Читать книгу Vom Wind verweht - Маргарет Митчелл - Страница 17

KAPITEL 8

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Auf der Zugfahrt nach Norden an diesem Morgen im Mai 1862 überlegte Scarlett, dass Atlanta unmöglich so langweilig sein konnte wie Charleston oder Savannah, und so war sie trotz ihrer Abneigung gegen Miss Pittypat und Melanie gespannt, wie es der Stadt seit ihrem letzten Besuch im Winter vor Kriegsbeginn ergangen war.

Für Atlanta hatte sie immer mehr übriggehabt als für alle anderen Städte, weil Gerald ihr, als sie klein war, erzählt hatte, sie und Atlanta seien gleich alt. Später kam sie allerdings dahinter, dass Gerald es mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen hatte, wie immer, wenn ein bisschen Flunkern einer Geschichte aufhalf, aber Atlanta war nur neun Jahre älter als sie selbst und damit erstaunlich jung im Vergleich zu allen sonstigen Städten, von denen sie je gehört hatte. Savannah und Charleston strahlten eine gewisse Alterswürde aus; die eine zählte weit über hundert Jahre, während die andere sogar schon ihr drittes Jahrhundert anbrach, und Scarletts jungen Augen waren beide immer wie uralte Großmütter erschienen, die friedlich in der Sonne sitzen und sich Luft zufächeln. Atlanta gehörte dagegen ihrer eigenen Generation an, es hatte etwas ungehobelt Junges an sich und war ebenso eigensinnig und ungestüm wie sie selber.

Geralds Erzählung basierte auf der Tatsache, dass sie und Atlanta im selben Jahr getauft worden waren. Neun Jahre vor Scarletts Geburt hieß die Stadt Terminus, später dann Marthasville, und erst in Scarletts Geburtsjahr wurde sie zu Atlanta.

Als Gerald in den Norden Georgias zog, gab es an dieser Stelle nicht einmal so etwas wie ein Dorf; der Ort war reine Wildnis. Doch 1836, im darauffolgenden Jahr, hatte der Staat den Bau einer Eisenbahnlinie Richtung Nordwesten genehmigt, durch das Gebiet, das die Cherokee kurz zuvor abgetreten hatten. Das Ziel der geplanten Strecke, Tennessee und der Westen, stand fest, doch der Ausgangspunkt in Georgia war einigermaßen unsicher, bis ein Ingenieur ein Jahr später einen Pfahl in den roten Lehm rammte, um das südliche Ende der Bahnlinie zu markieren, und damit war Atlanta, ehedem Terminus, geboren.

Damals existierte überhaupt keine Eisenbahnlinie im Norden Georgias, und auch sonst gab es nur sehr wenige. Aber in den Jahren vor Geralds Heirat mit Ellen wuchs die winzige Siedlung zwanzig Meilen nördlich von Tara allmählich zu einem Dorf heran, und die Schienen bahnten sich ihren Weg nach Norden. Und nun erst begann die eigentliche Ära des Eisenbahnbaus. Von der alten Stadt Augusta aus wurde eine zweite Eisenbahnlinie durch den Staat nach Westen gelegt, um einen Anschluss an die neue Strecke nach Tennessee zu schaffen. Aus der alten Stadt Savannah wurde eine dritte Linie zunächst bis Macon im Herzen Georgias und schließlich nordwärts durch Geralds County bis nach Atlanta gebaut, um an die beiden anderen Strecken anzuschließen und für Savannahs Hafen eine Verbindung in den Westen herzustellen. Von ebendiesem Knotenpunkt, vom jungen Atlanta aus, wurde eine vierte Bahnlinie Richtung Südwesten nach Montgomery und Mobile gebaut.

Durch eine Eisenbahnlinie entstanden, wuchs Atlanta im Gleichschritt mit den Bahngleisen. Nach Vollendung aller vier Strecken war Atlanta mit dem Westen, dem Süden, der Küste und – via Augusta – mit dem Norden und Osten verbunden. Es war zum Kreuzungspunkt der Nord-Süd- und der Ost-West-Achsen geworden, und das kleine Dorf tat einen Sprung ins Leben.

In einem Zeitraum kaum länger als Scarletts siebzehn Jahre hatte sich Atlanta von einem Pfosten im Boden zu einem blühenden Städtchen mit zehntausend Einwohnern entwickelt, das die Aufmerksamkeit des gesamten Staates auf sich zog. Die älteren, gesetzteren Städte beäugten die geschäftige neue Stadt mit dem Misstrauen einer Henne, die ein Entlein ausgebrütet hat. Weshalb unterschied sich dieser Ort so stark von allen anderen in Georgia? Warum wuchs er so schnell? Sie fanden, er habe eigentlich nichts vorzuweisen – außer seinen Eisenbahnlinien und einer Menge sehr rühriger Leute.

Die Menschen, die sich in der neuen Stadt niederließen, waren tatsächlich ungemein unternehmerisch. Rastlose, energische Männer aus den älteren Teilen Georgias und aus weiter entfernten Staaten wurden von dieser Stadt angezogen, die um den Eisenbahnknoten herumwucherte. Sie kamen voller Tatendrang und bauten ihre Geschäfte an den fünf roten Lehmstraßen, die sich nahe dem Bahnhof kreuzten. Ihre schönen Wohnhäuser bauten sie an der Whitehall und der Washington Street und entlang dem Hügelrücken, auf dem unzählige Generationen von Indianern mit ihren Mokassins einen Pfad getrampelt hatten, der Peachtree Trail genannt wurde. Sie waren stolz auf diesen Ort, stolz auf sein Wachstum, stolz auf sich selbst, die dieses Wachstum verursacht hatten. Sollten doch die älteren Städte Atlanta schlechtreden, wenn sie wollten. Atlanta konnte das gleichgültig sein.

Scarlett hatte Atlanta immer gemocht, aus den gleichen Gründen, aus denen Savannah, Augusta und Macon es verteufelten. Genau wie sie selbst war die Stadt eine Mischung aus allem, was es in Georgia an Altem und Neuem gab, wobei das Alte in seinem Konflikt mit dem willensstarken, kraftvollen Neuen oft den Kürzeren zog. Außerdem hatte eine Stadt, die im selben Jahr geboren oder wenigstens getauft war wie man selbst, etwas aufregend Persönliches an sich.

* * *

Die Nacht zuvor war stürmisch und regnerisch gewesen, doch als Scarlett in Atlanta ankam, schien die Sonne warm und versuchte tapfer, die Straßen, die sich in rot schlängelnde Schlammflüsse verwandelt hatten, zu trocknen. Auf dem freien Platz rund um den Bahnhof war der weiche Boden durch den ununterbrochenen Durchgangsverkehr so aufgerissen und umgewühlt worden, dass er einer riesigen Schweinesuhle glich, und hie und da steckten die Wagen bis zur Radnabe in den Furchen. Eine unaufhörliche Reihe von Armee- und Ambulanzwagen brachte Nachschub zu den Zügen und lud Verwundete ab, und sie verschlimmerten den Schlamm und das Durcheinander beträchtlich, wenn sie sich heran- und wieder hinauskämpften. Die Kutscher fluchten, die Maultiere sanken ein, und der Matsch spritzte meterweit.

