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Litauen

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Litauen stand ab Sommer 1915 unter deutscher Besatzung. Die katastrophalen Auswirkungen von Krieg und Besatzung auf die Lebensumstände der Stadtbevölkerung haben wir im ersten Teil geschildert. Gleichwohl wollten die Deutschen die Litauer nicht aushungern; sie wollten ihnen einen Staat – genau genommen einen Satellitenstaat des Deutschen Reiches – schenken. Im September 1917 entstand der Litauische Staatsrat (Lietuvos Taryba) unter dem Vorsitz von Antanas Smetona. Wie Päts und Ulmanis war der mit der Tochter einer litaunisierten polnischen Grundbesitzerfamilie verheiratete Bauernsohn, Sozialaktivist und Verschwörer, Stilist und Übersetzer griechischer Klassiker eine herausragende Persönlichkeit. Nun musste er sich als Regierungschef eines weiteren Staates bewähren, der von deutschen Gnaden entstanden war und anfangs ohne alles dastand.

Die Situation war in einigen Punkten anders als in Lettland und Estland: Litauen hatte nur eine kleine Intelligenz, von einem Bürgertum ganz zu schweigen. Feinde waren nicht Russen und Deutsche, sondern Russen und Polen. Die ersehnte Hauptstadt Wilna war 1914 eine polnisch-jüdische Stadt. Während des Kriegs stieg der Anteil von Litauern infolge des Zustroms von Flüchtlingen aus der Umgebung, doch das Problem blieb bestehen. Großen Einfluss unter jüdischen Intellektuellen und Arbeitern hatte der Bund, der einem litauischen Staat eher skeptisch gegenüberstand. Estland und Lettland besaßen nach der spezifischen Parzellierung – ein Teil der russischen Gouvernements wurde Estland zugeschlagen, ein anderer Teil Lettland – fast eindeutige ethnische Grenzen (sofern davon in diesem Teil Europas überhaupt die Rede sein konnte). In Litauen erwies sich der Konflikt mit Polen um Wilna als unlösbar. Das Selbstbestimmungsrecht wirkte im historischen Zentrum des Landes gegen den entstehenden Nationalstaat. Zudem gab es in Litauen deutlich weniger Kriegsteilnehmer als in den nördlichen Nachbarländern. Seit 1915 war niemand zur Armee eingezogen worden.

Die Parallelen zu Lettland und Estland lagen an anderer Stelle. 1917 und 1918 hatten die Deutschen hier ihre Politik der Schaffung von Vasallenstaaten unter der Herrschaft eines aus dem Deutschen Reich importierten Fürsten begonnen. Im Dezember 1917 erklärte der Staatsrat Litauen zum souveränen Staat und zugleich zum Verbündeten Deutschlands. Nach einigen Wirrungen und dem „Eisenbahnfeldzug“ (siehe S. 165ff.) erkannte das Deutsche Reich im März gnädig das Selbstbestimmungsrecht der Litauer an. Auf Beschluss des Staatsrats sollte wieder ein (diesmal katholischer) deutscher Fürst inthronisiert werden und als Mendog II. das Land regieren. Der Staatsrat selbst beendete diese Farce allerdings, indem er noch vor dem 11. November 1918 seine Entscheidung annullierte.

