die Armee und der Staatsapparat Domänen der „christlichen“ Eliten, Wirtschaft und freie Berufe hingegen wurden von Jüdischstämmigen und Juden dominiert. Diese ungeschriebene soziale Einteilung wurde seit der Jahrhundertwende umso häufiger infrage gestellt, je mehr sich der Gegensatz zwischen der Moderne (symbolisiert durch den „Sündenpfuhl“ Budapest) und dem Ideal des Ständestaates (verwurzelt im Grundbesitz und im Dorf) kristallisierten. Tisza versuchte bis zuletzt, die sich vor seinen Augen auftuende Kluft zu schließen – der Antisemitismus schade dem öffentlichen Leben Ungarns,

[…] weil er an sich ungerecht und falsch ist. Denn über jeden einzelnen Menschen muss anhand seines individuellen Wertes geurteilt werden und man darf weder anhand der Konfession noch der Nationalität allgemeine, für jeden gleich geltende Urteile über die Mitglieder jeglicher Gruppen fällen.

Gleichwohl, so Tisza weiter:

Das Problem ist bei uns, dass in den […] beruflichen Zweigen, in denen die mit dem Krieg verbundenen Anomalien meistens auftreten, zum großen Teil Juden angestellt sind, so auch ein Großteil der schrecklichen Taten, die begangen werden, von Juden begangen wird. So stehen wir unbestreitbar der Gefahr gegenüber, dass diese verständliche und berechtigte Empörtheit und Verzweiflung, die sich gegen diese Taten und Täter richtet, sich auf eine ganze Konfession richten wird.

Dagegen müsse man ankämpfen:

Gegen diese Ansichtsweise muss meiner Meinung nach Stellung genommen werden., und jeder muss dagegen kämpfen. Wir müssen auch durch die Aufklärung des Volkes in die Richtung wirken, dass man keine konfessionelle, nationale Frage darin sieht, und dass sich die berechtigte Wut, die sich gegen dieses schreckliche und feige Verhalten richtet, nicht auf eine ganze Nationalität oder Konfession ausgebreitet wird.28

Im Augenblick der Niederlage im Herbst 1918 verstummte die autoritative, vernunftgeleitete Stimme des erfolgreichsten ungarischen Konservativen. Er wurde am 31. Oktober in seinem Haus von Revolutionären erschossen, die in ihm das Symbol aller Verfehlungen der bis dahin herrschenden Klasse sahen.

Das war eine Zäsur. Jeder der umrissenen Konflikte wurde noch intensiver und impulsiver empfunden. Und vor allem wurden sie unvergleichlich stärker als vor dem Ersten Weltkrieg miteinander verknüpft. Der Streit um die Bestimmung der Ungarn, um die Gestalt ihrer Gemeinschaft und ihres Staats wurde zu jedermanns Sache und auf der Straße ausgetragen.

Die allgemein für die Kriegskatastrophe verantwortlich gemachten Konservativen hatten keine Idee, wie man der Radikalisierung der Straße entgegenwirken könnte. Arbeiter, Soldaten, Heimkehrer aus der russischen Gefangenschaft, aber auch andere Städter versammelten sich ohne behördliche Genehmigung, hielten staatsfeindliche Reden, skandierten „Frieden!“, „Brot!“, „Freiheit!“, „Unabhängigkeit!“ und riefen „Nieder mit den Habsburgern!“ Bis zum 31. Oktober war natürlich auch der Ruf „Nieder mit Tisza!“ zu vernehmen.