Scarlett stand auf der untersten Wagenstufe, eine hübsche, blasse Gestalt in schwarzem Trauergewand, dessen Crêpe-Schleier fast bis zu den Absätzen wallte. Sie zauderte, denn sie wollte ihre Schuhe und Rocksäume nicht schmutzig machen, und blickte sich suchend in dem lärmenden Wirrwarr von Wagen, Einspännern und Kutschen nach Miss Pittypat um. Es fand sich keine Spur von der rundlichen rosigen Dame, doch während Scarlett ängstlich Ausschau hielt, kam ein alter, grauhaariger Schwarzer, der Würde und Autorität ausstrahlte, mit dem Hut in der Hand durch den Morast heran.

»Da hamwer Miss Scarlett, stimmt’s? Das hier is Peter, Miss Pittys Kutscher. Nich in den Matsch steigen!« befahl er streng, als Scarlett ihre Röcke raffte. »Sie sind genauso schlimm wie Miss Pitty, die is wie ’n Kind, wenn sie ihre Füße nass machen kann. Ich trag Sie.«

Er hob Scarlett trotz seines Alters und seiner scheinbaren Gebrechlichkeit mühelos in die Höhe, doch dann bemerkte er Prissy, die mit dem Baby in den Armen auf der Wagenplattform stand, und hielt inne. »Is das Kind da Ihrs? Miss Scarlett, die is zu jung, um auf Mister Charles sein einziges Kind aufzupassen. Aber da kümmern wir uns später drum. Du, Kleine, komm mir nach, und lass bloß das Baby nich fallen!«

Scarlett ließ sich gehorsam zur Kutsche tragen und erhob auch keinen Widerspruch gegen die herrische Art, mit der Uncle Peter sie und Prissy zurechtwies. Während sie sich durch den Matsch kämpften und Prissy schmollend hinterherpatschte, fiel Scarlett ein, was Charles über Uncle Peter erzählt hatte.

»Er hat die ganzen Feldzüge in Mexiko an der Seite meines Vaters mitgemacht und hat ihn gepflegt, als er verwundet war – er hat ihm sogar das Leben gerettet. Uncle Peter hat Melanie und mich praktisch aufgezogen, denn wir waren noch klein, als Vater und Mutter starben. Tante Pitty zerstritt sich etwa zur selben Zeit mit ihrem Bruder, Onkel Henry, deshalb zog sie zu uns und kümmerte sich um uns. Sie ist eine völlig hilflose Seele – wie ein liebes, erwachsenes Kind, und so behandelt Uncle Peter sie auch. Sie kann beim besten Willen keine Entscheidung fällen, also tut Uncle Peter das für sie. Er war es, der dafür sorgte, dass ich mit fünfzehn mehr Taschengeld bekam, und er bestand darauf, dass ich für mein letztes College-Jahr nach Harvard wechselte, während Onkel Henry wollte, dass ich meinen Abschluss an der University of Georgia mache. Und er entschied, ab welchem Alter Melly ihr Haar hochstecken und auf Partys gehen durfte. Er erklärt Tante Pitty, wann es zu kalt oder zu nass ist, um Besuche zu machen, und wann sie eine Stola umlegen soll … Er ist der klügste alte Darky, den ich je gesehen habe, und auch der treueste. Das einzige Problem mit ihm ist, dass er uns drei vollständig unter seiner Fuchtel hat, mit Leib und Seele, und das weiß er auch.«

Charles’ Worte bestätigten sich, als Peter den Kutschbock bestieg und die Peitsche ergriff.

»Miss Pitty regt sich furchtbar auf, weil sie nich zum Abholen gekommen is. Sie hat Angst, dass Sie das vielleicht nich verstehn, aber ich hab ihr gesagt, dass sie und Melly sich bloß mit Matsch vollspritzen und ihre neuen Kleider verschandeln, und dass ich’s Ihnen erkläre. Miss Scarlett, nehmen Sie mal lieber das Kind. Das Gör wird’s noch fallen lassen.«

Scarlett warf Prissy einen Blick zu und seufzte. Prissy war nicht sonderlich geeignet als Kindermädchen. Ihre jüngst erfolgte Beförderung von einem dürren Kind mit kurzem Rock und steifen Zöpfchen zu einer Respektsperson in langem Kalikokleid und gestärktem weißem Turban war ihr etwas zu Kopf gestiegen. Sie wäre niemals so früh zu solcher Bedeutung aufgestiegen, wenn nicht die Erfordernisse des Krieges und die Ansprüche der Versorgungsstelle an Tara es Ellen unmöglich gemacht hätten, auf Mammy oder Dilcey oder auch nur auf Rosa oder Teena zu verzichten. Prissy war noch nie weiter als eine Meile von Twelve Oaks oder Tara weggekommen, und die Zugfahrt plus ihre Beförderung zum Kindermädchen waren fast mehr, als ihr kleines Hirn verkraften konnte. Die zwanzig Meilen lange Fahrt von Jonesboro nach Atlanta hatte sie so aufgeregt, dass Scarlett gezwungen war, das Baby auf der ganzen Fahrt selber zu halten. Nun brachte der Anblick so vieler Gebäude und Menschen Prissy endgültig aus dem Gleichgewicht. Sie drehte sich von einer Seite zur anderen, deutete auf Dinge, hüpfte herum und rüttelte das Baby so durch, dass es verzweifelt jammerte. Scarlett sehnte sich nach Mammys dicken alten Armen. Mammy brauchte ein Kind bloß zu berühren, und es hörte sofort auf zu weinen. Aber Mammy war in Tara, und Scarlett konnte nichts tun. Es hatte keinen Sinn, Prissy Wade wegzunehmen. Wenn sie selbst ihn hielt, schrie er genauso laut wie bei Prissy. Außerdem würde er an ihren Haubenbändern zerren und ohne Zweifel ihr Kleid zerknittern. Daher tat sie so, als habe sie Uncle Peters Vorschlag nicht gehört.

»Vielleicht lerne ich irgendwann, mit Babys umzugehen«, dachte sie verstimmt, während die Kutsche aus dem Morast vor dem Bahnhof hinauszuckelte und -ruckelte, »aber es wird mir nie Spaß machen, mich mit ihnen zu beschäftigen.« Und als Wades Gesicht vor Gebrüll lila anlief, zischte sie gereizt: »Gib ihm den Zuckerschnuller aus deiner Tasche, Priss. Tu irgendwas, damit er still ist. Ich weiß, dass er Hunger hat, aber das kann ich jetzt nicht ändern.«

Prissy holte den Zuckerschnuller hervor, den Mammy ihr an diesem Morgen gegeben hatte, und die Babyschreie verstummten. Nachdem wieder Ruhe herrschte und so viel Neues zu sehen war, begann sich Scarletts Laune ein wenig zu bessern. Als Uncle Peter schließlich die Kutsche aus den Schlammlöchern heraus in die Peachtree Street manövriert hatte, fühlte sie zum ersten Mal seit Monaten Neugier in sich aufsteigen. Wie war die Stadt gewachsen! Ihr letzter Besuch war erst etwas über ein Jahr her, aber es schien unmöglich, dass das kleine Atlanta, das sie kannte, sich derartig verändert hatte.