An der Jahreswende 1918/19 standen die Chancen für die Verwirklichung der Idee eines litauischen Staates eher schlecht. Man hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Erklärung liefert ein Blick auf den Waffenstillstand von Compiègne. Die Westmächte wussten, dass nur die deutsche Armee im früheren Westen Russlands Europa von der bolschewistischen Revolution trennte. Das war der Hintergrund von Artikel 12 der Waffenstillstandsvereinbarung.19 Während alle deutschen Truppen aus Österreich-Ungarn, Rumänien und der Türkei unverzüglich hinter die deutschen Reichsgrenzen vom 1. August 1914 zurückgezogen werden sollten, galt für die Garnisonen in den vormals russischen Gebieten eine Sonderregelung: Sie durften erst nach Deutschland zurückkehren, sofern die Alliierten „unter Berücksichtigung der inneren Lage dieser Gebiete“ den Zeitpunkt für gekommen erachteten. In der Praxis blieb der Passus wirkungslos. Er bezog sich nur nominell auf Polen, wo die Dynamik der Ereignisse ihn obsolet machte, noch bevor die Tinte auf der Waffenstillstandsvereinbarung getrocknet war. Die deutschen Soldatenräte von der Ukraine bis Weißrussland dachten ebenfalls nicht daran, Artikel 12 zu folgen. Für die baltischen Staaten hingegen bedeutete der Abzug der Pest in Gestalt des Besatzers ein hohes Risiko einer Ansteckung mit der Cholera in Gestalt der Revolution aus dem Osten. Die Roten hatten trotz allem bislang größere Konflikte mit deutschen Einheiten vermieden. Nun wendete sich das Blatt zuungunsten Lettlands und vor allem Litauens. Die deutsche 8. und 10. Armee – das Herzstück von Ober Ost – zogen sich aus den baltischen Ländern zurück, wobei sie nur dort kämpften, wo sie vom Gegner dazu gezwungen wurden. Der Kommandeur der 10. Armee, General Erich von Falkenhayn, meldete bereits am 22. Dezember nach Berlin, die völlig demoralisierten Soldaten könnten den Angriff auf Wilna nicht aufhalten. Am 5. Januar, also einen Tag nach der Eroberung Rigas, besetzten die Roten – es waren wirklich nicht viele, sicher weniger als 20.000 – die Stadt. Unterwegs lieferten sie sich Gefechte mit lokalen Einheiten der polnischen Selbstverteidigung. Das entstehende Litauen wurde zum Kampfplatz der abrückenden Deutschen, der von Osten her anrückenden roten (und später auch weißen) Russen, der Polen, der in einem eigenen Abschnitt beschriebenen „grünen Kader“ sowie von Räubern und Banditen jeglicher Couleur. Die in Kaunas amtierenden Beamten standen vor einer ebenso chaotischen Situation wie ihre Kollegen in Tallinn und Liepāja. Ein Gesandter aus Kaunas erklärte in Warschau dem polnischen Ministerpräsidenten Ignacy Paderewski und der Polnischen Telegrafenagentur (Polska Agencja Telegraficzna, PAT):

Die litauische Regierung organisiert eilig eine Staatsverwaltung, die sich so weit wie möglich auf die Selbstverwaltung stützt. Der Aufbau der litauischen Armee begann erst im Dezember des vergangenen Jahres. Trotzdem leistet sie den Bolschewiki bereits erfolgreich Widerstand. Die Deutschen, die in dieser Armee dienen, beteiligen sich nicht an Angriffen, sondern beschränken ihren Dienst auf die Verteidigung. Es wurden zwei Jahrgänge und alle Offiziere der ehem. russischen Armee mobilisiert […]. Die wirtschaftliche Situation des Landes ist schlecht. Es mangelt an Rohstoffen. In den Städten herrscht große Teuerung – die Preise sind zweimal höher als in Warschau.

Der litauische Diplomat fügte hinzu, die Beziehungen zwischen Litauern und Polen auf „litauischem Gebiet“ seien intakt:

[…] beide Völker litten gemeinsam unter der Unterdrückung durch die Deutschen. Während meiner Reise nach Warschau, die einige Tage dauerte, kam ich durch zig Dörfer, in denen man mir die Gräber von unschuldig erschossenen Menschen zeigte. Polen und Litauer wurden vor dieselbe Grube gestellt. Heute schlägt unseren beiden Völkern die Stunde der Freiheit.

Das war ein Irrtum. Zwei Wochen später schickte Paderewski eine rätselhaft klingende Depesche an Piłsudski (er zweifelte grundsätzlich an der Diskretion der französischen Chiffrierer, durch deren Hände die Korrespondenz zwischen Warschau und Paris lief): „Zum bekannten Plan kann ich heute entschieden sagen: Glück auf!“ Worin der Plan bestand, zeigte sich bald. Die Polen kamen schneller auf die Beine als die Konkurrenten. Am 16. April begann die Offensive gegen die Bolschewiki. Am 19. April besetzte die polnische Armee Wilna. Die Litauisch-Weißrussische Sowjetrepublik hörte auf, zu existieren. Drei Tage später veröffentlichte Piłsudski seinen Appell an die Einwohner des ehemaligen Großfürstentums Litauen:

