Читать книгу Der vergessene Weltkrieg - Maciej Górny - Страница 6

Einleitung: Die Februarrevolution – drei Revolutionen

Оглавление

Gavrilo Princip starb langsam und unter Qualen. Der Mörder Franz Ferdinands zeigte vor dem k. u. k. Gericht keine Reue. Er bedauerte lediglich den Tod der Erzherzogin. Das Gericht betrachtete ihn als nicht volljährig und verurteilte ihn „nur“ zu 20 Jahren schwerer Zwangsarbeit in der Kleinen Festung Theresienstadt. Seine Strafe verbüßte Princip in einer feuchten Einzelzelle, an eine Wand gekettet und isoliert von der Außenwelt. Die Tuberkulose, mit der sich vermutlich schon früher infiziert hatte, schritt rasch voran. Man amputierte ihm einen Arm. Am 28. April 1918, also noch vor Kriegsende, starb Princip im Alter von 24 Jahren. Er wusste nicht, dass er eine Lunte entzündet hatte, die halb Europa in die Luft jagen sollte.

Am 21. November 1916 starb mit 87 Jahren Kaiser Franz Joseph I., der 68 Jahre geherrscht hatte. Am 30. November wurden seine sterblichen Überreste in einem Trauerzug zunächst in den Stephansdom und anschließend in die Grabstätte der Habsburger, die Kapuzinergruft, überführt. Nicht nur die Anhänger der Monarchie fühlten sich verwaist. Der spätere sozialdemokratische Bundeskanzler Bruno Kreisky (er übernahm das Amt 1970), der damals fünf Jahre alt war, behielt von dem Begräbnis ein Gefühl von Einsamkeit und Leere im Gedächtnis.

Niemand konnte sich an einen anderen Herrscher erinnern. Auf dem Sterbebett soll der Kaiser seinem Kammerdiener die Sorge anvertraut haben, dass sein Tod auch das Ende der Monarchie bedeuten könnte. In der Tat hätte sein Nachfolger Karl I. (boshafte Zungen ergänzten: „und Letzte“), selbst wenn er ein politisches Genie gewesen wäre, kaum eine Chance gehabt, das Habsburgerreich zu retten.

In Berlin war es Wilhelm II. in den 28 Jahren seiner Herrschaft gelungen, alles zu ruinieren, was er nur anfasste. Von Beginn an stand der Hohenzoller im Schatten des beliebten Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg (ab August 1916 Chef der Obersten Heeresleitung) und dessen Stellvertreter Generalmajor Erich Ludendorff. Wilhelm wusste, dass er bei seinen gelegentlichen Besuchen im Hauptquartier „nur der Adjutant von Hindenburg“ war und nichts zu sagen hatte.


Die Anbringung des Schriftzugs „Dem Deutschen Volke“ an der Reichstagsfassade.

Zeitgleich mit dem Tod seines Wiener Partners sah sich Wilhelm II. zu einem symbolischen politischen Zugeständnis gezwungen, gegen das er sich mehr als 20 Jahre lang ebenso verbittert wie sinnlos gewehrt hatte: Für die Westfassade des 1894 eröffneten Reichstagsgebäudes war von Anfang an die Widmung „Dem deutschen Volke“ vorgesehen gewesen. Wilhelm hatte die Anbringung des Schriftzugs verhindert, weil er die symbolische Aufwertung des Souveräns als Einschränkung seiner monarchischen Prärogative ansah. Nach mehr als zwei Kriegsjahren, in denen seine Person an Bedeutung verloren hatte, gab er den Widerstand auf. Er hoffte, freilich vergebens, auf diese Weise die Linke und das Zentrum besänftigen zu können.1

Noch schlimmer erging es dem russischen Zaren. Nikolaus II. regierte fast genau so lange wie sein Berliner Cousin, seit 1894. Während der Moskauer Krönungsfeierlichkeiten zwei Jahre später – gemäß dem Geist der damaligen Zeit wollten die Zaren das Volk in die religiös legitimierte Zeremonie einbeziehen – kam es zu einer Massenpanik mit fast 1400 Toten. Und es wurde nicht besser. Russland verlor den Krieg gegen Japan, in den Revolutionen der Jahre 1905–07 starben Zehntausende. Als Reaktion errichtete der Zar die Fassade einer pseudokonstitutionellen Monarchie, doch das Parlament (die Duma) hatte keinen echten Einfluss auf den Staat. Nach der Niederlage von Gorlice-Tarnów 1915 verfiel Nikolaus II. auf eine noch schlechtere Idee: Gegen den Rat seiner Minister und Generäle erklärte er sich zum Oberbefehlshaber. Von nun galt er nicht mehr nur als unfähiger Herrscher, sondern wurde auch für die Niederlagen an der Front verantwortlich gemacht.