Im vergangenen Jahr war sie so mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt gewesen, so gelangweilt von jeder Erwähnung des Krieges, dass ihr vollständig entging, wie dramatisch sich Atlanta von der ersten Minute der Kampfhandlungen an verwandelt hatte. Dieselben Eisenbahnlinien, die die Stadt in Friedenszeiten zu einem Umschlagplatz für den Warenverkehr gemacht hatten, waren nun im Krieg von entscheidender strategischer Bedeutung. Weit entfernt von der Front bildete die Stadt mit ihren Gleisen die Verbindung zwischen den beiden konföderierten Armeen, der in Virginia und der in Tennessee und im Westen. Und außerdem verband Atlanta beide Armeen mit dem tieferen Süden, aus dem sie ihren Nachschub erhielten. Aufgrund der Erfordernisse des Krieges war Atlanta ein Produktionszentrum geworden, ein Lazarettstützpunkt und eines der wichtigsten Depots für Nahrungsmittel und Nachschub für die Armeen im Feld.

Scarlett schaute sich vergeblich nach der kleinen Stadt um, an die sie sich so lebhaft erinnerte. Die gab es nicht mehr. Die Stadt, die sie jetzt sah, glich einem Baby, das über Nacht zu einem tatkräftigen Riesen herangewachsen ist.

Atlanta summte wie ein Bienenstock, im stolzen Bewusstsein seiner Wichtigkeit für die Konföderation. Tag und Nacht wurde daran gearbeitet, eine landwirtschaftliche Region in eine Industrieregion zu verwandeln. Vor dem Krieg hatte es südlich von Maryland nur wenige Baumwollspinnereien, Wollwebereien, Waffen- und Maschinenfabriken gegeben – was alle Südstaatler mit Stolz erfüllte. Der Süden brachte Staatsmänner und Soldaten, Pflanzer und Ärzte, Rechtsanwälte und Dichter hervor, aber gewiss keine Ingenieure und Mechaniker. Sollten doch die Yankees diese niederen Berufe ausüben. Aber jetzt, da die Häfen der Konföderierten durch die Kanonenboote der Yankees gesperrt waren, gelangten europäische Güter nur spärlich ins Land, wenn die Blockade durchbrochen wurde, und der Süden versuchte verzweifelt, sein Kriegsmaterial selbst zu produzieren. Der Norden konnte sich an die gesamte Welt wenden, um Nachschub und Soldaten zu bekommen, und Tausende Iren und Deutsche strömten in die Armee der Union, verlockt durch das Handgeld, das der Norden ihnen bot. Der Süden war auf sich selbst zurückgeworfen.

In Atlanta gab es Maschinenfabriken, die in schleppender Langsamkeit Maschinen für die Produktion von Kriegsgerät herstellten – langsam, weil es im Süden nur wenige Maschinen gab, an denen man sich orientieren konnte, und weil fast jedes Rad und jedes Zahnrad nach Zeichnungen angefertigt wurde, die von England aus erst die Blockade überwinden mussten. Man sah jetzt fremde Gesichter auf den Straßen Atlantas, und die Einwohner, die vor einem Jahr noch bei einem westlichen Akzent die Ohren gespitzt hätten, kümmerten sich nicht im Geringsten um die fremden Sprachen der Europäer, die trotz der Blockade gekommen waren, um Maschinen zu bauen und Munition für die Konföderierten zu produzieren. Es waren fähige Männer, ohne die die Konföderation große Schwierigkeiten gehabt hätte, Pistolen, Gewehre, Kanonen und Schießpulver herzustellen.

Man konnte beinahe den Herzschlag der Stadt spüren, während Tag und Nacht daran gearbeitet wurde, das Kriegsmaterial durch die Eisenbahnarterien an die beiden Kriegsfronten zu pumpen. Die Züge donnerten zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Stadt und wieder hinaus. Ruß aus den neu erbauten Fabriken regnete in dichten Wolken auf die weißen Häuser. In der Nacht glühten die Hochöfen, und die Hämmer dröhnten noch lange, nachdem die Stadtbewohner ins Bett gegangen waren. Wo im Vorjahr Grundstücke brachgelegen hatten, fanden sich jetzt Manufakturen, die Zaumzeug, Sättel und Stiefel fertigten, Waffenfabriken, die Revolver und Kanonen produzierten, Walzwerke und Gießereien, die Eisenschienen und Güterwägen herstellten, um diejenigen zu ersetzen, die die Yankees zerstört hatten, und alle möglichen Betriebe, in denen Sporen, Geschirrteile, Beschläge, Zelte, Knöpfe, Pistolen und Säbel erzeugt wurden. In den Gießereien begann bereits das Eisen knapp zu werden, denn durch die Blockade kam wenig bis gar nichts, und die Bergwerke in Alabama standen fast still, weil die Bergleute an der Front waren. Es gab auf den Rasenflächen Atlantas keine eisernen Staketenzäune, keine eisernen Gartenhäuschen, keine Eisentore, nicht einmal Eisendenkmäler mehr, denn sie hatten alle schon früh den Weg in die Schmelztiegel der Walzwerke gefunden.

Hier an der Peachtree Street lagen die Hauptquartiere der verschiedenen Heeresabteilungen; jedes Büro wimmelte von Uniformierten, die Requirierungsbehörde, das Fernmeldekorps, die Feldpost, der Eisenbahntransport, die Kommandantur der Militärpolizei. Am Stadtrand waren die Remonten angesiedelt, wo Pferde und Maultiere sich in großen Pferchen drängten, und in den Seitenstraßen lagen die Lazarette. Als Uncle Peter Scarlett von ihnen erzählte, erschien ihr Atlanta als eine Stadt der Verwundeten, denn es gab allgemeine Lazarette, Seuchenlazarette und Rekonvaleszentenlazarette ohne Zahl. Und Tag für Tag spien die Züge unterhalb von Five Points noch mehr Kranke und Verwundete aus.

Das kleine Städtchen war verschwunden, und die rasend schnell wachsende Stadt barst geradezu vor unaufhörlicher Energie. Der Anblick von so viel Geschäftigkeit raubte Scarlett, die frisch aus der ländlichen Ruhe kam, fast den Atem, aber er gefiel ihr. Der Ort hatte eine quirlige Atmosphäre, die sie aufmunterte. Es war, als spürte sie, wie der beschleunigte, regelmäßige Puls der Stadt im Gleichklang mit dem ihren schlug.

