Читать книгу Vom Wind verweht - Маргарет Митчелл - Страница 10

KAPITEL 2

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Nachdem die Zwillinge sich auf der Veranda von Scarlett verabschiedet hatten und die letzten Hufschläge verklungen waren, kehrte sie wie eine Schlafwandlerin zu ihrem Sessel zurück. Ihr Gesicht war vor Schmerz erstarrt, und der Mund tat ihr richtiggehend weh, weil sie ihn zum Lächeln verzerrt hatte, damit die Zwillinge nichts von ihrem Geheimnis bemerkten. Sie setzte sich erschöpft, schlug einen Fuß unter, und die Brust wollte ihr vor Kummer schier zerspringen. Ihr Herz zuckte unregelmäßig, ihre Hände waren kalt, und sie fühlte sich von einer Katastrophe überwältigt. Schmerz und Verwirrung standen ihr ins Gesicht geschrieben, die Verwirrung eines verwöhnten Kindes, das immer bekommen hatte, was es wollte, und das jetzt zum ersten Mal mit dem unschönen Ernst des Lebens konfrontiert wurde.

Ashley sollte Melanie Hamilton heiraten!

Das konnte doch nicht wahr sein! Die Zwillinge irrten sich. Sie hatten einen ihrer Scherze mit ihr getrieben. Ashley konnte doch unmöglich in Melanie verliebt sein. Niemand konnte sich in so eine farblose kleine Person verlieben. Scarlett rief sich voller Verachtung das Bild der dünnen, kindlichen Gestalt Melanies vor Augen, ihr ernstes herzförmiges Gesicht, das unscheinbar fast bis zur Reizlosigkeit war. Und Ashley konnte sie seit Monaten nicht gesehen haben. Er war seit der Hausparty, die er im vergangenen Jahr in Twelve Oaks gegeben hatte, höchstens zweimal in Atlanta gewesen. Nein, es war unmöglich, dass Ashley Melanie liebte, weil – oh, sie konnte sich nicht irren! – weil er sie selbst liebte! Sie, Scarlett, war es, die er liebte – das wusste sie!

Scarlett hörte, wie Mammys schwere Schritte den Boden in der Eingangshalle zum Erzittern brachten; sie zog hastig ihren Fuß hervor und versuchte ihrem Gesicht einen gelasseneren Ausdruck zu geben. Auf keinen Fall durfte Mammy Verdacht schöpfen, dass irgendetwas im Argen lag. Mammy war der Meinung, die O’Haras gehörten ihr, mit Leib und Seele, und sie müsse an all ihren Geheimnissen teilhaben; wenn sie nur andeutungsweise eines spürte, so genügte dies, dass sie wie ein Jagdhund ohne Unterlass die Fährte verfolgte. Scarlett wusste aus Erfahrung, dass Mammys Neugier sofort befriedigt werden musste, anderenfalls würde sie das Thema Ellen gegenüber aufbringen, und dann wäre Scarlett gezwungen, ihrer Mutter alles zu offenbaren oder sich eine überzeugende Lüge auszudenken.

Mammy kam aus der Halle nach draußen, eine ausladende alte Frau mit den kleinen, wissenden Augen des Elefanten und einer Haut von glänzendem afrikanischem Schwarz. Sie war bis zum letzten Blutstropfen den O’Haras ergeben, war Ellens Stab und Stütze, die Verzweiflung ihrer drei Töchter sowie der Schrecken der anderen Haussklaven. Mammy war zwar eine Sklavin, aber ihr Verhaltenskodex und ihr Stolz waren ebenso dünkelhaft wie die ihrer Besitzer, wenn nicht sogar dünkelhafter. Ihre Erziehung hatte sie im Schlafzimmer von Solange Robillard, Ellen O’Haras Mutter, genossen, einer zierlichen, kalten, hochnäsigen Französin, die weder ihren Kindern noch ihren Dienstboten die geringste Verletzung der Etikette durchgehen ließ. Mammy hatte bereits für Ellen gesorgt und war nach deren Heirat mit ihr aus Savannah nach dem Norden gezogen. Wen Mammy liebte, den züchtigte sie. Und da ihre Liebe für Scarlett und ihr Stolz auf sie keine Grenzen kannte, fand der Züchtigungsprozess eigentlich kein Ende.

»Sind die Gentlemänner weg? Wieso hast du sie nich zum Abendessen eingeladen, Miss Scarlett? Ich hab Pork gesagt, er soll zwei Gedecke für sie auflegen. Wo sind deine Manieren?«

»Ach, ich hatte es so satt, sie über den Krieg reden zu hören; das hätte ich beim Essen nicht ausgehalten, besonders wenn Pa auch noch eingestiegen wäre und schon wieder über Mr. Lincoln geschimpft hätte.«

»Du hast keine bessren Manieren wie ne Pflückerin, und dabei ham Miss Ellen und ich uns so mit dir abgerackert. Und da sitzt du ohne deine Stola! Dabei wird’s gleich Nacht! Ich red und red mir den Mund fusselig, dass du Fieber kriegst, wenn du mit nix um die Schultern in der Nachtluft sitzt. Komm, ab ins Haus, Miss Scarlett.«

Scarlett wandte sich mit betonter Gleichgültigkeit von Mammy ab, froh, dass diese vor lauter Beschäftigung mit der Stola ihr nichts angemerkt hatte.

»Nein, ich will hier sitzen und den Sonnenuntergang sehen. Er ist so schön. Lauf und hol mir meine Stola, bitte, Mammy, und ich bleibe hier sitzen, bis Pa heimkommt.«

»Deine Stimme klingt, wie wenn du ne Erkältung kriegst«, sagte Mammy argwöhnisch.

»Ich kriege aber keine«, sagte Scarlett ungeduldig. »Hol du mir meine Stola.«

Mammy wackelte in die Halle zurück, und Scarlett hörte sie leise zum Stubenmädchen die Treppe hinauf rufen.

»Du, Rosa! Wirf mir mal Miss Scarletts Stola runter.« Dann, lauter: »Nixnütziges Trampel! Nie is sie da, wenn man sie braucht. Jetzt muss ich selber raufgehn und die Stola holen.«

Scarlett hörte die Stufen knarren und stand leise auf. Mammy würde beim Zurückkommen nur ihre Standpauke über Scarletts mangelnde Gastfreundlichkeit fortsetzen, und Scarlett konnte solche Nichtigkeiten nicht ertragen, während ihr selbst das Herz brach. Als sie noch überlegte, wo sie sich verstecken konnte, bis der Schmerz in ihrer Brust ein wenig nachließ, kam ihr ein Gedanke, der einen kleinen Hoffnungsschimmer enthielt. Ihr Vater war am Nachmittag nach Twelve Oaks geritten, der Wilkes-Plantage, um ihnen Dilcey, die Frau seines Leibdieners Pork, abzukaufen. Dilcey war Aufseherin und Hebamme auf Twelve Oaks, und seit ihrer Heirat vor sechs Monaten lag Pork seinem Herrn Tag und Nacht in den Ohren, Dilcey zu kaufen, damit die beiden auf derselben Plantage leben konnten. Nachdem Geralds Widerstand sich langsam abgenutzt hatte, war er diesen Nachmittag aufgebrochen, um ein Angebot für Dilcey zu machen.