In den ersten Kriegsjahren vollbrachte Russland eine gigantische Leistung, indem es seine Rüstungsproduktion vervielfachte. Zugleich schrumpfte die Agrarproduktion um ein Fünftel – etwa die Hälfte aller Bauern und Landarbeiter wurden eingezogen; sie stellten die eindeutige Mehrheit der Rekruten. Bis Ende 1916 fielen oder starben infolge von Verwundungen und Krankheiten 1,7 Millionen Soldaten, acht Millionen wurden verwundet oder erkrankten, 2,5 Millionen (darunter mehrere Zehntausend Deserteure) gerieten in Gefangenschaft. Das Land musste sechs Millionen Flüchtlinge und Deportierte aus den westlichen Teilen des Imperiums aufnehmen. Ab 1916 funktionierte die Versorgung der Stadtbevölkerung immer schlechter, Arbeiter und Arbeiterinnen fühlten sich ausgebeutet – zumal im Vergleich zu den vier Millionen mittelbar oder unmittelbar bei der Militärverwaltung Beschäftigten, die im russischen Hinterland ein gefahren- und hungerfreies Leben führten. Die Ineffizienz der Verwaltung, die sprichwörtliche Korruption, die Inflation und der Mangel an Nahrungsmitteln verschärften den sozialen Konflikt, mit dem ein ebenso grundlegender Streit um das Zarentum und somit um die Staatsform einherging.

Es ist schwierig, zu sagen, was dem Imperium letztlich am meisten schadete: das archaische System, die unfähige Verwaltung, die Persönlichkeit des Monarchen oder die seiner Gattin. Als Oberbefehlshaber hielt sich Nikolaus II. meist im Truppenhauptquartier in Mogilew auf, seine Gemahlin Alexandra Fjodorowna, geborene Alix von Hessen-Darmstadt, blieb in Petersburg zurück. Die fromme, von Nikolaus aufrichtig geliebte Deutsche hatte vier Töchter und einen Zarewitsch zur Welt gebracht, der freilich an der im Haus Battenberg erblichen Hämophilie litt. Jede Verletzung bedeutete für den Thronfolger Lebensgefahr. Die Ärzte waren ratlos. Hilfe brachte Grigori Jefimowitsch Rasputin, ein aus Sibirien gekommener Prediger und Wunderheiler, ein Betrüger mit dem Charisma eines Heiligen. Unmittelbar nach Rasputins Ankunft am Hof kamen Gerüchte über eine intime Beziehung zwischen der Zarin und dem Scharlatan auf. Nach Nikolaus’ Umzug nach Mogilew wurden sie zur gängigen Erklärung für die Misserfolge an der Front: Schuldig waren der Gesandte des Satans und die Deutsche, der Zar war nur eine Figur in ihrem Spiel.2 Am 1. November 1916 hielt Pawel Miljukow, der Vorsitzende der Konstitutionell-Demokratischen Partei in der Duma eine sorgfältig vorbereitete Rede. Er präsentierte eine lange Reihe von Beispielen für Inkompetenz und Korruption in der Verwaltung, für Versäumnisse und unverständliches Handeln der Regierung sowie für die merkwürdigen Zustände bei Hof. Nach jedem einzelnen Fall stellte er die rhetorische Frage: „Ist dies nur Dummheit oder Verrat?“ Die Liberalen waren mit ihrer Kritik an den herrschenden Verhältnissen nicht allein. Auch die Generalität, der Hof und konservative Politiker beklagten die Unfähigkeit des Herrschers. Einen Monat nach der Beisetzung Franz Josephs I. entschlossen sie sich, zu handeln: Sie ermordeten Rasputin. Doch es war zu spät. Die Abrechnung am Hof interessierte die hungernden Arbeiter in Petersburg und Moskau, die Millionen Flüchtlinge und die Millionen Soldaten nicht mehr.