Während sie sich langsam ihren Weg durch die Schlaglöcher der Hauptstraße bahnten, bemerkte sie interessiert all die neuen Gebäude und Gesichter. Die Bürgersteige waren voll Uniformierter, die Abzeichen aller Dienstgrade und Waffengattungen trugen; die enge Straße war verstopft mit Fahrzeugen – Kutschen, zweirädrigen Wagen, Ambulanzen, Planwagen der Armee mit zivilen Fuhrmännern, die fluchten, während sich die Maultiere durch die Wagenrillen kämpften. Graugekleidete Kuriere stürmten mit Befehlen und telegrafischen Depeschen durch die Straßen von einem Hauptquartier zum nächsten, Genesende humpelten an Krücken umher, gewöhnlich mit einer hilfsbereiten Dame auf jeder Seite. Von den Exerzierplätzen, wo die Rekruten ausgebildet wurden, ertönten Horn- und Trommelsignale und gebellte Befehle. Und dann schlug Scarlett das Herz bis zum Hals, denn sie sah zum ersten Mal Yankee-Uniformen, als Uncle Peter mit seiner Peitsche auf eine Abteilung abgerissen aussehender Blauröcke deutete, die von Konföderierten mit aufgepflanzten Bajonetten zum Bahnhof eskortiert wurden, um in den Zug zum Gefangenenlager verladen zu werden.

Oh, dachte Scarlett mit dem ersten echten Gefühl von Freude seit dem Tag des Barbecues, hier wird es mir gefallen! Es ist so lebendig und aufregend!

Die Stadt war sogar weit lebendiger, als sie ahnte, denn es gab Dutzende neuer Bars; Prostituierte im Kielwasser der Armee schwärmten durch die Stadt, und zum Entsetzen der frommen Kirchenleute sprossen gut besetzte Bordelle aus dem Boden. Alle Hotels, Pensionen und Privathäuser waren randvoll mit Besuchern, die ihren verwundeten Angehörigen in den großen Lazaretten Atlantas nahe sein wollten. Jede Woche wurden Partys und Bälle und Basare abgehalten, und es gab Kriegstrauungen ohne Zahl: die jungen Männer auf Heimaturlaub in Hellgrau mit goldenen Tressen und die Bräute im Putz, der über die Hürden der Blockade gedrungen war; gekreuzte Säbel bildeten den Ehrengang, Toasts wurden mit Blockadechampagner ausgebracht, und dann kam der tränenreiche Abschied. Nacht für Nacht hallten die baumbestandenen Boulevards von tanzenden Füßen wider, und aus den Salons klimperte Klaviermusik, Sopranstimmen mischten sich mit den Stimmen der Soldaten in der gefälligen Melancholie von The Bugles Sang Truce und Your Letter Came, but Came Too Late. Derlei traurige Balladen konnten sanftmütige Augen, die noch keinen echten Kummer erfahren hatten, mit Tränen der Erregung füllen.

Während sie sich durch den schmatzenden Schlamm voranarbeiteten, bestürmte Scarlett Peter mit Fragen, die dieser beantwortete, indem er mit seiner Peitsche hierhin und dorthin deutete und stolz seine Kenntnisse vorführte.

»Das is das Arsenal. Ja, Ma’m, da werden Gewehre und so Sachen aufbewahrt. Nein, Ma’m, das da sind keine Läden, das sind Blockadebüros. Gott, Miss Scarlett, wissen Sie nich, was ’n Blockadebüro is? Das is ’n Büro, wo ’n Ausländer drin is, der kauft uns konföderierte Baumwolle ab und bringt sie mit nem Schiff aus Charleston und Wilmington weg und dann bringt er uns Schießpulver zurück. Nee, Ma’m, ich hab keine Ahnung, was für ne Sorte Ausländer das is. Miss Pitty sagt, das sind Engländer, aber wenn die reden, kamman kein Wort verstehn. Ja, Ma’m, es is verdammt rauchig, und der Ruß ruwiniert ziemlich Miss Pittys Seidenvorhänge. Der kommt von der Gießerei und den Walzwerken. Und was die nachts für nen Krach machen! Da kann keiner schlafen. Nee, Ma’m, ich kann nich anhalten, damit Sie sich umgucken können. Ich hab Miss Pitty versprochen, dass ich Sie schnurstracks nach Hause bringe … Miss Scarlett, nicken Sie mal da rüber. Da sind Miss Merriwether und Miss Elsing, die grüßen Sie.«

Scarlett erinnerte sich dunkel an zwei Damen mit diesen Namen, die zu ihrer Hochzeit von Atlanta nach Tara gekommen waren, und es fiel ihr ein, dass sie Miss Pittypats beste Freundinnen waren. Daher wandte sie sich rasch in die Richtung, in die Uncle Peter zeigte, und verbeugte sich. Die beiden saßen in einer Kutsche vor einem Textilgeschäft. Der Eigentümer und zwei Angestellte standen auf dem Gehweg, beladen mit Ballen von Baumwollstoffen, die sie den Damen vorgeführt hatten. Mrs. Merriwether war eine große, korpulente Dame, die so eng geschnürt war, dass ihr Busen wie ein Schiffsbug vorsprang. Ihre Frisur wurde durch falsche Locken aufgehübscht, deren stolzes Braun jedoch partout nicht zum übrigen eisengrauen Haar passen wollte. In ihrem runden, geröteten Gesicht verband sich wohlwollende Schlauheit mit der Gewohnheit zu befehlen. Mrs. Elsing war jünger, eine magere, zerbrechliche Frau, die ehedem eine Schönheit gewesen war und sich eine verblasste Frische erhalten hatte, ein gewisses elegant-herrisches Gebaren.

Diese beiden Damen waren neben einer dritten, Mrs. Whiting, die Stützen Atlantas. Sie hatten die drei Kirchen, denen sie jeweils angehörten, unter ihrer Fuchtel, mitsamt den Geistlichen, den Chören und den Gemeindemitgliedern. Sie organisierten Basare und präsidierten über Nähzirkel, waren Anstandsdamen bei Bällen und Picknicks, sie wussten, wer eine gute Partie machte und wer nicht, wer heimlich trank und wer wann ein Baby erwartete. Sie waren Expertinnen in der Genealogie aller Leute, die in Georgia, South Carolina und Virginia etwas darstellten. Mit den anderen Staaten belasteten sie ihre Gedanken nicht weiter, denn sie waren überzeugt, dass niemand, der etwas darstellte, aus einem anderen Staat als diesen dreien kommen konnte. Sie wussten, was sich schickte und was nicht, und hielten mit ihrer diesbezüglichen Meinung nicht hinter dem Berg – Mrs. Merriwether mit Stentorstimme, Mrs. Elsing mit geziert ersterbenden, gedehnten Silben und Mrs. Whiting in vornehm gequältem Geflüster, das durchblicken ließ, wie ungern sie über derlei Dinge sprach. Die drei Damen misstrauten sich gegenseitig und konnten sich so wenig ausstehen wie das erste Triumvirat in Rom, und vermutlich hatten sie sich aus demselben Grund verbündet.