Bestimmt, dachte Scarlett, wird Pa wissen, ob diese grässliche Geschichte wahr ist. Selbst wenn er heute nichts erfahren hat, könnte ihm etwas aufgefallen sein, irgendeine Aufregung bei den Wilkes. Wenn ich ihn vor dem Abendessen unter vier Augen sprechen kann, finde ich vielleicht die Wahrheit heraus – dass es nämlich nur einer von den gemeinen Scherzen der Zwillinge ist.

Gerald musste bald heimkommen, und wenn sie ihn alleine sehen wollte, gab es nur die Möglichkeit, unten an der Abzweigung von der Landstraße auf ihn zu warten. Leise ging sie die vorderen Stufen hinunter und warf einen Blick zurück, um sicher zu sein, dass Mammy sie nicht aus einem der oberen Fenster beobachtete. Da sie kein breites, rundes schwarzes Gesicht unter einem schneeweißen Turban sah, das ihr zwischen wehenden Vorhängen missbilligend hinterherschaute, raffte sie energisch ihre grünen, geblümten Röcke und rannte, so schnell ihre mit Bändern am Fußgelenk festgeschnürten Schuhe sie trugen, zur Auffahrt.

Die dunklen Zedern zu beiden Seiten der Kiesauffahrt schlossen sich über ihr zu einem Gewölbe und machten aus der langen Allee einen dämmerigen Tunnel. Sowie sich Scarlett unter den knorrigen Ästen der Zedern befand, wusste sie sich vor Blicken aus dem Haus sicher und verlangsamte ihren Schritt. Sie keuchte, denn ihre Korsage war für einen Dauerlauf zu eng geschnürt, aber sie ging so schnell sie konnte. Bald hatte sie das Ende des Fahrweges und damit die Landstraße erreicht, aber sie hielt erst an, als sie hinter einer Kurve eine Baumgruppe zwischen sich und das Haus gebracht hatte.

Schwer atmend und mit geröteten Wangen setzte sie sich auf einen Baumstumpf und wartete auf ihren Vater. Er hätte längst da sein müssen, aber sie war froh, dass er so spät kam. So konnte sie noch ihren Atem beruhigen und ihr Gesicht in Ordnung bringen, damit er keinen Verdacht schöpfte. Jeden Augenblick erwartete sie den Hufschlag seines Pferdes zu hören, wenn er in seinem gewohnten halsbrecherischen Tempo den Hügel heraufritt. Doch die Minuten vergingen, und Gerald kam nicht. Sie hielt Ausschau nach ihm, und der Schmerz in ihrem Herzen wallte wieder auf.

Ach, es kann einfach nicht wahr sein! dachte sie. Warum kommt er denn nicht?

Ihr Blick wanderte die Windungen der Straße entlang, die, da es morgens geregnet hatte, blutrot dalag. In Gedanken folgte sie ihrem Verlauf bergab bis zum trägen Flint River, dann durch das Sumpfdickicht im Tal und den nächsten Hügel hinauf nach Twelve Oaks, wo Ashley wohnte. Keinen anderen Sinn hatte die Straße jetzt für sie – es war die Straße zu Ashley und zu dem schönen Haus mit den weißen Säulen davor, das den Hügel bekrönte wie ein griechischer Tempel.

O Ashley! Ashley! dachte sie, und ihr Herz schlug heftiger.

Das wahnwitzige Gefühl der Vernichtung, das sie niederdrückte, seit die Tarleton-Jungs ihr den Klatsch hinterbracht hatten, wurde ein wenig in den Hintergrund gedrängt, und an seine Stelle kroch das Fieber, das sie seit zwei Jahren beherrschte.

Es kam ihr nun seltsam vor, dass sie Ashley, als sie klein war, nie sonderlich anziehend gefunden hatte. In den Kindertagen hatte sie ihn kommen und gehen sehen und keinen Gedanken an ihn verschwendet. Doch seit dem Tag vor zwei Jahren, als Ashley – frisch zurück von seiner dreijährigen Grand Tour durch Europa – in Tara einen Besuch abgestattet hatte, war sie verliebt in ihn. So einfach war das.

Sie hatte auf der vorderen Veranda gesessen, als er die lange Allee heraufgeritten kam, in einem grauen Anzug aus feinem Wollstoff mit breiter schwarzer Krawatte, die sein Rüschenhemd vollendet zur Geltung brachte. Selbst jetzt noch erinnerte sie sich an jede Einzelheit seiner Kleidung, den Glanz seiner Stiefel, die Kamee mit dem Medusenkopf auf seiner Krawattennadel, den breiten Panamahut, den er sofort lüftete, als er sie sah. Er stieg ab, warf die Zügel einem Sklavenkind zu und schaute zu ihr hinauf, seine verträumten grauen Augen im Lächeln weit geöffnet, und die Sonne schien so hell auf sein blondes Haar, dass es wie ein funkelnder Silberhelm wirkte. Er sagte: »Du bist ja erwachsen geworden, Scarlett!« Mit leichten Schritten kam er die Stufen herauf und küsste ihr die Hand. Und seine Stimme! Sie würde nie vergessen, wie ihr Herz hüpfte, als sie ihn, wie zum ersten Mal, auf seine gedehnte, volltönende, melodiöse Weise sprechen hörte.

Sie hatte ihn in diesem ersten Augenblick begehrt, umstandslos und ohne zu überlegen, so wie sie Verlangen nach etwas zu essen hatte, nach einem Pferd zum Reiten oder einem weichen Bett, um sich hineinzulegen.

Zwei Jahre lang war er im ganzen County ihr Begleiter gewesen, auf Bällen, Fischbarbecues, Picknicks und bei den Gerichtstagen; nicht so oft wie die Tarleton-Zwillinge oder Cade Calvert, nie so aufdringlich wie die Fontaine-Jungs, aber trotzdem verging keine Woche, ohne dass Ashley in Tara vorbeigeschaut hätte.

Schon wahr, er hatte ihr nie den Hof gemacht, noch schmachteten seine klaren grauen Augen je so leidenschaftlich, wie Scarlett es von anderen Männern kannte. Und doch – und doch! –, sie wusste, dass er sie liebte. Darin konnte sie sich nicht täuschen. Ein Instinkt, stärker als alle Vernunft, und ein Wissen, genährt aus Erfahrung, sagten ihr, dass er sie liebte. Zu oft war sie seinem Blick begegnet, wenn seine Augen weder verträumt noch distanziert wirkten und er sie voll Sehnsucht und Traurigkeit ansah, so dass sie ganz verwirrt wurde. Sie wusste, dass er sie liebte. Warum hatte er es ihr nicht gesagt? Das konnte sie nicht verstehen. Aber es gab so vieles an ihm, das sie nicht verstand.