Der Zar reagierte nicht auf die Ermordung des angeblichen Liebhabers seiner Gattin und verlor damit den letzten Rest Autorität. Am 23. Februar 1917 verwandelte sich ein Marsch anlässlich des Internationalen Frauentags in eine mächtige Demonstration. Tausende hungernde Arbeiterinnen, vor allem aus dem Petersburger Industriebezirk, protestierten gegen Teuerung und skandalöse Versorgungslücken. Am Anfang ging es um das sprichwörtliche Brot, doch diesmal war es keiner der „Weiberaufstände“, die im Vorjahr oft durch die russischen Städte gezogen waren. In diesem Jahr riefen die Demonstrantinnen: „Nieder mit dem Zarentum“, Dann ging alles sehr schnell: Die Polizei war hilflos, die Armee stand Gewehr bei Fuß oder – in seltenen Fällen – schoss, was die Situation nur verschlimmerte. Am 27. Februar schloss sich ein Teil der Einheiten in Petrograd den Protestierenden an. Am Morgen waren es eine einige Tausend Rebellen – „Bauern in Soldatenmänteln“ –, am Abend fast 70.000. Am darauffolgenden Tag verweigerte fast die gesamter Petrograder Garnison den Gehorsam. Nach fünf Tagen mit Demonstrationen, Streiks und Unruhen trat die Regierung zurück. Die Macht übernahm ein provisorisches Dumakomitee, parallel dazu entstand der von Vertretern linker und linksextremer Parteien dominierte Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat.

Auch in anderen Industriezentren wurde immer häufiger gestreikt. Die Arbeiter forderten Brot (und nahmen es sich, indem sie Bäckereien plünderten), liberale und linke Politiker Demokratie und alle gemeinsam Frieden. Der Zar versuchte den wachsenden Widerstand mit Gewalt zu unterdrücken, doch nicht nur in Petrograd weigerte sich die Armee, auf Demonstranten zu schießen. Selbst in den Eliteregimentern – oder vielmehr dem, was von ihnen im dritten Kriegsjahr übrig war – mussten die Offiziere um ihr Leben fürchten, wenn sie die Soldaten gegen sich aufbrachten. In den ersten Märztagen irrte der Zar mit dem Zug durchs Land. Plötzlich war Russland für seinen Herrscher unbefahrbar. Am 15. März (nach gregorianischem Kalender) dankte er ab, nachdem er begriffen hatte, dass die Generalität weder willens noch in der Lage war, seine Befehle auszuführen. Sein Bruder, Großfürst Michail Alexandrowitsch, lehnte die Krone ab. Damit endete nach über 300 Jahren Romanow-Herrschaft die Monarchie in Russland.

Wir schreiben hier keine Geschichte der russischen Revolutionen des Jahres 1917. Zu deren Ursachen haben ältere Kollegen einige überzeugende Theorien entwickelt. Erstens fiel das zaristische Russland nicht unter der Last der militärischen Niederlagen. An der türkischen Front – und die Türken waren kein leichter Gegner, wie die westlichen Alliierten bei Gallipoli erfuhren – errang die russische Armee auch 1916 Siege. Zweitens war nicht der Mangel an Nahrungsmitteln entscheidend, sondern ihre Verteilung (darauf gehen wir in diesem Band ausführlicher ein). Drittens stürzte das Zarentum nicht nur im übertragenen Sinn über den Krieg. Millionen von Bauern (um die 85 Prozent der russischen Bevölkerung lebte noch immer auf dem Land) lernten als Soldaten eine andere Welt kennen als die eigene Gemeinde, aus der ihre Vorfahren nie herausgekommen waren. Diese Erfahrung öffnete neue Horizonte. Vieles wurde möglich, was bis dahin unvorstellbar war, auch eine Welt ohne Herren, Offiziere, letztlich auch ohne Zaren. Viertens könnte man für die politische Situation in Russland an der Jahreswende 1916/17 von einer doppelten Polarisierung sprechen: zum einen zwischen Zarentum und Duma als Plattform der liberalen Opposition sowie zum anderen zwischen der liberalen Opposition (die lediglich einige Prozent der erwachsenen Männer und Frauen repräsentierte) und dem ausgehungerten bäuerlichen, soldatischen und proletarischen Rest des Landes, der im Gefühl des Unrechts und in existenzieller Bedrohung lebte.

Vorerst übernahmen die republikanischen Dumaabgeordneten die Macht. Ihr Gesicht war für einige Monate der linksliberale Anwalt Alexander Kerenski, ein ausgezeichneter Redner, der als Verteidiger in den Prozessen gegen die Teilnehmer der Revolution von 1905 berühmt geworden war. Die erste russische Revolution weckte im Land Hoffnungen, wie sie sonst selten mit politischen Umstürzen einhergehen. Die Menschen erwarteten, dass in Russland endlich Ordnung einkehren werde. Doch die Wiederherstellung eines elementaren Vertrauens in den Staat war nicht die einzige Herausforderung, vor der die russischen Liberalen standen. Vor allem dauerte der Krieg immer noch an. Kerenski stand vor ebenso unlösbaren Aufgaben wie Kaiser Karl I. in Wien. Russland war auf die Hilfe der Verbündeten angewiesen, die nichts von einer Übereinkunft mit den Mittelmächten wissen wollten. Im Juni 1917 befahl Kerenski als Kriegsminister eine Offensive an der Westfront. Das Ziel war Lemberg. Die sogenannte Kerenski-Offensive endete mit einer vorhersehbaren Niederlage, die sich dieses Mal nicht an der Anzahl der Getöteten, Verwundeten und Gefangenen bemaß, sondern am enormen Ausmaß von Befehlsverweigerung und Desertionen.