»Ich habe Pitty schon gesagt, dass ich Sie in meinem Lazarett haben muss«, rief Mrs. Merriwether lächelnd. »Sagen Sie bloß nicht Mrs. Meade oder Mrs. Whiting zu!«

»O nein«, sagte Scarlett, die nicht die geringste Ahnung hatte, wovon Mrs. Merriwether sprach, aber es sehr genoss, herzlich willkommen geheißen und gebraucht zu werden. »Ich hoffe, wir sehen uns bald.«

Die Kutsche pflügte vorwärts und hielt einen Augenblick vor zwei Frauen an, die mit Körben voller Bandagen vorsichtig auf Trittsteinen die Straße überquerten. In diesem Moment wurde Scarletts Blick von einer Gestalt auf dem Bürgersteig gefesselt, die ein schreiend buntes Kleid trug – zu bunt für Straßenkleidung –, und darüber ein Paisleytuch mit Fransen bis zu den Schuhabsätzen. Als sie sich umdrehte, sah sie eine hochgewachsene, gutaussehende Frau mit herausforderndem Gesicht und einer Fülle roter Haare, die zu rot waren, um echt zu sein. Es war das erste Mal, dass Scarlett eine Frau sah, die mit Sicherheit »etwas mit ihren Haaren gemacht« hatte, und sie betrachtete sie fasziniert.

»Uncle Peter, wer ist denn das?« flüsterte sie.

»Weiß nich.«

»Das weißt du wohl, das merke ich. Wer ist es?«

»Sie heißt Belle Watling«, sagte Uncle Peter und schob die Unterlippe vor.

Scarlett bemerkte sofort, dass er dem Namen kein »Miss« oder »Mrs.« vorangestellt hatte.

»Wer ist das?«

»Miss Scarlett«, sagte Peter finster und ließ die Peitsche auf das erschrockene Pferd niedersausen. »Das wird Miss Pitty nich gefallen, wenn Sie Fragen stellen, die Sie nix angehn. Es gibt ’n Haufen Volk in dieser Stadt, über die man nich reden sollte.«

Lieber Himmel, dachte Scarlett, vom Tadel zum Schweigen gebracht. Das muss ein schlimmes Frauenzimmer sein.

Sie hatte noch nie ein schlimmes Frauenzimmer gesehen, und sie verdrehte den Kopf und starrte ihr hinterher, bis sie sich in der Menge verlor.

Die Läden und die neuen Kriegsgebäude standen nun weiter auseinander, und unbebaute Grundstücke lagen dazwischen. Endlich ließen sie die Geschäftsbezirke hinter sich und Wohnhäuser kamen in Sicht. Scarlett entdeckte alte Bekannte unter ihnen, das Haus der Leydens, würdevoll und stattlich, das der Bonnells mit kleinen weißen Säulen und grünen Fensterläden, das unnahbare georgianische Ziegelhaus der Familie McLure hinter seinen gestutzten Buchsbaumhecken. Sie kamen nun noch langsamer voran, denn aus Veranden und Gärten und vom Bürgersteig riefen ihr Damen Grüße zu. Manche kannte sie flüchtig, an andere erinnerte sie sich undeutlich, aber die meisten kannte sie überhaupt nicht. Pittypat hatte offensichtlich ihre Ankunft überall angekündigt. Der kleine Wade musste immer wieder hochgehoben werden, damit die Damen, die sich bis zu ihren Kutschsteinen durch den Schlick wagten, in Begeisterung über ihn ausbrechen konnten. Alle riefen sie ihr zu, dass sie unbedingt in ihre und ja nicht in andere Strick- und Nähkränzchen und Lazarettkomitees eintreten dürfe, und sie versprach unbekümmert alles nach beiden Seiten hin.

Als sie an einem weitläufigen grünen Schindelhaus vorbeifuhren, rief ein kleines schwarzes Mädchen, das auf der Vordertreppe postiert worden war: »Da kommt sie!«, und Dr. Meade und seine Frau und der kleine dreizehnjährige Phil kamen heraus, um sie zu begrüßen. Scarlett erinnerte sich, dass auch sie an ihrer Hochzeit teilgenommen hatten. Mrs. Meade stieg auf den Kutschstein des Hauses und verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf das Baby zu werfen, während der Doktor unbekümmert durch den Schlamm bis an den Wagenschlag stapfte. Er war groß und hager und trug einen eisgrauen Spitzbart, und die Kleider hingen an seiner dürren Gestalt, als wären sie von einem Wirbelwind dorthin geblasen worden. In Atlanta galt er als Wurzel aller Kraft und Weisheit, und es war kein Wunder, dass er ein wenig von diesem Glauben verinnerlicht hatte. Doch trotz seiner Gewohnheit, in Orakeln zu sprechen, und trotz seines leicht blasierten Gehabes war er ein herzensguter Mann, wie es nur wenige in der Stadt gab.

Nachdem er Scarlett die Hand geschüttelt und Wade mit dem Zeigefinger in den Bauch gestupst und ihm Komplimente gemacht hatte, verkündete der Doktor, Tante Pittypat habe Stein und Bein geschworen, dass Scarlett keinem anderen Lazarett- und Bandagenrollkomitee angehören werde als dem von Mrs. Meade.

»O weh, das habe ich aber schon tausend Ladys versprochen!« sagte Scarlett.

»Ich wette, auch Mrs. Merriwether«, rief Mrs. Meade ungehalten. »Der Teufel soll sie holen! Ich glaube, sie passt jeden Zug ab.«

»Ich habe es versprochen, weil ich keine Ahnung hatte, worum es geht«, gestand Scarlett. »Was sind denn Lazarettkomitees überhaupt?«

Der Doktor und seine Frau wirkten ein wenig entgeistert über ihre Ahnungslosigkeit.

»Natürlich konnten Sie das da draußen auf dem Land nicht mitbekommen«, entschuldigte Mrs. Meade sie. »Wir haben Pflegekomitees für verschiedene Lazarette und verschiedene Tage. Wir pflegen die Männer und helfen den Ärzten und stellen Bandagen und Kleider her, und wenn es den Männern so gut geht, dass sie das Lazarett verlassen können, nehmen wir sie für die Genesungszeit in unsere Häuser auf, bis sie wieder ins Feld zurückkehren können. Und wir kümmern uns um die Frauen und Familien mancher Verwundeter, die mittellos oder noch schlimmer dran sind. Dr. Meade ist am Institutslazarett, wo mein Komitee arbeitet, und alle finden ihn fabelhaft und …«

»Na, na, Mrs. Meade«, sagte der Doktor liebevoll. »Gib nicht mit mir an! Das ist wohl das Mindeste, was ich tun kann, nachdem du mich nicht zur Armee gelassen hast.«

»Nicht gelassen!« rief sie ungehalten. »Ich? Die Stadt wollte dich nicht gehen lassen, das weißt du genau. Wissen Sie, Scarlett, als die Leute hörten, er wolle als Feldarzt nach Virginia gehen, haben alle Damen eine Petition unterzeichnet, in der sie ihn zum Hierbleiben aufforderten. Natürlich kann die Stadt nicht auf dich verzichten.«

»Na, na, Mrs. Meade«, sagte der Doktor, der sich sichtlich in ihrem Lob sonnte. »Vielleicht ist ein Sohn an der Front für den Augenblick auch genug.«

»Und ich gehe nächstes Jahr!« rief der kleine Phil und sprang aufgeregt herum. »Als Trommler. Ich lerne schon trommeln. Wollen Sie mal hören? Ich hole schnell meine Trommel.«

»Nicht jetzt«, sagte Mrs. Meade und zog ihn an sich, während ihr Gesicht sich plötzlich verkrampfte. »Nicht nächstes Jahr, mein Schatz. Vielleicht im Jahr darauf.«

»Aber dann ist der Krieg ja vorbei!« rief er vorwurfsvoll und wollte sich von ihr losreißen. »Außerdem hast du es versprochen!«

Über seinem Kopf trafen sich die Blicke der beiden Eltern, und Scarlett verstand: Darcy Meade diente in Virginia, und die Eltern klammerten sich nun fester an den kleinen Jungen, der ihnen geblieben war.