Er war immer zuvorkommend, aber distanziert und unnahbar. Niemand wusste je, woran er dachte, Scarlett am allerwenigsten. In einem Lebensumfeld, wo alle genau das sagten, was ihnen gerade in den Sinn kam, konnte einen Ashleys Zurückhaltung auf die Palme bringen. Bei den üblichen Zerstreuungen im County wie Jagd, Glücksspiel, Tanz und Politik war er genauso kompetent wie die anderen, und reiten konnte er besser als sonst irgendjemand. Aber im Unterschied zu den anderen bildeten diese Belustigungen nicht Sinn und Zweck seines Lebens. Mit seinem Interesse an Büchern und Musik und mit seiner Neigung zur Poesie stand er allein.

Ach, warum war er nur so hinreißend blond, so höflich distanziert, so schrecklich langweilig mit seinem Gerede über Europa und Bücher und Musik und Dichtung und Dinge, die sie nicht im Geringsten interessierten – und trotzdem so begehrenswert? Abends, wenn Scarlett ins Bett ging, nachdem sie mit ihm im Halbdunkel auf der Vorderveranda gesessen hatte, wälzte sie sich stundenlang ruhelos herum und tröstete sich nur mit dem Gedanken, beim nächsten Mal würde er ihr bestimmt einen Antrag machen. Doch das nächste Mal kam und ging, und nichts geschah – außer dass das Fieber, das sie erfasst hatte, stieg und hitziger wurde.

Sie liebte und begehrte ihn, aber sie verstand ihn nicht. Sie war geradeheraus und unkompliziert wie der Wind, der über Tara wehte, und wie der gelbe Fluss, der sich darum herumschlängelte, und bis zum Ende ihrer Tage würde sie nicht fähig sein, etwas Komplexes zu verstehen. Doch jetzt, zum ersten Mal in ihrem Leben, stand sie einem komplexen Charakter gegenüber.

Denn Ashley entstammte einer Familie, die ihre Mußestunden eher zu kontemplativer als zu aktiver Beschäftigung nutzte, zum Träumen bunter Träume, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten. Er bewegte sich in einer Innenwelt, die schöner war als Georgia, und kehrte nur widerstrebend in die Wirklichkeit zurück. Er sah die Menschen und fand sie weder sympathisch noch unsympathisch. Er schaute dem Leben zu und fand es weder beglückend noch betrüblich. Er nahm die Welt und seinen Platz darin als das, was sie nun einmal waren, und wandte sich achselzuckend wieder seiner Musik, seinen Büchern und seiner besseren Welt zu.

Warum Scarlett ihn so faszinierend fand, obwohl seine Mentalität ihr völlig fremd war, wusste sie nicht. Gerade das Geheimnisvolle, das von ihm ausging, erregte ihre Neugier – wie eine Tür ohne Schloss und Schlüssel. Was sie an ihm nicht verstehen konnte, machte sie nur verliebter, und sein seltsam zurückhaltendes Werben verstärkte ihre Entschlossenheit, ihn zu besitzen. Dass er eines Tages um ihre Hand anhalten würde, daran hatte sie nie gezweifelt, denn sie war zu jung und zu verwöhnt, um zu wissen, was eine Niederlage ist. Und jetzt kam diese schreckliche Nachricht wie ein Donnerschlag. Ashley sollte Melanie heiraten! Das konnte nicht wahr sein!

Noch letzte Woche, als sie in der Dämmerung von Fairhill nach Hause ritten, hatte er gesagt: »Scarlett, ich muss dir etwas so Wichtiges sagen, dass ich kaum weiß, wie ich es in Worte fassen soll.«

Sie hatte die Augen sittsam niedergeschlagen, und ihr Herz schlug wild vor Freude, weil sie dachte, der glückliche Moment sei gekommen. Doch dann sagte er: »Nicht jetzt! Wir sind schon fast zu Hause, und die Zeit reicht nicht. Ach, Scarlett, was bin ich doch für ein Feigling!« Und damit gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte mit ihr um die Wette den Hügel nach Tara hinauf.

Scarlett dachte auf ihrem Baumstumpf an diese Worte, die sie so glücklich gemacht hatten, doch plötzlich nahmen sie eine andere, eine grässliche Bedeutung an. Vielleicht hatte er ihr seine Verlobung ankündigen wollen!

Ach, wenn Pa doch endlich käme! Sie konnte die Ungewissheit nicht länger ertragen. Ungeduldig schaute sie wieder die Straße hinunter, und wieder wurde sie enttäuscht.

Die Sonne war unter den Horizont gesunken, und das rote Glühen am Rand der Welt verblasste zu Rosa. Der Himmel wandelte sich langsam von Azur zum zarten Blaugrün eines Drosseleis, und die unirdische Stille der ländlichen Dämmerung legte sich verstohlen über sie. Der Schatten des Halbdunkels kroch über das Land. Die roten Furchen und der Einschnitt der roten Straße verloren ihre magische Blutfarbe und wurden zu schlichter brauner Erde. Jenseits der Straße standen die Pferde, Maultiere und Kühe still auf den Weiden, streckten ihre Köpfe über den Lattenzaun und warteten darauf, zur Abendfütterung in ihre Ställe getrieben zu werden. Sie mochten den dunklen Schatten des Buschwerks nicht, das den Bach säumte, der durch die Viehweiden floss, und spitzten ihre Ohren in Richtung Scarlett, als freuten sie sich der menschlichen Gesellschaft.

Im fremdartigen Halbdunkel ragten die hohen Pinien des Fluss-Sumpflands, das im Sonnenschein so freundlich grünte, schwarz in den pastellfarbenen Himmel, eine undurchdringliche Reihe schwarzer Riesen, die das langsam dahintreibende gelbe Wasser zu ihren Füßen verbarg. Auf dem Hügel jenseits des Flusses verschmolzen die hohen weißen Schornsteine des Wilkes-Hauses nach und nach mit der Düsternis der mächtigen Eichen, die es umstanden, und nur die fernen, stecknadelgroßen Punkte der Tischleuchten verrieten, dass dort ein Haus stand. Die warme dunstige Frühlingsluft umhüllte Scarlett und mischte sich mit dem feuchten Geruch frisch gepflügter Erde und sprießenden Grüns.

Sonnenuntergänge und Frühling und junge Vegetation besaßen für Scarlett keinerlei Zauber. Sie nahm ihre Schönheit als ebenso selbstverständlich hin wie die Luft, die sie atmete, und das Wasser, das sie trank, denn sie hatte Schönheit nie bewusst in irgendetwas anderem gesehen als in Frauengesichtern, Pferden, Seidenkleidern und ähnlich greifbaren Dingen. Dennoch brachte das friedliche Zwielicht über den bestellten Fluren von Tara ein wenig Ruhe in ihr verstörtes Gemüt. Sie liebte dieses Land sehr, ohne sich dessen bewusst zu sein – sie liebte es wie das Gesicht ihrer Mutter unter der Lampe zur Abendandacht.