Am besten schlug sich auf russischer Seite eine Brigade tschechoslowakischer Freiwilliger. Sie wussten, wofür sie kämpften und zeigten etwa in der Schlacht von Zborów die entsprechende Motivation, die den kriegsmüden Rekruten abging. Der spätere Präsident der kommunistischen Tschechoslowakei, Klement Gottwald, gehörte damals zu den k. u. k. Rekruten, einer seiner Stellvertreter, Ludvík Svoboda, zu den siegreichen Legionären. Die Schlacht bei Zborów war, wiewohl vom Ausmaß her wenig beeindruckend, vielleicht das wichtigste Ereignis der Kerenski-Offensive: Für die künftige Tschechoslowakei wurde sie zu einem Gründungsmythos, für die Habsburgermonarchie war sie der letzte Beweis für die Untreue der Tschechen.

Für Russland wurde die Kerenski-Offensive zu einem von mehreren Sargnägeln. Die Armee fiel auseinander. Im Juli organisierte die Linke einen Putsch gegen die Regierung. Die Liberalen verteidigten mit letzter Kraft ihre Macht; sie ließen auf die Demonstranten schießen. Am 21. Juli wurde Kerenski Ministerpräsident eines nur noch theoretisch existierenden Staates. Zum Oberbefehlshaber ernannte er General Lawr Kornilow. Dieser unternahm fünf Wochen später einen Putschversuch, der scheiterte.

Es kam ein gigantischer Mechanismus in Gang, der unzählige menschliche Existenzen vernichtete. Ab dem Sommer 1917 gingen die Generäle gegen das rebellierende Volk vor. Sie säten Tod und Zerstörung. Sie mobilisierten kleinere oder größere Armeen; immer verloren sie. Keine Generalität, nicht einmal die psychisch so labile österreichisch-ungarische, verzeichnete in dieser Zeit eine höhere Selbstmordrate als die russische. Und ihre Untergebenen, meist frischgebackene Oberleutnants ohne Autorität bei Unteroffizieren und Rekruten, starben wohl ebenfalls häufiger durch einen Schuss in den Rücken als durch die Kugel eines Feindes.

Fern von Petersburg, wo der Bürgerkrieg später oder deutlich später einsetzte, sahen die Dinge natürlich anders aus. In der Provinz verlief das Leben bis Anfang März normal. Die Hauptstadt schien unendlich weit weg. In der Gouvernementshauptstadt Pensa bemerkte der Gymnasiast Igor Newerly erst am Morgen des 4. März auf dem Weg zur Schule,

[…] dass etwas anders war als sonst. Ich blieb stehen, schaute mich um und begriff: Muganow war fort. Dieser Muganow […] stand hier, seit ich denken konnte, unerschütterlich und erhaben, wie ein Wappen, ein Zeichen der Ordnung, ein grobschlächtiger, wachsamer Gorodowoj mit seiner Schaschka in der schwarzen Scheide und seiner Pfeife an der roten Schnur. Er war Teil der Landschaft zwischen Bank und Ecke Sadowa, sein Fehlen frappierte, als wäre die Staatsbank verschwunden oder als hätte sich die Straße gewölbt.

Während ich überlegte, was mit unserem Schutzmann geschehen war, lief ich weiter, doch auch an der nächsten Ecke stand kein Polizist. Das überstieg nun jegliche Vorstellung, sie konnten ja nicht alle betrunken oder krank sein.3

Der Gymnasiast lief durch die leeren Straßen zum Gouverneurspalast.