Uncle Peter räusperte sich.

»Miss Pitty war schon durch ’n Wind, wie ich losgefahren bin, und wenn ich nich bald ankomm, kriegt sie nen Ohnmachtsanfall.«

»Auf Wiedersehen. Ich komme heute Nachmittag mal herüber«, rief Mrs. Meade. »Und richten Sie Pitty von mir aus, wenn sie Sie nicht in mein Komitee lässt, dann kann sie was erleben.«

Die Kutsche glitt und rutschte die aufgeweichte Straße hinunter, und Scarlett lehnte sich in die Kissen zurück und lächelte. Sie fühlte sich schon jetzt so gut wie seit Monaten nicht. Atlanta mit seinem Gewimmel und seiner Hektik und seiner Unterströmung von spannender Lebensintensität war faszinierend und so viel schöner als die einsame Plantage außerhalb von Charleston, wo nur das Bellen der Alligatoren die Nachtruhe störte; es war sogar besser als Charleston selbst, das in seinen Gärten hinter hohen Mauern vor sich hin träumte, besser als Savannah mit seinen breiten, palmengesäumten Straßen und dem schlammigen Fluss an seinem Rand. Ja, und vorübergehend sogar besser als Tara, sosehr sie Tara auch mochte.

Diese Stadt hatte etwas Aufregendes an sich mit ihren schmalen, matschigen Straßen, eingebettet in rote Hügel, sie hatte etwas Wildes, Ungezähmtes, das unter dem dünnen Firnis der Wohlanständigkeit, den Ellen und Mammy ihr aufgelegt hatten, eine verwandte Saite zum Klingen brachte. Sie spürte plötzlich, dass sie hierher gehörte, nicht in heitere alte Städte, die ruhig an gelben Flüssen schlummerten.

Die Häuser standen nun in immer weiteren Abständen, und als Scarlett sich hinauslehnte, sah sie die roten Ziegelmauern und das Schieferdach von Miss Pittypats Haus. Es war beinahe das letzte Haus am Nordende der Stadt. Dahinter wurde die Peachtree Road deutlich schmaler und kurviger und verschwand unter Bäumen im dichten, stillen Wald. Der akkurate Lattenzaun war kürzlich weiß gestrichen worden, und der Vorgarten, den er einschloss, war gelb besternt von den letzten Narzissen des Jahres. Auf der Vortreppe standen zwei Frauen in Schwarz und hinter ihnen eine umfängliche hellhäutige Sklavin mit den Händen unter der Schürze und einem breiten Lächeln im Gesicht, das ihre weißen Zähne leuchten ließ. Die füllige Miss Pittypat wippte aufgeregt auf ihren klitzekleinen Füßen und presste eine Hand auf ihren üppigen Busen, um ihr Herzklopfen zu beruhigen. Neben ihr stand Melanie, und mit einer Woge von Abneigung erkannte Scarlett, dass das Haar in der Suppe von Atlanta diese zierliche Person im schwarzen Trauerkleid sein würde, deren wilde Locken in matronenhafter Glätte streng zurückgebunden waren, und die sie mit einem liebevollen Lächeln glücklichen Willkommens auf ihrem herzförmigen Gesicht begrüßte.

Wenn Südstaatler sich die Mühe machten, einen Schrankkoffer zu packen und für einen Besuch zwanzig Meilen weit zu fahren, dann dauerte dieser Besuch selten kürzer als einen Monat, gewöhnlich aber viel länger. Die Südstaatler waren ebenso begeisterte Gäste wie Gastgeber, und es war nichts Besonderes, wenn Verwandte kamen, um über die Weihnachtsfeiertage zu bleiben, und erst im Juli wieder abreisten. Wenn junge Eheleute in den Flitterwochen ihre übliche Besuchsrunde machten, blieben sie nicht selten in einem besonders angenehmen Haus, bis ihr zweites Kind auf die Welt kam. Ältere Onkel und Tanten kamen manchmal zum Sonntagsessen und blieben, bis sie Jahre später begraben wurden. Besucher waren keine Last, denn die Häuser waren groß, das Dienstpersonal zahlreich und zusätzliche Esser fielen in diesem Land der Fülle nicht weiter auf. Besuche machten männliche und weibliche Wesen aller Altersstufen, Jungverheiratete, junge Mütter, die ihre Neugeborenen stolz herumzeigten, Genesende, Trauernde, Mädchen, deren Eltern sie vor den Gefahren einer unklugen Partnerwahl bewahren wollten, und Mädchen, die das gefährliche Alter erreicht und noch keinen Mann gefunden hatten und nun hoffentlich mithilfe von Verwandten in einer anderen Gegend eine passende Partie machen würden. Besucher brachten Spannung und Ablenkung in das gemächliche südliche Leben, und sie waren immer willkommen.

So war auch Scarlett nach Atlanta gefahren, ohne zu wissen, wie lange sie bleiben würde. Wenn ihr Besuch sich als so trist herausstellte wie der in Savannah oder Charleston, würde sie nach einem Monat heimfahren. Wenn ihr der Aufenthalt gefiel, würde sie auf unbestimmte Zeit bleiben. Doch kaum war sie angekommen, begannen Tante Pitty und Melanie darauf hinzuarbeiten, dass sie sich für immer bei ihnen niederließ. Sie führten jedes denkbare Argument ins Feld. Sie wollten sie um ihrer selbst willen bei sich haben, weil sie sie lieb hatten. Sie waren einsam und fürchteten sich oft nachts in dem großen Haus, und Scarlett war so tapfer, dass sie ihnen Mut machte. Sie war so bezaubernd, dass sie sie in ihrem Kummer aufheiterte. Nun, da Charles gestorben war, gehörte sie mit ihrem Sohn in das Haus seiner Familie. Außerdem gehörte laut Charles’ Testament die Hälfte des Hauses ihr. Und schließlich brauchte die Konföderation jedes Paar Hände zum Nähen, Stricken, Bandagenaufwickeln und Pflegen der Verwundeten.

