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Kapitel 1 Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

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Die wachsende Frustration und Kriegsmüdigkeit in der russischen Armee waren ein zentrales Thema der sowjetischen Geschichtsschreibung. Der Weg zur sozialistischen Revolution war für sie der wichtigste Aspekt dieser Zeit. Nicht nur für sie übrigens – Historiker neigen generell dazu, die Ursachen und Anfänge großer Umwälzungen so früh wie irgend möglich zu erblicken. Wenn es eine Explosion gab, musste zuvor schon etwas geschwelt haben. Für die Februarrevolution drängte sich ein solcher Zugang geradezu von selbst auf. Der sich verschärfende Konflikt zwischen „reaktionären“ Offizieren und einfachen Soldaten passte gut ins Bild der rebellierenden Arbeiter und Bauern im Hinterland. Beides schien geradewegs zu den zwei russischen Revolutionen hinzuführen.

Die zur Illustration angeführten Quellen, Briefe, Tagebücher und Fronterinnerungen der Jahre 1916–17 bestätigen auf den ersten Blick diese Interpretation. Zu Ostern 1916 gab es an der Ostfront in noch größerem Umfang Fälle von Verbrüderung zwischen den Soldaten der feindlichen Armeen als ein Jahr zuvor an der Nida. Wo es gelang, die Sprachbarriere zu überwinden, ging der Austausch von Waren oft mit pazifistischen Gedanken einher: „Wir schießen schon das dritte Jahr aufeinander. Vielleicht ist es Zeit, damit Schluss zu machen?“ Diese Äußerung eines russischen Soldaten illustriert die zunehmende Ablehnung weiterer Jahre des Kampfes. Kein Wunder, dass die zaristischen Offiziere derartige Begegnungen zu unterbinden versuchten.1

Eine aufmerksamere Lektüre vergleichbarer Zeugnisse weckt aber gewisse Zweifel. Natürlich wuchs angesichts der ungeheuren Verluste die Kriegsmüdigkeit in der russischen Armee ebenso wie die Frustration im Hinterland. Die Frage ist aber, ob die Enttäuschung stetig und gleichmäßig anwuchs und auf direktem Weg zum Ausbruch führte. Die schwankenden Stimmungen der Soldaten an der Front, die mal mehr, mal weniger zur Rebellion neigten, lassen etwas anderes vermuten. Zwar wuchs ihre Anzahl im Vergleich zu Kriegsbeginn, doch 1916 gab es nicht die geringsten Anzeichen für einen Zusammenbruch der russischen Front. Die Fortsetzung der oben zitierten Schilderung eines russischen Soldaten erklärt, warum:

– Zurück, oder ich lasse schießen …! – brüllt wütend der Offizier, der aus dem Graben herausschaut.

Die gebeugten Gestalten laufen schnell auseinander … Wieder herrscht Totenstille, als sei nichts geschehen. Es wächst nur die Wut auf den Offizier, der die so interessante Begegnung […] beendete.2

Das ist nur eines von zahlreichen Beispielen dafür, dass bis zum Frühjahr 1917 die russischen Offiziere ihre Untergebenen noch im Griff hatten. Nach Ansicht vieler Kommandeure hatte sich die Situation sogar etwas verbessert. Die seit Kriegsbeginn im Vergleich zu anderen Armeen hohe Anzahl von Desertionen stieg nicht weiter an, die Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage und zur schnelleren Rückführung von Deserteuren an die Front entfalteten die gewünschte Wirkung.3 Die Versorgung, die sich schon vor der Brussilow-Offensive deutlich verbessert hatte, funktionierte weiterhin viel effektiver als in den ersten zwei Kriegsjahren. Brussilow selbst, der an der Jahreswende 1916/17 viele Fronteinheiten besuchte, bemerkte:

[…] die Disziplin war noch immer ausgezeichnet und wenn wir nur eine Offensive unternommen hätten, so hätten die Soldaten ihre Pflicht sicher ebenso erfüllt wie 1916.4

Der russische Hauptmann Lobanow-Rostowski, der die Armee von einer sehr viel niedrigeren Rangstufe aus betrachtete, bestätigte rückblickend diese Einschätzung:

Ich kann kategorisch feststellen, dass die Armee, obwohl es bis zur Revolution nur noch sechs Monate dauerte, nie in einem besseren Zustand war. Wir hatten endlich genug technische Ausrüstung und Munition. In den Regimentern, die ich besuchte, war die Disziplin gut […], die Offiziere voller Optimismus. […]. Ganz gewiss gab es keine Depression, Defätismus oder Anzeichen der bevorstehenden Revolution.5

Waren die russischen Offiziere so erfreut über die Verbesserung der Versorgung und die neuen Waffen, dass sie die Anzeichen von psychischer Erschöpfung und Ungehorsam unter ihren Soldaten nicht bemerkten? Militärpsychologie und -psychiatrie entwickelten sich damals sehr dynamisch, das Interesse beschränkte sich nicht auf das Faradisieren von Patienten. Dennoch wurde vor der Revolution kein Zusammenbruch, keine psychologische Krise verzeichnet. Alexander Watson vertritt in seiner Untersuchung zur Kampfmoral an der Westfront eine Auffassung, die sicher auch Brussilow und Lobanow geteilt hätten: Massenhafter Ungehorsam war meist die Folge eines messbaren Mangels an Menschen, Ausrüstung, Versorgung und Erholung. Momentane Stimmungen und kollektive Psychosen hatten konkrete Ursachen, über Sieg und Niederlage entschieden letztlich „nicht die ‚besseren Nerven‘, sondern die bessere Versorgung“.6

Aus diesen Beobachtungen lässt sich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Die Revolution gelangte aus dem Hinterland an die Ostfront. Wären die Soldaten komplett von den hungernden und darbenden Familien im Land abgeschnitten gewesen, hätte die Armee die Disziplin sicher deutlich länger aufrechterhalten können, vielleicht sogar „bis zum letzten Mann“. Ohne demoralisierende Nachrichten aus der Heimat wären Ausdauer und Loyalität der Vaterlandsverteidiger länger intakt geblieben. Heißt das, dass die russische und die übrigen imperialen Armeen (sowie die nationalen Streitkräfte Bulgariens, Serbiens, Griechenlands und Rumäniens) wirklich bis zum Schluss, also bis zum Zusammenbruch der Dynastien der Romanows und der Habsburger, ihre Geschlossenheit bewahrten? Konnten sie den wachsenden Unwillen der Soldaten beherrschen, die nicht länger in einem Krieg sterben wollten, dessen Ziel mit der Zeit keineswegs klarer und überzeugender wurde? Die Antwort auf diese Fragen führt uns zum Wesen des Wandels vom Krieg der Imperien zum Krieg der Nationen. Und wie so oft im Falle großer Veränderungen ist diese Antwort zweifelsohne komplex.

Der vergessene Weltkrieg

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