Dort stand eine Menge, wie ich noch keine gesehen hatte, Soldaten, Schüler, Eisenbahner, Markthändler, Arbeiter, Beamte, Frauen und Mädchen, Junge und Alte, alle standen dicht gedrängt vor dem Haus des Gouverneurs, und lauschten gebannt einem Mann in offenem Mantel. Er sprach vom Balkon zu ihnen, und als er am Ende seiner Rede die Arme ausstreckte, als wolle er etwas ungeheuer Großes umfassen – ertönte ein Schrei wie nicht von dieser Welt. Mützen flogen in die Luft, die Menschen umarmten und küssten sich, aber nicht wie zu Ostern bedächtig und feierlich, sondern wie wild durcheinander in ungestümer, wahnsinniger Erregung.4

Die Eruption der Freiheit sah in vielen Städten ähnlich aus wie in Pensa; plötzlich erschien eine Vielzahl von Zeitungen. Newerly erinnert sich:

[…] ich konnte lesen und lesen, die Leute berauschten sich am freien Wort, sie schwelgten in der unabhängigen Presse, wer wollte und es sich leisten konnte, gab eine Zeitschrift heraus, also erschienen Politik-, Gesellschafts-, Literatur-, Arbeiter-, Volks-, Jugend- oder Regionalmagazine, elitäre, apolitische, mystische und frivole wie die Wenera, die Schukschin herausgab, weil er drei Buden mit Kwas und Zigaretten besaß […]. Im Frühjahr ’17 gab es nichts als Freude, man feierte gleichsam das unbefleckte Fest der Befreiung, den fantastischen Sieg des neuen Lebens ohne Kämpfe und Opfer, ohne Terror, ohne die Aufwallung niederer Instinkte – so eine Revolution, hieß es, hat die Welt noch nicht gesehen!5

Newerly – Enkel eines hohen zaristischen Beamten – beschreibt ausführlich die dramatischen Diskussionen zwischen jungen Linken über die Legitimität von Gewalt, dem kürzesten Weg zur Freiheit. Diese Option propagierten seit Jahren die Bolschewiki, die 1917 in den Arbeiter-und-Soldaten-Räten immer sichtbarer wurden und sich als Alternative zur Regierung der Liberalen à la Kerenski anboten.

Der Bedeutungszuwachs des radikalsten Flügels der russischen Linken erklärt sich unter anderem aus der Rolle des politischen Terrors, der gegen besonders exponierte Gegner ausgeübt wurde. Nicht von ungefähr begann der Krieg mit Gavril Princips Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo. Drahtzieher war nach allgemeiner Auffassung Oberst Dragutin Dimitrijević (der wegen seiner mächtigen Erscheinung nach dem heiligen Stier der ägyptischen Mythologie „Apis“ genannt wurde), Chef des serbischen Geheimdienstes, besser bekannt aber als Anführer der Organisation Ujedinjenje ili smrt (Vereinigung oder Tod), einer Geheimgesellschaft serbischer Offiziere, die für die Ermordung von König Aleksandar Obrenović und dessen Frau 1903 verantwortlich war. Die Schwarze Hand, wie man die Gesellschaft nannte, pflegte auch während des Kriegs die Rituale der Konspiration: geheime Treffen und für Nichteingeweihte unverständliche Symbole. Das war allerdings nicht die Ursache für Apis’ Untergang. Es ging um die Macht, besser gesagt um die Angst vor Machtverlust. Apis hatte die Unterstützung der begabtesten Generäle, darunter Stepa Stepanović, der Stabschef des Woiwoden Putnik und Architekt der wichtigsten serbischen Erfolge in den Feldzügen von 1914. Der Regent Aleksandar Karadjordjević war nach Serbiens Niederlage 1915 nicht bereit, Strukturen zu tolerieren, die wir heute als „tiefen Staat“ bezeichnen würden. Schon vor dem Krieg hatte er in der Armee eine eigene Organisation gegründet: die Weiße Hand.6 1917 fanden sich plötzlich Belege für angebliche Vorbereitungen zu einer weiteren Verschwörung der Schwarzen Hand, dieses Mal gegen den Regenten. Apis und zwei andere Offiziere wurden in Saloniki zum Tod verurteilt. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Ein Mitglied des Exekutionskommandos erinnerte sich an die würdige Haltung der Opfer des politischen Mordes. Nach eigener Aussage verlangte er von seinem Kommandeur, nie wieder zu einer solchen Aufgabe bestimmt zu werden. Der Kommandeur soll geantwortet haben, auch ihm sei die Vollstreckung schwergefallen.7