Immer noch ließ sich Gerald auf der stillen gewundenen Straße nicht blicken. Wenn sie noch deutlich länger wartete, würde Mammy sie mit Sicherheit suchen kommen und sie zurück ins Haus scheuchen. Doch gerade als sie angestrengt die immer dunkler werdende Straße hinunterspähte, hörte sie Hufschlag vom Fuß des Weidehügels und sah Pferde und Kühe erschrocken auseinanderstieben. Gerald O’Hara sprengte querfeldein nach Hause.

Er galoppierte auf seinem fassleibigen, langbeinigen Jagdpferd bergauf und wirkte in der Entfernung wie ein Junge auf einem zu großen Pferd. Sein langes weißes Haar wehte nach hinten, während er das Pferd mit Gerte und lauten Rufen antrieb.

Trotz ihres Kummers betrachtete sie ihn mit liebevollem Stolz, denn Gerald war ein exzellenter Reiter.

»Warum er wohl immer über Zäune setzen muss, wenn er etwas getrunken hat?« dachte sie. »Und das nach dem Sturz, bei dem er sich letztes Jahr genau hier das Knie gebrochen hat. Man würde doch denken, dass er dazulernt. Vor allem, wo er Mutter geschworen hat, nie wieder zu springen.«

Scarlett hatte keine Scheu vor ihrem Vater und fühlte sich ihm altersmäßig näher als ihren Schwestern, denn mit dem Pferd über Zäune zu springen und es vor Mutter geheim zu halten, erfüllte ihn mit einem jungenhaften Stolz und einer Lust am Verbotenen, die ihrem eigenen Vergnügen entsprach, wenn sie Mammy hinters Licht führte. Sie stand auf, um ihn zu beobachten.

Das große Pferd erreichte den Zaun, verhielt kurz und flog dann so mühelos darüber wie ein Vogel; sein Reiter johlte begeistert, hieb mit der Gerte in die Luft, und die weißen Locken standen ihm zu Berge. Ohne seine Tochter im Schatten der Bäume zu bemerken, zog Gerald auf der Straße die Zügel an und tätschelte seinem Pferd anerkennend den Hals.

»Kein Pferd im County kommt an dich ran, sogar im ganzen Staat nicht«, erklärte er ihm stolz im Tonfall der irischen Grafschaft Meath, der seine Zunge immer noch beschwerte, obgleich er schon seit neununddreißig Jahren in Amerika lebte. Dann glättete er rasch sein Haar und zupfte sein verrutschtes Hemd zurecht und die Krawatte, die ihm hinter das Ohr geflattert war. Scarlett wusste, dass er sein Äußeres hastig in Ordnung brachte, um vor seiner Frau als gepflegter Gentleman zu erscheinen, der geruhsam von einem Besuch bei den Nachbarn heimgeritten kam. Das bot ihr einen willkommenen Anknüpfungspunkt für das geplante Gespräch, ohne dass sie ihre wahre Absicht verraten musste.

Sie lachte laut. Wie erwartet, schrak Gerald auf; dann erkannte er sie, und ein gleichzeitig beschämter und trotziger Ausdruck trat in sein rotes Gesicht. Er stieg mit einiger Mühe ab, weil sein Knie steif war, und stapfte mit den Zügeln über dem Arm auf sie zu.

»Soso, kleine Miss«, sagte er und zwickte sie in die Wange, »du spionierst mir also hinterher und willst mich bei deiner Mutter verpetzen wie deine Schwester Suellen letzte Woche?«

Seine heisere Bassstimme klang etwas indigniert, aber zugleich schmeichelnd, während Scarlett mit neckendem »ts-ts-ts« seine Krawatte zurechtrückte. Eine starke Fahne von Bourbon Whisky, vermischt mit einem Hauch von Pfefferminze, schlug ihr entgegen. Dazu gesellte sich der Geruch von Kautabak, gut geöltem Leder und Pferden – ein Zusammenspiel von Düften, das sie immer mit ihrem Vater verband und instinktiv an anderen Männern mochte.

»Nein, Pa, ich bin keine Tratschtante wie Suellen«, beruhigte sie ihn und trat zurück, um sein wiederhergestelltes Erscheinungsbild zu begutachten.

Gerald war ein kleiner Mann, gerade nur 1,55 Meter groß, doch so stämmig und stiernackig, dass er im Sitzen auf Fremde viel größer wirkte. Sein massiger Rumpf ruhte auf kurzen kräftigen Beinen, die immer in den feinsten Lederstiefeln steckten und sich breit gespreizt gegen den Boden stemmten wie bei noch unsicher stehenden Kleinkindern. Die meisten kleinen Männer machen sich durch Wichtigtuerei lächerlich; doch der Zwerghahn genießt Respekt im Hühnerhof, und das galt auch für Gerald. Niemand hätte sich je erdreistet, in Gerald O’Hara einen lächerlichen Knirps zu sehen.

Er war sechzig Jahre alt, sein krauses Lockenhaar war silberweiß, sein listiges Gesicht aber faltenlos, und seine harten, kleinen blauen Augen zeigten die ganze jugendliche Unbekümmertheit dessen, der sein Gehirn nie mit etwas Abstrakterem belastet hatte als der Frage, wie viele Karten er in einem Pokerspiel ziehen sollte. Ein irischeres Gesicht konnte man auch in seinem Heimatland, das er vor so langer Zeit verlassen hatte, weit und breit nicht finden: rund, gerötet, stupsnasig, mit breitem Mund und unbändiger Streitlust.

Hinter seinem cholerischen Auftreten verbarg Gerald O’Hara ein überaus weiches Herz. Er konnte es nicht ertragen, wenn ein Sklave nach einer Zurechtweisung schmollte, egal wie verdient diese war, oder wenn ein Kätzchen maunzte oder ein Kind weinte – aber er hatte eine Heidenangst, diese Schwäche könnte entdeckt werden. Dass jeder, der ihn kennenlernte, innerhalb von fünf Minuten sein gütiges Herz entdeckte, bemerkte er nicht; und sein Stolz hätte mächtig gelitten, wenn er es herausgefunden hätte, denn er genoss die Vorstellung, dass alle erzitterten und flugs gehorchten, wenn er laut schreiend Befehle erteilte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass auf der Plantage nur einer Stimme gehorcht wurde – der sanften Stimme seiner Frau Ellen. Das war ein Geheimnis, das er nie erfahren würde, denn alle, von Ellen bis zur unbedarftesten Pflückerin, waren Teil eines stillschweigenden und freundlichen Komplotts, ihn im Glauben zu wiegen, sein Wort sei Gesetz.