Der neue Ministerpräsident Károlyi versuchte, die zahlreichen Brandherde zu löschen – Streiks, Unruhen und Drohungen. Am 16. November erklärte Ungarn sich zur Republik. Die Sozialisten drängten den Ministerpräsidenten, das Land s0 schnell wie möglich zu reformieren. Angesichts des faktischen Zerfalls des Staatsapparats stellte sich die allgemeine Lage aus Sicht der Regierung höchst unsicher dar. Zur äußeren Bedrohung – Kroaten, Rumänen und Slowaken konnten auf mehr als die Unterstützung Serbiens, Rumäniens und der frisch gegründeten Tschechoslowakei zählen – kam die innere Bedrohung. Károlyis Kabinett kämpfte an mehreren Fronten gleichzeitig. Durch Verhandlungen mit den Nachbarn versuchte man die territorialen Verluste zu minimieren. Die Konservativen warfen dem Ministerpräsidenten vor, er schaffe zwar ein „westliches“ System, das seinen Protektoren in Paris gefallen müsse, doch gerade seine Nachgiebigkeit habe es der tschechoslowakischen und der rumänischen Armee ermöglicht, kampflos die Slowakei und Siebenbürgen zu besetzen. Um die Situation doch noch zu retten, vergrößerte das Kabinett doch noch seine parlamentarische Basis und bezog die Kleinlandwirte-Partei in die Regierung ein. Die im Grunde konservative Formation vertrat die Bauern, die Land – das heißt eine umfassende Bodenreform – forderten. Ein polnischer Offizier fasste die ersten Wochen des Jahres 1919 folgendermaßen zusammen:

Die Regierung wankt. Die Radikalen verachten Károlyi, die Rechten hassen ihn. Die Regierung hat nichts zu sagen, nur in Budapest findet sie etwas Gehör. Budapest ist ein Ameisenhaufen, die Menschen zwängen sich in enge Wohnungen, die überfüllt sind von Juden aus der Provinz, die vor den dort regelmäßigen Pogromen flüchten, von Grundbesitzern und demobilisierten Soldaten. Für Ordnung in der Stadt sorgen die alte Polizei und die Bürgergarde, in die nacheinander alle Einwohner einberufen werden. Die breiten Massen sind von der Regierung enttäuscht, weil die Versorgung miserabel ist und die Preistreiberei weiter blüht. Oberstleutnant Vix hält die Macht in der Hand und diktiert seine Forderungen. Im Nationalrat wächst der Zwist. In Budapest die antisemitische Stimmung. Die Überfälle auf jüdische Geschäfte häufen sich. Man gibt den jüdischen Ministern die Schuld an der so umfangreichen Besatzung […]. Das Offizierskorps ist untätig, verbittert, drängt zum Kampf gegen den äußeren Feind. Die Offiziere erklärten Minister Jászi auf einem Treffen von Offiziersdelegierten der einzelnen Formationen (die in Wirklichkeit nicht existieren), Ungarn habe keine Armee, die demobilisierten Truppen plünderten die Lager und verkauften die Beute an Händler. Die noch bestehenden Offizierslegionen wurden von der Regierung aufgelöst Die Armee ist politisiert, in den Kasernen finden Versammlungen statt, es gibt Schießereien mit Verwundeten und Toten. Manche Einheiten demonstrieren für die Regierung, andere dagegen.29

Die Regierung versuchte die Anarchie zu bändigen. Im Februar wurden die führenden Aktivisten der Ungarischen Kommunistischen Partei und ihr Anführer Béla Kun verhaftet. Die demokratischen Parlamentswahlen wurden auf den April terminiert.

In diesem Augenblick betrat der schon zweimal erwähnte Oberstleutnant Vix die Arena. Er teilte der Regierung mit, Ungarn müsste noch mehr abtreten, als die wortbrüchige Entente und die Nachbarn dem Land bisher genommen hätten. Die Regierung Károlyi gab nach. Im Kapitel über den Versailler Vertrag zitieren wir die einige Wochen später gehaltene Rede des deutschen Reichskanzlers: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“ In Budapest fiel am 20. März anscheinend kein ähnlich dramatischer Satz, zumindest ist nichts dergleichen überliefert; alle waren todmüde. Die Regierung der Reformer, der niemand eine große Chance gegeben hatte, trat ab. An ihre Stelle traten die ungarischen Bolschewiki unter Kuns Führung. Sie begingen alle nur denkbaren Fehler, worauf wir an anderer Stelle zurückkommen. Der größte war vielleicht der fehlende Ernst, der sich in der grotesken Überbetonung der Form gegenüber dem Inhalt manifestierte. Die Rote Armee hatte weder Stiefel noch Gewehre, doch zum 1. Mai wurden im Budapester Stadtzentrum alle aus kommunistischer Sicht unangemessenen Denkmäler mit rotem Stoff verhüllt. Am Heldenplatz traf es die monumentale Kolonnade ebenso wie die fast 40 Meter hohe Säule mit der Figur des Erzengels Gabriel. Auch das Honvéd-Denkmal wurde mit rotem Stoff verhüllt, darüber befestigte man ein Transparent mit der Losung: „Der rote Soldat kämpft nicht gegen seine proletarischen Brüder, sondern gegen das internationale Kapital“.30