Eine andere Szene spielte sich am 21. Oktober 1916, einen Monat vor dem Tod Franz Josephs I., im Restaurant des Wiener Hotels Meissl & Schadn ab. Dort wurde der seit 1911 amtierende cisleithanische Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh, einer der für den Selbstmord der Imperien im Sommer 1914 verantwortlichen älteren Herren, beim Mittagessen von dem Sozialisten Friedrich Adler, dem Sohn des legendären österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler, erschossen. Adler war ein talentierter Physiker, bis 1911 hatte er in der Schweiz gelebt; Albert Einstein sah in ihm seinen Nachfolger am Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Zürich. Adler kehrte jedoch nach Österreich zurück und engagierte sich in der sozialistischen Partei. Als radikaler Pazifist fühlte er sich dort nach Kriegsbeginn isoliert, denn er lehnte jeden Kompromiss mit dem sinnlos Krieg führenden Staat ab, dessen Justizsystem er für ein Gewaltmittel der Herrschenden gegen das Volk hielt. Vor Gericht attackierte er die Monarchie ebenso scharf wie die sozialdemokratische Partei. Er sprach vom „Gefühl der Schande, Österreicher zu sein“. Den Krieg hielt er wie die Revolution für etwas „Untermenschliches“: „Solange es nötig ist, Menschen zu töten […], solange leben wir in einer Welt der Barbarei, der Untermenschlichkeit.“ Der junge Adler hatte mehr Glück als Gavrilo Princip. Er wurde zum Tode verurteilt, aber schnell begnadigt. Von 18 Jahren Haft saß er bis Kriegsende zwei ab.

Der Staatsanwalt erinnerte an die Jahre in der Schweiz, in denen der Angeklagte „von Anbeginn in steter und innigster Berührung mit Umstürzlern aller Parteischattierungen aus allen europäischen Staaten [stand]. Den russischen Sozialistenkreisen entstammt seine Lebensgefährtin.“8 Der Staatsanwalt irrte. Die Russin war ein für den Prozess belangloses, wiewohl gut in die Kriegspropaganda passendes Requisit. Adlers Kontakte zu „Umstürzlern aller Parteischattierungen aus allen europäischen Staaten“ waren hingegen eine Tatsache.

Dies ist kein Buch über die radikale europäische Linke vor dem und im Ersten Weltkrieg, doch ist es aufschlussreich, an vergessene Beziehungen zu erinnern, die durch den späteren Sieg der Bolschewiki in Russland gleichsam annulliert wurden. In dieser bis heute ungeschriebenen Geschichte war Galizien ebenso wichtig wie die Schweiz. Felix Dserschinski und Józef Piłsudski, zwei Söhne litauischer Grundbesitzer, fanden zur selben Zeit als von den zaristischen Behörden verfolgte Sozialisten Asyl im k. u. k. Krakau. Sie lebten nur ein paar Straßen voneinander entfernt. Wladimir Lenin – wie Kerenski Sohn eines hohen russischen Bildungsbeamten – spazierte damals mit Kazimierz Dłuski, einem Sozialisten, Arzt und Sozialaktivisten aus Zakopane sowie Schwager von Marie Skłodowska-Curie, durch die Tatra. Dłuski wiederum war ein alter Bekannter Roman Dmowskis, des Vordenkers der polnischen Rechten, der ein Vierteljahrhundert zuvor dem Sozialismus nahegestanden hatte. Im Hintergrund dieses uneinheitlichen Bildes taucht auch ein gewisser Josef Wissarionowitsch Stalin auf – er verwendete damals andere Namen –, der regelmäßig Lenin beim Schach ausgenommen haben soll.

Außerhalb des polnisch-russischen Kontextes steht Leo Trotzki (als Lew Dawidowitsch Bronstein in der Ukraine geboren). Als der Krieg ausbrach, floh er nach Wien, wo er – von Geheimdienstlern beobachtet – im Kaffeehaus Gäste empfing. Er ging in die Schweiz. Als man den k. u. k. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf vor russischen Revolutionären warnte, soll dieser erwidert haben: „Und wer soll diese Revolution machen? Etwa der Herr Bronstein aus dem Café Central?“

Im Frühjahr 1917 änderte sich binnen weniger Tage alles. Am 6. April erklärten die USA als Reaktion auf deutsche U-Boot-Angriffe im Atlantik Deutschland den Krieg. Am 9. April stiegen Lenin und 31 andere politische Emigranten in Zürich in den Zug. Der Waggon wurde plombiert. Das deutsche Auswärtige Amt glaubte, die Rückkehr der Revolutionäre werde Russland den Verbleib in der Entente zumindest erschweren oder sogar zum Austritt des Landes führen. So kam es. Lenin gelangte über Deutschland, Schweden und Finnland nach Petrograd. Im Zug formulierte er die damals tragfähigsten Ideen: Die Arbeiter sollten die Macht in den Fabriken übernehmen, die Bauern das Land und Russland sollte die Entente verlassen und damit den unsinnigen Krieg beenden. Das Auswärtige Amt konnte zufrieden sein.