Auf Scarlett machten seine Launen und sein Geschrei am allerwenigsten Eindruck. Sie war sein ältestes Kind, und seit Gerald wusste, dass den drei Söhnen, die auf dem Familienfriedhof begraben lagen, kein weiterer mehr nachfolgen würde, hatte er sich angewöhnt, Scarlett wie von Mann zu Mann zu behandeln, was sie sehr genoss. Sie glich ihrem Vater mehr als ihre jüngeren Schwestern, denn Carreen, mit ganzem Namen Caroline Irene, war zart und verträumt, und Suellen, getauft Susan Elinor, bildete sich viel auf ihre Eleganz und damenhaften Manieren ein.

Außerdem waren Scarlett und ihr Vater durch ein gegenseitiges Verschwiegenheitsabkommen verbunden. Wenn Gerald sie dabei erwischte, wie sie über einen Zaun kletterte, statt eine halbe Meile bis zu einem Gatter zu gehen, oder viel zu spät mit einem Verehrer auf den Stufen der Vorderveranda saß, stellte er sie zwar heftig zur Rede, erwähnte es aber nicht vor Ellen oder Mammy. Und wenn Scarlett ihn dabei ertappte, dass er trotz seines feierlichen Versprechens gegenüber seiner Frau über Zäune setzte, oder wenn sie erfuhr, wie viel er beim Poker verloren hatte, was sie unweigerlich durch den Klatsch im County mitbekam, verzichtete sie darauf, bei Tisch darüber zu reden, wie es Suellen in ihrer arglistig arglosen Art tat. Scarlett und ihr Vater versicherten einander feierlich, dass solche Dinge Ellen nur verletzen würden, und nichts konnte sie je dazu bringen, ihr in ihrer Sanftmut wehzutun.

Scarlett sah ihren Vater im schwindenden Licht an und empfand seine Gegenwart als tröstlich, ohne zu wissen, warum. Es war etwas Vitales und Erdverbundenes und Rauhes in ihm, das sie anzog. Da sie nicht im mindesten die Gabe hatte, Menschen zu analysieren, erkannte sie nicht, dass sie in gewissem Maß die gleichen Eigenschaften besaß, obwohl sich Ellen und Mammy sechzehn Jahre lang nach Kräften bemüht hatten, sie ihr auszutreiben.

»Jetzt siehst du sehr präsentabel aus«, sagte sie, »und keiner kommt darauf, dass du wieder Kunststücke gemacht hast, wenn du nicht selbst damit prahlst. Aber ich finde, wo du dir letztes Jahr das Knie gebrochen hast, solltest du vielleicht nicht gerade über denselben Zaun …«

»Also, hol mich der Teufel, wenn ich mir von meiner eigenen Tochter vorschreiben lasse, über was ich springen darf und über was nicht«, rief er und zwickte sie noch einmal. »Mein Genick geht keinen was an, zum Donnerwetter! Und übrigens, kleine Miss, was treibst du hier draußen ohne deine Stola?«

Da sie sah, dass er sich mit seinen üblichen Schlichen aus einer unliebsamen Situation herauslavieren wollte, hakte sie sich bei ihm unter und sagte: »Ich habe auf dich gewartet. Ich wusste ja nicht, dass du so spät kommst. Ich wollte einfach nur hören, ob du Dilcey gekauft hast.«

»Klar hab ich sie gekauft, und der Preis wird mich ruinieren. Hab sie gekauft und ihr kleines Mädchen, Prissy, dazu. John Wilkes wollte sie fast umsonst hergeben, aber keiner soll sagen, dass Gerald O’Hara seine Freunde bei einem Geschäft über den Tisch zieht. Ich hab ihn gezwungen, dreitausend für beide zu nehmen.«

»Um Himmels willen, Pa, dreitausend! Und Prissy hättest du doch gar nicht kaufen müssen!«

»Ist es schon so weit, dass meine Töchter über mich zu Gericht sitzen?« rief Gerald. »Prissy ist ein hübsches kleines Ding, und so …«

»Ich kenne sie. Sie ist ein verschlagenes dummes Biest«, erwiderte Scarlett ruhig, unbeeindruckt von seiner Lautstärke. »Und du hast sie bloß deswegen gekauft, weil Dilcey dich darum gebeten hat.«

Gerald sah geknickt und verlegen aus, wie immer, wenn er bei einer guten Tat ertappt wurde, und Scarlett lachte unverhohlen über seine Durchschaubarkeit.

»Na, und wenn schon? Hätte es einen Sinn gehabt, Dilcey zu kaufen, wenn sie die ganze Zeit ihrem Kind nachtrauert? Nie wieder werde ich zulassen, dass ein Darky von uns jemanden von woanders heiratet. Das ist zu teuer. Also komm jetzt, Puss, gehen wir zum Abendessen.«

Die Schatten waren dichter geworden, der letzte grünliche Schimmer war vom Himmel gewichen, und eine leichte Kühle verdrängte die milde Frühlingsluft. Doch Scarlett trödelte noch, sie überlegte, wie sie über Ashley sprechen konnte, ohne dass Gerald Verdacht schöpfte. Das war schwierig, denn Scarlett hatte nicht die geringste Begabung, sich zu verstellen; und Gerald glich ihr darin so sehr, dass er ihre schwachen Winkelzüge regelmäßig durchschaute, so wie sie die seinen. Und selten war er dabei taktvoll.

»Wie geht’s denn allen drüben auf Twelve Oaks?«

»So wie immer. Cade Calvert war da, und nachdem ich die Sache mit Dilcey klargemacht hatte, saßen wir alle auf der Säulenveranda und haben ein paar Toddies getrunken. Cade ist gerade aus Atlanta zurück, und da sind sie alle ganz aus dem Häuschen, alle reden vom Krieg, und …«

Scarlett seufzte. Wenn Gerald erst einmal anfing, von Krieg und Sezession zu sprechen, dauerte es Stunden, bevor er davon wieder loskam. Sie fiel ihm mit einem anderen Thema ins Wort.

»Haben sie irgendwas über das Barbecue morgen gesagt?«

»Jetzt, wo du’s sagst, fällt’s mir wieder ein: ja, haben sie. Miss – wie heißt sie noch –, die nette Kleine, die letztes Jahr hier war, Ashleys Cousine – ach ja, Miss Melanie Hamilton heißt sie –, sie und ihr Bruder Charles waren schon aus Atlanta gekommen und …«

»Ach, dann ist sie tatsächlich gekommen?«

»Ja, und sie ist so was von einem lieben stillen Ding, sagt kein Wort von sich aus, genau wie eine Frau sein soll. Komm jetzt, Tochter, mach nicht so langsam. Deine Mutter sucht uns sicher schon.«

Bei dieser Neuigkeit sank Scarlett das Herz. Sie hatte entgegen aller Vernunft gehofft, dass irgendetwas Melanie Hamilton in Atlanta zurückhalten würde, wo sie hingehörte, doch nachdem sogar ihr Vater voll des Lobes war für deren sanftes stilles Wesen, das so wenig dem ihren glich, wagte sie einen Vorstoß.