Euer Land kennt seit mehr als einem Jahrhundert keine Freiheit, wird von feindlicher russischer, deutscher, bolschewistischer Gewalt unterjocht – von Gewalt, die, ohne das Volk zu fragen, ihm fremde Sitten aufzwang, seinen Willen bindet, oft sein Leben bricht. Dieser Zustand der andauernden Unfreiheit, den auch ich, der ich auf diesem unglücklichen Stück Erde geboren wurde, gut kenne, muss endlich überwunden werden und es müssen in diesem gleichsam von Gott vergessenen Teil der Erde Freiheit und das Recht zur freien, durch nichts gehinderten Artikulation von Wünschen und Bedürfnissen herrschen.

Die polnische Armee, die ich hierhergeführt habe, um die Herrschaft von Zwang und Gewalt zu beseitigen, um die Regierung zu stürzen, die das Land gegen den Willen des Volkes zu führt – diese Armee bringt euch allen die Freiheit.

Ich möchte Euch die Möglichkeit geben, Eure inneren nationalen und konfessionellen Angelegenheiten so zu regeln, wie es Euren Wünschen entspricht, ohne jeglichen Zwang oder Druck vonseiten Polens. Aus diesem Grunde auch setze ich – obwohl auf Eurem Boden noch die Geschütze donnern und Blut fließt – keine Militärverwaltung ein, sondern eine zivile, in die ich Einheimische berufen werde, Söhne dieser Erde.

Aufgabe dieser Zivilverwaltung wird es sein:

1) Es der Bevölkerung zu erleichtern, sich über ihr Schicksal und ihre Wünsche durch frei gewählte Vertreter zu äußern. Diese Wahlen werden auf der Grundlage einer gleichen, geheimen, allgemeinen, direkten und geschlechtsunabhängigen Abstimmung erfolgen.

2) Bedürftigen mit Nahrungsmitteln zu unterstützen, produktive Arbeit zu fördern, Ordnung und Ruhe zu gewährleisten.

3) Für alle zu sorgen, ungeachtet ihres Glaubens oder ihrer Nationalität. An die Spitze der Verwaltung stelle ich Jerzy OSMOŁOWSKI – an ihn direkt oder an die von ihm bestimmten Personen wendet Euch offen und ehrlich mit allen Wünschen und Angelegenheiten, die Euch schmerzen und betreffen.

J. PIŁSUDSKI.20

Es lohnt sich, den Appell äußerst aufmerksam zu lesen. Der ehemalige Sozialist Piłsudski gilt – genauso wie der zaristische General Carl Gustaf Mannerheim etwas weiter nördlich – absolut zu Recht als ein Mann des 19. Jahrhunderts. Der Text hat einen offensichtlich patriarchalischen Duktus: Der siegreiche Führer bringt seinen Quasilandsleuten – deren Sprache er nicht kennt – Freiheit (aber nicht Unabhängigkeit) und Demokratie. Der grundlegende Unterschied zu den deutschen Junkern in Estland und Lettland besteht darin, dass er nicht in ständischen Kategorien denkt. Er verspricht ein ebenso modernes Wahlsystem wie in Finnland, Polen, Österreich oder Deutschland, wo bereits Wahlen nach diesem Modus stattgfunden hatten. Zugleicht begreift er ebenso wenig wie die Baltendeutschen, dass die Zeit der Imperien bereits vorbei ist und dass sich mit der Besetzung der historischen Hauptstadt eines entstehenden Nationalstaates nicht nur das Großfürstentum Litauen als Teil einer neuen Adelsrepublik nicht wiederbeleben lässt, sondern auch eine normale nachbarschaftliche Beziehungen zwischen der Republik Polen und der litauischen Republik unmöglich wird.

Litauen überlebte das Katastrophenjahr 1919 und erstarkte. Woher nahm es die Truppen, mit denen es gegen Ende dieses Jahres die Bermondt-Armee von seinem Gebiet nach Ostpreußen zurückdrängte?

Der vergessene Weltkrieg

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