Nach dem Fiasko der Kerenski-Offensive im Juli überschätzten die Bolschewiki ihren Einfluss. Der erwähnte Putsch scheiterte. Lenin musste nach Finnland fliehen. Stalin soll ihm den Bart abrasiert haben. Er kehrte im Oktober zurück, als die Macht auf der Straße lag. Nach einem halben Jahr Chaos, Hunger und der Doppelherrschaft von vorläufiger Regierung und Arbeiter-und-Soldaten-Räten glaubte niemand mehr an Kerenski. In der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober (7.–8. November) übernahmen die Bolschewiki die Macht in Petrograd. Sie besetzten das Winterpalais und verhafteten die Minister der Provisorischen Regierung. Kerenski war kurz zuvor geflüchtet.

Nach der Machtübernahme erließen die Bolschewiki eine Reihe von Dekreten: über einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, über den Landbesitz (Legalisierung der Übernahme von Grundvermögen durch die Dorfkomitees), über das Selbstbestimmungsrecht der Völker Russlands, über die Übernahme der Fabriken durch Arbeiterkomitees, über die Konfiskation des Kirchenvermögens und die Ersetzung des julianischen Kalenders (gemäß dem wir von der Oktoberrevolution sprechen, obwohl sie im November stattfand) durch den gregorianischen. Die einzigen freien Wahlen in Russland gewannen Ende November zwar die Sozialrevolutionäre, die mehr als die Hälfte der Mandate errangen (Lenins Partei nicht ganz ein Viertel), doch das Ergebnis war irrelevant. Russland trat aus dem Krieg aus und die Bolschewiki hatten nicht vor, die einmal eroberte Macht abzugeben. Am 15. Dezember 1917 trat der Waffenstillstand an der deutsch-russischen Front in Kraft; die Soldaten hatten ohnehin seit vielen Wochen nicht mehr auf den Gegner geschossen. Als Anführer der bolschewistischen Delegation vertrat Trotzki bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk den Ansatz „weder Krieg noch Frieden“ und verweigerte die Unterzeichnung eines Friedensvertrags. Doch die Mittelmächte wussten, wie schwach der Gegner war. Am 17. Februar 1918 erklärten sie den Waffenstillstand für beendet, ihre Truppen rückten nach Osten vor.

In Brest-Litowsk übertrafen sich beide Seiten mit Argumenten zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. US-Präsident Woodrow Wilson hatte es am 8. Januar 1918 in einer Rede vor beiden Kammern des Kongresses zur Grundlage eines Friedens in Europa erklärt. Die Bolschewiki propagierten das Selbstbestimmungsrecht seit Kriegsbeginn. Während der Brest-Litowsker Verhandlungen sahen sie darin richtigerweise ein Instrument zur Zerschlagung der Habsburgermonarchie, das Deutschen Reich betrachtet es als Mittel zur Vernichtung des Romanow-Imperiums.

Im kleinen Maßstab ließ sich das Selbstbestimmungsrecht ebenso flexibel gestalten. Ungefähr zum Zeitpunkt von Piłsudskis Rückkehr nach Warschau besetzte am 10. November 1918 ein polnischer Oberleutnant mit einer Handvoll Soldaten das slowakische Dorf Suchá Hora. Eine Woche danach erschienen

begleitet von fünf Gendarmen der Starost und der Kommandeur der örtlichen Einheit der ungarischen Grenztruppen im Dorf. Die Herren fragten Oberleutnant Legocki, wozu er in die Region Orava gekommen sei. Oberleutnant Legocki erwiderte, er habe befehlsgemäß und im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker polnische Ortschaften in der Region besetzt.9

Andernorts sah es nicht anders aus: Der Staat, oder genauer gesagt: seine Armee, entschied, wo, wie und wann das Selbstbestimmungsrecht angewandt wurde.

* * *

Mitte der 1980er Jahre untersuchte der ungarische Historiker Tibor Hajdu die Spezifik der Revolution in Ost- und Ostmitteleuropa.10 In seiner Darstellung handelte es sich um einen vielköpfigen Drachen. Die Revolution bestand aus verschiedenen simultanen Revolten: der pazifistischen, der sozialistischen, der bäuerlichen und der nationalen. Ihre Anfänge liegen jeweils am Beginn der „zweiten Hälfte“ des Kriegs. Ebenso wichtig ist, dass sie nicht mit dem Ersten Weltkrieg endeten.

Adler war ebenso sehr Anarchist wie Pazifist. In Ostmitteleuropa erfreute sich der Anarchismus weder damals noch später sonderlicher Beliebtheit. Ähnliches galt für den Pazifismus, doch die Erinnerung an die Gemetzel des Ersten Weltkriegs sicherte ihm zumindest eine reflexhafte Sympathie.