»War Ashley auch da?«

»Ja.« Gerald löste sich vom Arm seiner Tochter und sah sie scharf an. »Und wenn du deswegen hier draußen auf mich gewartet hast, warum sagst du’s nicht gleich, sondern redest um den heißen Brei rum?«

Scarlett wusste darauf nichts zu sagen und spürte, wie sie vor Ärger rot wurde.

»Also, dann mal raus damit.«

Sie sagte immer noch nichts, sondern wünschte sich nur, man dürfte seinen Vater schütteln und ihm den Mund verbieten.

»Er war da und hat sich sehr nett nach dir erkundigt, so wie auch seine Schwestern, und er hat gesagt, er hofft, dass dich nichts abhält, morgen zum Barbecue zu kommen. Ich gehe mal davon aus, dass es kein Hindernis gibt«, sagte er listig. »Aber jetzt, Tochter, was ist mit dir und Ashley?«

»Nichts ist«, sagte sie kurz und zupfte ihn am Ärmel. »Komm, lass uns heimgehen, Pa.«

»Ach, plötzlich willst du nach Hause gehen«, stellte er fest. »Aber jetzt bleibe ich hier stehen, bis ich weiß, was dich umtreibt. Und da fällt mir ein, dass du dich in letzter Zeit ziemlich komisch benimmst. Hat er dir Augen gemacht? Hat er um deine Hand angehalten?«

»Nein«, sagte sie kurz.

»Das wird er auch nicht«, sagte Gerald.

Sie wollte aufbrausen, doch Gerald gebot ihr mit einem Wink zu schweigen.

»Still jetzt, Miss! Ich hab heute Nachmittag streng vertraulich von John Wilkes erfahren, dass Ashley Miss Melanie heiraten wird. Morgen wird es bekannt gegeben.«

Scarletts Hand glitt von seinem Arm. Es war also wahr!

Der Schmerz zerriss ihr das Herz mit Raubtierzähnen. Bei alledem spürte sie den Blick ihres Vaters, ein wenig mitfühlend, aber auch ein wenig gereizt, weil er ein Problem vor sich sah, für das er keine Antwort hatte. Er liebte Scarlett, aber es bereitete ihm Unbehagen, wenn sie ihn mit ihren kindischen Problemen behelligte und wollte, dass er sie löste. Ellen kannte alle Antworten. An sie hätte Scarlett sich mit ihren Kümmernissen wenden sollen.

»Hast du dich etwa zum Affen gemacht – und uns alle blamiert?« schalt er, denn immer, wenn er in Erregung geriet, wurde er laut. »Bist du einem Mann hinterhergelaufen, der dich nicht liebt, wo du jeden Kerl im County haben kannst?«

Zorn und verletzter Stolz verdrängten etwas von ihrem Schmerz.

»Ich bin ihm nicht hinterhergelaufen. Es … es hat mich bloß überrascht.«

»Du lügst doch!« sagte Gerald; dann blickte er in ihr kummervolles Gesicht und fügte in einem Ausbruch von Anteilnahme hinzu: »Es tut mir leid, Tochter. Aber schließlich bist du nur ein Kind, und es laufen noch jede Menge anderer Verehrer herum.«

»Mutter war erst fünfzehn, als sie dich geheiratet hat, und ich bin sechzehn«, sagte Scarlett mit belegter Stimme.

»Deine Mutter war anders«, sagte Gerald. »Sie war nicht so flatterhaft wie du. Jetzt komm, Tochter, Kopf hoch – dann nehm ich dich nächste Woche mit nach Charleston, da besuchen wir Tante Eulalie, und bei dem ganzen Trara, das sie dort wegen Fort Sumter veranstalten, hast du Ashley in einer Woche vergessen.«

Er hält mich für ein Kind, dachte Scarlett. Trauer und Wut schnürten ihr den Hals zu. Er glaubt, er muss nur mit einem neuen Spielzeug vor mir wedeln, schon vergesse ich meine Wehwehchen.

»Jetzt schieb dein Kinn nicht so vor«, warnte Gerald. »Wenn du ein bisschen Verstand hättest, dann hättest du schon längst Stuart oder Brent Tarleton geheiratet. Denk drüber nach, Tochter. Heirate einen der beiden Zwillinge, dann betreiben wir die Plantagen zusammen, und Jim Tarleton und ich bauen dir ein schönes Haus, genau da, wo sie aneinanderstoßen, in dem großen Pinienhain, und …«

»Hörst du auf, mich wie ein Kind zu behandeln!« rief Scarlett aufgebracht. »Ich habe keine Lust, nach Charleston zu gehen oder ein Haus zu haben oder die Zwillinge zu heiraten. Ich will nur …« Sie hielt inne, aber nicht rechtzeitig.

Geralds Stimme war ungewohnt leise, und er sprach langsam, als holte er seine Worte aus einem Gedankenfundus, der selten benutzt wurde.

»Du willst nur Ashley, den kriegst du aber nicht. Und selbst wenn er dich heiraten wollte, dann würde ich nur mit Bauchschmerzen Ja sagen, so gut ich mit John Wilkes befreundet bin.« Da er ihren bestürzten Blick sah, fuhr er fort: »Ich will, dass mein Mädchen glücklich ist, und mit ihm wärst du nicht glücklich.«

»O doch – doch!«

»Du wärst nicht glücklich, Tochter. Nur wenn Gleich und Gleich heiraten, kommt Glück dabei raus.«

Scarlett hatte plötzlich das hinterhältige Verlangen, laut zu schreien: »Aber ihr seid glücklich! Und du und Mutter, ihr seid nicht gleich«, aber sie unterdrückte es aus Furcht, sich für ihre Unverschämtheit eine Kopfnuss einzuhandeln.

»Unsere Familie und die Wilkes sind verschieden«, fuhr er langsam, nach Worten suchend, fort. »Die Wilkes sind anders als all unsere Nachbarn – anders als alle Familien, die ich je gekannt habe. Das sind sonderbare Leute, und es ist am besten, wenn sie ihre Cousins und Cousinen heiraten und ihre Sonderbarkeit bei sich behalten.«

»Aber, Pa, Ashley ist doch kein …«

»Still jetzt, Puss! Ich habe nichts gegen den Burschen gesagt, ich mag ihn nämlich. Und wenn ich ›sonderbar‹ sage, meine ich nicht ›verrückt‹. Er ist nicht so komisch wie die Calverts, die alles, was sie haben, für ein Pferd aufs Spiel setzen würden, oder die Tarletons, die in jedem Wurf ein oder zwei Säufer haben, oder die Fontaines, diese kleinen hitzköpfigen Bluthunde, die einen Mann wegen einer eingebildeten Beleidigung umlegen. Diese Art Sonderbarkeit lässt sich ja leicht verstehen, und ohne Gottes Gnade wäre Gerald O’Hara auch nicht besser! Ich meine damit auch nicht, dass Ashley mit einer anderen durchbrennen würde, wenn du seine Frau wärst, oder dass er dich schlagen würde. Du wärst geradezu dankbar, wenn er das täte, denn wenigstens das würdest du verstehen. Er ist aber auf eine andere Art sonderbar, und man kann ihn überhaupt nicht verstehen. Ich mag ihn, aber das meiste, was er sagt, hat doch weder Hand noch Fuß. Jetzt sag mal ehrlich, Puss: verstehst du denn den Bohei, den er um Bücher und Gedichte und Musik und Ölbilder und diesen ganzen Blödsinn macht?«