Auch Charles’ Onkel Henry Hamilton, der als Hagestolz im Atlanta Hotel in der Nähe des Bahnhofs lebte, erörterte dieses Thema ernsthaft mit ihr. Onkel Henry war ein untersetzter, schmerbäuchiger, cholerischer alter Herr mit rosigem Gesicht, einer langen, silbernen Mähne und einem kompletten Mangel an Verständnis für weibliche Ängste und Hirngespinste. Aus letzterem Grund wechselte er kaum ein Wort mit seiner Schwester, Miss Pittypat. Von Kindheit an war ihrer beider Temperament absolut gegensätzlich gewesen, und seine Einwände gegen ihre Erziehungsmethoden bei Charles hatten zu ihrer Entfremdung entscheidend beigetragen – »Macht sie da einen Jammerlappen aus dem Sohn eines Soldaten!« Vor Jahren hatte er sie einmal so beleidigt, dass Tante Pitty ihn seither nur noch in vorsichtigem Flüsterton und mit solcher Scheu erwähnte, dass ein Fremder den rechtschaffenen alten Anwalt mindestens für einen Mörder halten musste. Die Beleidigung war vorgefallen, als Tante Pitty fünfhundert Dollar aus ihrem Vermögen, dessen Treuhänder er war, abheben wollte, um sie in eine nicht existierende Goldmine zu investieren. Er hatte seine Zustimmung verweigert und hitzig erklärt, sie habe nicht mehr Verstand als ein Junikäfer, und außerdem mache es ihn ganz zipfelsinnig, länger als fünf Minuten in ihrer Gegenwart zu sein. Seit jenem Tag traf sie ihn nur noch einmal im Monat geschäftlich, wenn sie sich von Uncle Peter zu seiner Kanzlei fahren ließ, um das Haushaltsgeld abzuholen. Nach diesen kurzen Besuchen zog sich Pitty für den Rest des Tages mit Tränen und Riechsalz in ihr Bett zurück. Melanie und Charles, die sich mit ihrem Onkel hervorragend verstanden, boten häufig an, ihr diese qualvolle Aufgabe abzunehmen, aber dann kniff Pitty immer ihren Kindermund zusammen und lehnte ab. Henry war das Kreuz, das sie zu tragen hatte. Daraus zogen Charles und Melanie den Schluss, dass sie diese gelegentliche Aufregung, die einzige Aufregung in ihrem behüteten Leben, zutiefst genoss.

Onkel Henry mochte Scarlett auf Anhieb, denn, so sagte er, man konnte sehen, dass sie trotz ihrer albernen Affektiertheit ein paar Körnchen Verstand besaß. Er verwaltete nicht nur Pittys und Melanies Vermögen, sondern auch das Erbe, das Charles Scarlett hinterlassen hatte. Es war eine angenehme Überraschung für Scarlett, dass sie nun eine wohlhabende junge Frau war, denn Charles hatte ihr nicht nur die Hälfte von Pittys Haus vererbt, sondern auch Farmland und weiteren Grundbesitz in der Stadt. Und die Geschäfte und Lagerhäuser entlang den Gleisen in der Nähe des Bahnhofs, die zu ihrer Erbschaft gehörten, hatten sich seit Kriegsbeginn im Wert verdreifacht. Als Onkel Henry ihr eine Aufstellung ihres Vermögens vorlegte, brachte er bei dieser Gelegenheit auch das Thema ihrer dauernden Niederlassung in Atlanta aufs Tapet.

»Wenn Wade Hampton volljährig wird, ist er ein reicher junger Mann«, sagte er. »So schnell, wie Atlanta wächst, ist sein Besitz in zwanzig Jahren zehnmal so viel wert, und es ist nur recht und billig, wenn der Junge dort groß wird, wo sein Besitz ist, damit er lernt, sich darum zu kümmern – ja, und auch um den Besitz von Pitty und Melanie. Er wird über kurz oder lang der einzige Mann mit Namen Hamilton sein, denn mich wird es ja nicht immer geben.«

Uncle Peter ging sowieso davon aus, dass Scarlett gekommen war, um zu bleiben. Es war für ihn unvorstellbar, dass Charles’ einziger Sohn an einem Ort aufwachsen sollte, wo er, Peter, sein Aufwachsen nicht beaufsichtigen konnte. Zu all diesen Argumenten lächelte Scarlett, ohne etwas zu sagen, denn sie wollte sich nicht festlegen, ehe sie herausgefunden hatte, ob Atlanta und das ständige Zusammensein mit ihrer Schwiegerfamilie ihr zusagten. Auch mussten Ellen und Gerald überzeugt werden. Und nun, da Tara weit weg war, begann sie es schrecklich zu vermissen. Sie vermisste die roten Felder und die grün sprießende Baumwolle und die liebliche Stille der Dämmerung. Zum ersten Mal bekam sie eine Ahnung davon, was Gerald gemeint hatte, als er sagte, die Liebe zum Land liege ihr im Blut.

Daher vermied sie auf charmante Weise, konkrete Aussagen über die Dauer ihres Besuchs zu machen, und ließ sich leichtherzig auf das Leben im roten Ziegelhaus am ruhigen Ende der Peachtree Street ein.

Seit sie bei Charles’ Blutsverwandten lebte und das Haus kennenlernte, aus dem er stammte, konnte Scarlett den Jungen, der sie in so rascher Folge zur Frau, Witwe und Mutter gemacht hatte, etwas besser verstehen. Es war leicht zu erkennen, warum er so schüchtern, so wenig weltgewandt, so idealistisch gewesen war. Falls Charles irgendwelche Eigenschaften des strengen, furchtlosen, heißblütigen Soldaten geerbt hatte, der sein Vater gewesen war, so wurden diese bereits in der Kindheit durch die damenhafte Atmosphäre, in der er aufwuchs, ausgelöscht. Er hatte Pitty mit ihrem kindlichen Gemüt heiß geliebt und war Melanie näher gewesen, als Brüder ihren Schwestern gewöhnlich sind, und zwei liebenswürdigere, weltfremdere Frauen ließen sich nicht denken.

Tante Pittypat war vor sechzig Jahren auf den Namen Sarah Jane Hamilton getauft worden, aber seit jenem lange vergangenen Tag, als ihr Vater, der sie abgöttisch liebte, ihr wegen ihrer leichten, rastlosen, trappelnden Füßchen diesen Spitznamen gab, hatte niemand sie mehr anders genannt. In den Jahren nach dieser zweiten Taufe hatte sie sich in mancher Hinsicht verändert, so dass der Spitzname nicht mehr recht passte. Von dem lustig herumhüpfenden Kind waren nur noch zwei winzige Füße geblieben, die ihr Gewicht nicht recht tragen konnten, und eine Neigung, fröhlich und ziellos vor sich hin zu plappern. Sie war dick, rotwangig und silberhaarig und immer ein wenig kurzatmig, weil ihr Korsett zu eng geschnürt war. Mehr als von einer Querstraße zur nächsten konnte sie auf ihren kleinen Füßchen, die sie in noch kleinere Schühchen zwängte, nicht laufen. Ihr Herz raste bei jeder Aufregung, was sie schamlos ausnutzte, denn sie fiel bei der geringsten Veranlassung in Ohnmacht. Alle Leute wussten, dass ihre Ohnmachten in der Regel bloß damenhafte Allüren waren, aber sie hatten sie so gern, dass sie nicht darüber sprachen. Alle mochten sie, verwöhnten sie wie ein Kind und weigerten sich, sie ernst zu nehmen – alle, außer ihrem Bruder Henry.