Ernst Kantorowicz schrieb 1957 von den zwei Körpern des Königs: dem sterblichen Leib und der symbolischen Verkörperung der Idee der Monarchie.11 Franz Joseph I., Wilhelm II. und Nikolaus II. ließen unter verschiedenen Umständen diese Idee verwaisen. Und Franz Joseph I. war der einzige der drei Genannten, der sie nicht kompromittierte, wenngleich auch in seinem Fall die Meinungen auseinandergingen.

Ein anderes System musste an die Stelle der Monarchie treten. Vernünftige Historiker mögen derlei Bezeichnungen nicht, doch hier scheint sie angebracht: Obwohl „der vergessene Weltkrieg“ in Osteuropa mit Hilfe unterschiedlichster Surrogate geführt wurde – von Brot aus Sägespänen bis hin zur depravierten Justiz –, konnte er nicht damit enden. Auf internationaler Ebene eröffnete Wilson der Welt radikal neue Perspektiven. Österreich-Ungarn und Deutschland machten in Brest-Litowsk die Idee der Selbstbestimmung zur Karikatur, indem sie sich ein Viertel des Territoriums des besiegten Feindes einverleibten, doch die Menschen bewahrten den Gedanken an eine neue, gerechtere internationale Politik.

Innenpolitisch verbreitete sich die Forderung nach gleichem Wahlrecht. Die Idee einer Demokratie, in der alle Bürger ungeachtet ihrer Ausbildung und ihres Vermögens gleich sind, wurde recht plötzlich konkurrenzlos – zumindest auf dem Papier. Ab 1918 wurden die Stimmen in Gestalt von Wahlzetteln nur noch gezählt, nicht mehr gewichtet. Außer man lebte in einer Diktatur, in der alles egal war.

Warum die Idee der Demokratie in Ostmitteleuropa sofort auch die Frauen einschloss, ist schwer zu erklären. Wir versuchen es im Abschnitt Transformation, in dem wir vor allem die politische Dimension dieses Prozesses betrachten. Der Krieg, der aus den bisherigen Dienstmägden, den am Herd oder in den Ställen beschäftigten Ehefrauen (und ihren Töchtern, denen außer einer Mitgift nichts zustand), gefragte Arbeitskräfte machte, trug sicher zu seiner Beschleunigung bei – unter anderen Umständen wäre die Entwicklung deutlich langsamer verlaufen. Ein dankbares Forschungsfeld, wenngleich schwer zugänglich, weil in den Quellen die Berichte von Männern dominieren.

Mit der Zerstörung der Ordnung im größten Staat der Welt begannen die Bolschewiki eine Operation von globalem Ausmaß. Sie schufen das Modell einer kleinen Minderheit, die mit Entschlossenheit, charismatischen Führern und dem radikalen Bruch mit der alten Ordnung überall an die Macht gelangen konnte.

Apis fiel einem Justizmord zum Opfer; auch dieses Modell machte Schule, nicht nur in der Zwischenkriegszeit.

Und schließlich unsere titelgebenden „Nationen“. Sie traten in dem schmerzlichen und dramatischen Prozess, den wir zu beschreiben versuchen, an die Stelle der Imperien. Sie bilden auch im 21. Jahrhundert das Fundament Europas. Und es ist schwer vorstellbar, dass zu unseren Lebzeiten der Alte Kontinent eine völlig andere Gestalt annehmen könnte.

Im zweiten Band des Vergessenen Weltkriegs möchten wir die von Tibor Hajdu aufgezählten revolutionären Phänomene beschreiben und ordnen. Der erste Teil behandelt die neue Art der Kriegführung, die sich in Ostmitteleuropa ab 1917 herausbildete und anschließend alle lokalen Kriege und kleineren militärischen Auseinandersetzungen prägte. Der zweite Teil beschreibt die sozialen Konflikte, die Versuche ihrer politischen Instrumentalisierung sowie auch die Bemühungen um ihre Beilegung. Daraus ergibt sich das Bild einer Systemtransformation, deren Dramatik den Umwälzungen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan nach 1989 in nichts nachsteht. Der dritte Teil konzentriert sich auf die (meist usurpatorischen) Handlungen der politischen Repräsentanten der Völker Ostmitteleuropas und des Balkans während des Kriegs und nach Kriegsende, als die Grenzen neu gezogen wurden. Der Epilog reicht bereits in die Zwischenkriegszeit hinein, von Interesse sind hier insbesondere die Bereiche, in denen die Nachwirkungen des Kriegs besonders deutlich zu spüren waren.

Der vergessene Weltkrieg

Подняться наверх