»Ach, Pa!« rief Scarlett voller Ungeduld. »Das würde ich ihm doch alles austreiben, wenn ich mit ihm verheiratet wäre.«

»Ach, tatsächlich?« sagte Gerald unwirsch und warf ihr einen scharfen Blick zu. »Dann verstehst du aber verdammt wenig von Männern, von Ashley ganz zu schweigen. Keine Ehefrau hat je an ihrem Mann auch nur ein Fitzelchen verändert, merk dir das. Und einen Wilkes ändern? Herrgott im Nachtgewand, Tochter! Die ganze Familie ist so, und sie waren schon immer so. Und werden es wahrscheinlich auch bleiben. Ich sage dir, die sind als Käuze auf die Welt gekommen. Schau dir an, wie sie nach New York und Boston rasen, um Opern zu hören und Ölgemälde anzusehen. Und kistenweise französische und deutsche Bücher bei den Yankees bestellen! Und dann sitzen sie da und lesen und träumen Gott weiß was, wenn sie ihre Zeit viel besser mit Jagen oder Pokerspielen verbringen könnten, wie es anständige Männer tun.«

»Niemand im County reitet besser als Ashley«, sagte Scarlett wütend, weil Ashley der Makel der Unmännlichkeit angehängt wurde, »niemand außer vielleicht sein Vater. Und was Poker betrifft: Hat Ashley dir nicht letzte Woche in Jonesboro zweihundert Dollar abgeknöpft?«

»Die Calvert-Jungs haben mal wieder geplaudert«, sagte Gerald resigniert, »sonst wüsstest du die Summe nicht. Ashley kann mit den besten Reitern mithalten und mit den besten Pokerspielern – das gebe ich gerne zu, Puss! Und ich bestreite nicht, dass er sogar die Tarletons unter den Tisch trinken kann, wenn er es darauf anlegt. Er kann das alles, aber sein Herz ist nicht dabei. Deswegen sage ich, dass er sonderbar ist.«

Scarlett schwieg, das Herz wurde ihr schwer. Gegen diesen letzten Vorwurf fiel ihr keine Verteidigung ein, denn sie wusste, dass Gerald recht hatte. All die schönen Dinge, die Ashley so gut konnte, tat er ohne Leidenschaft. Alles, wofür andere brannten, entlockte ihm nicht mehr als höfliches Interesse.

Ihr Schweigen richtig deutend, tätschelte Gerald ihren Arm und sagte triumphierend: »Na also, Scarlett! Du gibst zu, dass es stimmt. Was würdest du mit einem Ehemann wie Ashley anfangen? Mondsüchtig sind sie alle, die ganzen Wilkes.« Und dann, in versöhnlichem Ton: »Dass ich die Tarletons vorhin erwähnt habe, heißt nicht, dass ich sie dir aufdrängen will. Es sind feine Burschen, aber wenn du es auf Cade Calvert abgesehen hast, ist es mir auch recht. Die Calverts sind gute Leute, allesamt, auch wenn der Alte eine Yankee geheiratet hat. Und wenn ich mal nicht mehr bin – still jetzt, mein Schatz, hör mir zu! –, hinterlasse ich Tara dir und Cade …«

»Cade würde ich nicht mal auf einem Silbertablett nehmen«, rief Scarlett entrüstet. »Und ich wünschte, du würdest mich endlich mit ihm verschonen! Ich will weder Tara noch sonst eine blöde Plantage. Plantagen bedeuten gar nichts, wenn …«

Sie wollte sagen »… wenn man nicht den Mann hat, den man will«, aber Gerald empörte sich über die wegwerfende Art, mit der sie sein Geschenk abtat – das, was er neben Ellen auf der Welt am meisten liebte –, und er fing an zu brüllen:

»Nimmst du dir etwa heraus, Scarlett O’Hara, mir zu sagen, dass Tara – dass Land – nichts bedeutet?«

Scarlett nickte trotzig. Ihr Herz tat so weh, dass es sie nicht kümmerte, ob sie ihren Vater zur Raserei brachte.

»Land ist das einzige, was in der Welt überhaupt etwas bedeutet«, rief er, wobei er empört mit seinen dicken, kurzen Armen ruderte, »denn es ist das einzige in der Welt, was Bestand hat, merk dir das! Es ist das einzige, wofür es sich zu arbeiten lohnt, zu kämpfen und sogar zu sterben.«

»O Pa«, sagte sie angewidert, »du redest wie ein Ire!«

»Hab ich mich dafür je geschämt? Nein, ich bin stolz darauf. Und vergiss nie, dass du Halbirin bist, Miss! Für jeden, der einen Tropfen irisches Blut in sich hat, ist das Land, auf dem er lebt, wie seine Mutter. Du solltest dich schämen! Ich biete dir das schönste Land in der Welt – außer dem County Meath im alten Irland –, und was machst du? Du rümpfst die Nase!«

Gerald redete sich allmählich lustvoll in Rage, doch etwas in Scarletts kummervollem Gesicht ließ ihn innehalten.

»Aber du bist ja noch jung. Die Liebe zum Land, die wird schon noch über dich kommen. Du kannst ihr als Irin gar nicht entgehen. Du bist einfach noch ein Kind und hast Ärger mit deinen Verehrern. Wenn du älter bist, wirst du schon sehen, wie das ist … Jetzt brauchst du dich bloß noch für Cade oder die Zwillinge oder für einen von Evan Munroes Jungs zu entscheiden, und du wirst sehen, was für eine schöne Aussteuer du kriegst.«

»O Pa!«

Mittlerweile hatte Gerald die Unterhaltung gründlich satt und ärgerte sich, dass das Problem auf seinen Schultern abgeladen wurde. Außerdem kränkte es ihn, dass Scarlett immer noch unglücklich aussah, obwohl er ihr die besten Jungs im County angeboten hatte, und Tara noch dazu. Gerald wollte, dass seine Gaben mit Händeklatschen und Küssen entgegengenommen wurden.