In einem Punkt erreichte die Regierung Kun einen – wie sich rasch zeigen sollte – vorübergehenden Erfolg: Sie mobilisierte auch die Ungarn zum Kampf gegen den äußeren Feind, die unter anderen Umständen nicht unter der roten Flagge marschiert wären. Darüber hinaus rechnete sie mit der Hilfe der russischen, genauer gesagt: ukrainischen Bolschewiki. Diese wiederum zählten auf ungarische Unterstützung. Die einen wie die anderen ließen außer Acht, dass die polnische Offensive in Ostgalizien schon einen halbwegs stabilen Cordon sanitaire geschaffen hatte, der die beiden roten Armeen voneinander trennte. Selbst wenn die Bolschewiki die Kraft gehabt hätten, Ungarn zu helfen (sie hatten sie nicht, weil sie an mehreren Fronten gleichzeitig kämpften), so verfügten sie doch über keine einzige Bahnverbindung zwischen Kiew und Budapest.31 Am 30. Mai griff die Armee der Räterepublik die Slowakei an. In seinem Resümee des Feldzugs vermerkte der französische Botschafter später, er habe die analytischen Zweifel über die Gründe für die Schwäche der österreichisch-ungarischen Armee zerstreut: Die Rote Armee habe mit „merkwürdiger Leichtigkeit“ die Tschechen zum Rückzug gezwungen, also hätten die Ungarn den besten Teil der k. u. k. Armee gestellt.32 Allerdings hatte gerade der Botschafter Frankreichs nicht unbedingt das Recht zu solchen Aussagen. Die wahre Ursache für die anfänglichen Niederlagen der Tschechoslowaken waren nämlich Missverständnisse und Animositäten zwischen den französischen und italienischen höheren Offizieren an der Spitze der größeren Einheiten der neu geschaffenen Armee.

Die schlecht geführten Tschechoslowaken zogen sich so schnell zurück, dass die Regierung in Warschau sich fragte, was sie tun sollte, wenn Soldaten des südlichen Nachbarn die Karpaten überschritten. Polen wollte im Südosten unbedingt an Ungarn grenzen, nicht aber an eine Ungarische Räterepublik. Die Lösung des Dilemmas lieferten die Rumänen. Sie griffen Ungarn an, das den allergrößten Teil seiner Truppen in den Norden verlegt hatte und Die Räterepublik hatte der rumänischen Offensive nichts entgegenzusetzen.

Ziel der Offensive war Budapest. Am 31. Juli begann auch die tschechoslowakische Gegenoffensive. Am 3. August marschierten die Rumänen in Budapest ein. Kun und die anderen Regierungsmitglieder der Räterepublik flohen. Sie wussten, was sie zu erwarten hatten.

Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy lieferte eine knappe Zusammenfassung von Kuns Experiment:

Gut vertretbare soziale Gedanken, im größten Chaos, (verbunden) mit maßloser Dummheit und, euphemistisch gesagt, menschlicher Schwäche.33

Gyula Szekfű, ein konservativer Historiker mit gebrochener Biografie (es sei nur erwähnt, dass er als letztes öffentliches Amt die Position des Botschafters des kommunistischen Nachkriegsungarn in Moskau bekleidete), brachte es 1920 noch deutlicher auf den Punkt: Die Bolschewiki seien Bucharins Grundsatz gefolgt, demzufolge alle anderen zu vernichten seien.

Ihre Propaganda arbeitet mit Unwahrheiten […] und so immoralisch hat noch keine menschliche Propaganda gelogen wie diese […]. [E]s ist dieser Blutstrom, der alle Intellektuellen von ihrem Kommunismus trennt.

Anführer der Räterepublik waren „[j]ene Mitglieder der russisch-galizischen jüdischen Diaspora, die ihren Platz in der europäischen Gemeinschaft nicht gefunden haben“.34

Vermutlich flohen 100.000 Ungarn, also mehr als ein Prozent der Bevölkerung, vor dem roten Terror – dem „Blutstrom“, wie Szekfű leicht übertrieben schrieb – nach Österreich, darunter jeder fünfte Aristokrat und mehr als 10.000 Offiziere. 400–500 Menschen wurden ermordet, doch wie immer vervielfachte die Propaganda die Anzahl. Unterdessen verkündete am 5. Juni der frühere Adjutant Franz Josephs I., Vizeadmiral Miklós Horthy, als Kriegsminister der antikommunistischen Regierung eine freiwillige Rekrutierung zur ungarischen Nationalarmee. In kurzer Zeit meldeten sich 6500 Freiwillige, darunter 3000 Armee- und 800 Gendarmerieoffiziere. Bald umfasste die Nationalarmee 30.000 Soldaten, doch eine – im Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Stärke – große Rolle sollten die paramilitärischen Formationen spielen, die neben den regulären Einheiten existierten: Das Bataillon des Hauptmanns und späteren Oberstleutnants, Baron Pál Prónay, und das Bataillon Ostenburg. In Kecskemét, also unter rumänischer Besatzung, agierte die sogenannte Miliz von Iván Héjjas, dem Sohn eines reichen Bauern und Winzers.35

Während in den Bataillonen die Offiziere überrepräsentiert waren und man häufig auch Grundbesitzer antraf, diente in Héjjas’ Miliz ein Querschnitt der ungarischen Gesellschaft: Bauern, Beamte und Ladenbesitzer, Handwerker und ehemalige Unteroffiziere, ehemalige Polizisten und Landarbeiter. Theoretisch kämpften sie gegen die Bolschewiki, de facto erledigten sie als Auftragsmörder lokale Streitigkeiten. Sie plünderten und ermordeten bevorzugt Juden, kollaborierten intensiv mit den rumänischen Besatzern, raubten und entführten Menschen, um Lösegeld zu erpressen; in einer Nacht folterten und erschossen sie sechs Polizisten und nach dem Abzug der Rumänen aus Kecskemét organisierten sie regelrechte Massenexekutionen. Schätzungen zufolge ermordeten sie binnen neun Wochen rund 300 Zivilisten. In den folgenden Jahren kamen weitere 400 Morde hinzu.


Rumänische Patrouille in den Straßen von Budapest, 1919.

Der weiße Terror dauerte nach Kuns Niederlage noch mehrere Jahre an. Die Anzahl der Todesopfer wurde nie offiziell festgestellt. Vermutlich starben zwischen 1500 und 3000 Zivilisten. Zum Symbol der Machtübernahme durch die Weißen wurde der von Horthy auf einem weißen Pferd angeführte Einzug der Nationalarmee in Budapest am 16. November 1919. Die Stadt bot ein trauriges Bild. Die Rumänen hatten das ganze besetzte Gebiet geplündert und in der Hauptstadt war besonders viel zu holen gewesen. Der polnische Gesandte Graf Jan Szembek äußerte sich nach seiner Ankunft in Budapest schockiert über die Folgen der „barbarischen und […] für das Land äußerst zerstörerischen“ rumänischen Besatzung.36 Wohl kaum jemand ahnte, dass das Schlimmste – der Friedensvertrag von Trianon – noch bevorstand.

Der vergessene Weltkrieg

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