»Also, jetzt keinen Schmollmund mehr, Miss. Es spielt keine Rolle, wen du heiratest, solange er denkt wie du und ein Gentleman und Südstaatler und stolz ist. Bei Frauen kommt die Liebe nach der Hochzeit.«

»O Pa, das ist so ein Spruch aus dem alten Irland.«

»Und es ist ein guter Spruch! Dieses ganze amerikanische Getue mit dem Heiraten aus Liebe, wie die Dienstboten, wie die Yankees! Am besten sind die Ehen, wo die Eltern die Wahl für das Mädchen treffen. Denn wie soll ein dummes Ding wie du einen guten Mann von einem Schuft unterscheiden? Jetzt sieh dir mal die Wilkes an. Was hat sie über die ganzen Generationen stolz und stark gemacht? Na, dass sie Leute heiraten, die sind wie sie, Cousins und Cousinen, wie es von ihrer Familie immer erwartet wird.«

»Oh«, schrie Scarlett auf, denn von neuem traf sie der Schmerz, als Geralds Worte ihr klarmachten, dass an der schrecklichen Wahrheit nicht zu rütteln war. Gerald betrachtete ihren gesenkten Kopf und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.

»Du weinst doch wohl nicht?« fragte er und griff ihr mit mitleidzerfurchter Miene ungeschickt unters Kinn, um ihren Kopf aufzurichten.

»Nein«, schrie sie heftig und fuhr zurück.

»Du schwindelst, aber ich bin stolz auf dich. Ich bin froh, dass Stolz in dir steckt, Puss. Und ich will dir morgen beim Barbecue deinen Stolz ansehen. Ich will nicht, dass das County über dich tratscht und dich auslacht, weil du dich nach einem Mann verzehrst, der nie einen Gedanken an dich verschwendet hat, abgesehen von Freundschaft.«

Er hat sehr wohl Gedanken an mich verschwendet, dachte Scarlett kummervoll. Oh, sehr viele sogar! Das weiß ich. Ich habe es gespürt. Wenn ich nur ein bisschen mehr Zeit gehabt hätte, dann hätte ich ihn bestimmt so weit gebracht, dass er sagt … Ach, wenn die Wilkes sich nur nicht immer einbilden würden, sie müssten ihre Cousinen heiraten!

Gerald fasste sie unter den Arm.

»Jetzt gehen wir zum Abendessen, und das Ganze bleibt unter uns. Ich werde deine Mutter damit nicht aufregen – und du auch nicht. Putz dir die Nase, Tochter.«

Scarlett schniefte in ihr zerknäultes Taschentuch, und dann gingen sie untergehakt die dunkle Auffahrt hinauf, während das Pferd langsam folgte. Nahe dem Haus wollte Scarlett gerade etwas sagen, doch da sah sie ihre Mutter im Dämmerschatten der Veranda. Sie trug Haube, Umhängetuch und Handschuhe. Hinter ihr stand Mammy, deren Gesicht einer Gewitterwolke glich. In der Hand hielt sie die schwarze Ledertasche, in der Ellen O’Hara immer die Bandagen und Medikamente trug, wenn sie Sklaven verarzten musste. Mammys Lippen waren groß und hingen herab; wenn sie sich aber ärgerte, konnte sie ihre Unterlippe so weit vorschieben, dass sie doppelt so breit wurde. Jetzt war sie vorgeschoben, und Scarlett wusste, dass Mammy irgendetwas mächtig gegen den Strich ging.

»Mr. O’Hara«, rief Ellen, als sie die beiden die Auffahrt heraufkommen sah – Ellen gehörte einer Generation an, die selbst noch nach siebzehn Jahren Ehe und sechs Schwangerschaften förmliche Umgangsformen pflegte –: »Mr. O’Hara, im Haus der Slatterys herrscht Krankheit. Emmie hat ihr Baby geboren, aber es liegt im Sterben und muss getauft werden. Ich gehe mit Mammy hin und sehe, was ich tun kann.«

Sie hob fragend die Stimme, als hinge ihr Plan von Geralds Einverständnis ab, eine reine Förmlichkeit, die Gerald aber sehr schätzte.

»In Gottes Namen«, polterte Gerald. »Wieso muss dich dieses weiße Gesindel ausgerechnet zur Abendessenszeit holen, wenn ich dir erzählen will, was sie in Atlanta über den Krieg reden! Fahr nur, Mrs. O’Hara. Du würdest in der Nacht kein Auge zukriegen, wenn es irgendwo jemandem schlecht geht, dem du nicht helfen kannst.«

»Sie kriegt nachts doch sowieso nie ihre Ruhe, weil sie immer aufsteht und die Nigger und die armen Weißen pflegt, die für sich selber sorgen könnten«, grummelte Mammy vor sich hin, als sie die Stufen hinabging zu dem Einspänner, der in der Seiteneinfahrt wartete.

»Nimm meinen Platz am Tisch ein, Liebes«, sagte Ellen und tätschelte mit ihrer behandschuhten Hand sanft Scarletts Wange.

Trotz ihrer mühsam zurückgehaltenen Tränen schlug Scarletts Herz höher beim nie versiegenden Zauber der mütterlichen Liebkosung und dem leichten Duft von Zitronenverbene, der ihrem raschelnden Seidenkleid entstieg. Für Scarlett hatte Ellen O’Hara etwas Atemberaubendes, sie war wie ein Wunder, das mit ihr im Haus wohnte und sie einschüchterte, betörte und tröstete.

Gerald half seiner Frau in die Kutsche und wies den Fahrer an, vorsichtig zu fahren. Toby, der seit zwanzig Jahren Geralds Pferde betreute, schob in stummer Entrüstung seine Lippen vor: als ob man ihm sagen müsste, wie er seine Arbeit zu verrichten hatte! Bei der Abfahrt, Mammy saß neben ihm, gaben beide ein perfektes Bild schmollender afrikanischer Missbilligung ab.

»Wenn ich nicht so viel für dieses Slattery-Gesindel tun würde, was sie anderswo bezahlen müssten«, schäumte Gerald, »würden sie mir ihre erbärmlichen paar Morgen Sumpfland verkaufen, und das County wäre sie endlich los.« Doch dann, in der Vorfreude auf einen seiner Streiche, hellte sich sein Gesicht auf: »Komm, Tochter, wir wollen Pork weismachen, statt Dilcey zu kaufen hätte ich ihn an John Wilkes verkauft.«

Er warf die Zügel einem kleinen Sklavenjungen zu, der in der Nähe stand, und schritt die Stufen hinauf. Er hatte Scarletts Kummer schon vergessen und dachte nur noch daran, sich auf Kosten seines Leibdieners einen Spaß zu machen. Scarlett folgte ihm langsam mit bleischweren Füßen. Eine Verbindung zwischen ihr und Ashley erschien ihr nicht sonderbarer als die zwischen ihrem Vater und Ellen Robillard O’Hara. Wie immer fragte sie sich, wie ihr lauter und ruppiger Vater es fertiggebracht hatte, eine Frau wie ihre Mutter zu heiraten, denn keine zwei Menschen konnten aufgrund von Geburt, Erziehung und Denkweise weiter voneinander entfernt sein.

Vom Wind verweht

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