Klatsch hatte sie für ihr Leben gern, lieber noch als Tafelfreuden, und sie plapperte auf harmlos nette Art stundenlang über die Angelegenheiten anderer Leute. Namen, Daten oder Orte konnte sie sich nicht recht merken und sie brachte häufig die handelnden Personen des einen Dramas in Atlanta mit denen eines anderen durcheinander, was aber nicht zu Verwechslungen führte, denn niemand war so töricht, irgendeine ihrer Äußerungen ernst zu nehmen. Niemand erzählte ihr je etwas wirklich Empörendes oder Skandalöses, denn ihr Status als alte Jungfer musste beschützt werden, auch im Alter von sechzig Jahren, und ihre Freundinnen hatten sich verschworen, sie im Zustand eines behüteten und verzärtelten alten Kindes zu belassen.

Melanie glich ihrer Tante in vieler Hinsicht. Sie hatte ihre Schüchternheit, ihr plötzliches Erröten, ihre Bescheidenheit, aber an gesundem Menschenverstand gebrach es ihr nicht – »zumindest so einigermaßen, das muss ich zugeben«, dachte Scarlett unwillig. Wie Tante Pitty hatte Melanie das Gesicht eines behüteten Kindes, das nie etwas anderes erfahren hat als Einfachheit und Freundlichkeit, Aufrichtigkeit und Liebe, das niemals Härte oder Bosheit erlebt hat und beides nicht erkennen würde, auch wenn man es mit der Nase darauf stieß. Da sie immer glücklich gewesen war, wollte sie, dass alle Menschen in ihrer Umgebung glücklich waren, oder zumindest zufrieden. Zu diesem Zweck suchte sie in allen Menschen immer das Beste und hob es liebenswürdig hervor. Kein Dienstbote war so dumm, dass sie nicht irgendeinen Zug von Loyalität oder Gutherzigkeit an ihm gefunden hätte, der alles wieder wettmachte; kein Mädchen so hässlich und unsympathisch, dass sie an ihr nicht ein anmutiges Betragen oder einen noblen Charakter entdeckt hätte, und kein Mann so nichtsnutzig oder langweilig, dass sie ihn nicht im Licht seiner Möglichkeiten statt in dem seines tatsächlichen Wesens gesehen hätte.

Aufgrund dieser Eigenschaften, die offen und spontan aus einem großzügigen Herzen flossen, wurde sie sehr umschwärmt, denn wer kann jemandem widerstehen, der in anderen bewundernswerte Züge entdeckt, von denen sie selbst im Traum nichts geahnt haben? Sie hatte mehr Freundinnen als sonst irgendjemand in der Stadt und auch mehr Freunde, allerdings nur wenige Verehrer, denn es fehlten ihr Flatterhaftigkeit und Eigensucht, auf die Männer so leicht hereinfallen.

Melanie tat nichts anderes, als was allen Südstaaten-Mädchen beigebracht wurde: unentwegt für allgemeine Unbefangenheit und Unbeschwertheit zu sorgen. Diese wohlwollende weibliche Verschwörung machte das gesellschaftliche Leben in den Südstaaten so behaglich. Die Frauen wussten, dass ein Land, wo die Männer zufrieden waren, wo ihnen niemand widersprach oder sie in ihrer Eitelkeit verletzte, mit großer Wahrscheinlichkeit auch den Frauen ein angenehmes Leben bot. Daher bemühten sie sich von der Wiege bis zur Bahre, die Männer in ihrer Selbstzufriedenheit zu bestärken, und die Männer vergalten es ihnen reichlich mit Galanterie und Verehrung. Die Männer waren bereit, den Frauen alles auf der Welt zuzugestehen, außer Intelligenz. Scarlett wirkte ebenso gewinnend wie Melanie, allerdings dank einstudierter Kunstfertigkeit und vollendetem Geschick. Der Unterschied zwischen den beiden jungen Frauen lag darin, dass Melanie freundliche, schmeichelhafte Dinge sagte, weil sie die Menschen glücklich machen wollte, und sei es nur für den Augenblick, während Scarlett immer nur ihre eigenen Zwecke verfolgte.

Von den beiden Menschen, die er am meisten liebte, hatte Charles keinerlei ertüchtigende Einflüsse erfahren, nichts über Härte oder die Wirklichkeit gelernt, denn das Haus, in dem er zum Mann heranwuchs, war weich ausgepolstert wie ein Vogelnest. Verglichen mit Tara war es ein unglaublich stiller, altmodischer, sanfter Ort. Scarlett fand, dass es förmlich nach dem männlichen Duft von Brandy, Tabak und Makassar-Öl schrie, nach rauhen Stimmen und gelegentlichen Flüchen, nach Gewehren, Backenbärten, Sätteln und Zaumzeug, und nach Jagdhunden, die einem zu Füßen lagen. Ihr fehlten streitende Stimmen, die in Tara immer zu hören waren, sobald Ellen ihnen den Rücken kehrte: Mammy stritt sich mit Pork, Rosa und Teena zankten, sie selbst hatte erbitterte Wortwechsel mit Suellen, und Gerald stieß brüllend Drohungen aus. Kein Wunder, dass Charles in einem solchen Haus ein Weichling geworden war. Hier gab es nie Aufregung, niemand erhob die Stimme, jeder fragte rücksichtsvoll die anderen um ihre Meinung, und zum Schluss bekam der schwarze, grauhaarige Tyrann in der Küche seinen Willen. Scarlett, die sich mehr Freiheiten erhofft hatte, nachdem sie Mammys Aufsicht entronnen war, musste zu ihrem Kummer feststellen, dass Uncle Peters Ansprüche an damenhaftes Benehmen, besonders für Mister Charles’ Witwe, noch strenger waren als Mammys.

In diesem Haushalt fand Scarlett zu sich selbst zurück, und ehe sie sichs versah, war ihre Laune wiederhergestellt. Sie war erst siebzehn, sie erfreute sich bester Gesundheit und steckte voller Energie, und Charles’ Verwandte gaben sich größte Mühe, ihr alles recht zu machen. Wenn es ihnen nicht völlig gelang, so war es nicht ihre Schuld, denn niemand konnte Scarlett den Schmerz nehmen, der in ihrem Herzen pochte, wann immer Ashleys Name fiel. Und Melanie erwähnte ihn so oft! Aber Melanie und Pitty suchten unermüdlich Mittel und Wege, um den Kummer zu lindern, unter dem Scarlett ihrer Meinung nach litt. Sie schoben ihren eigenen Kummer in den Hintergrund, um sie abzulenken. Sie waren ständig besorgt, dass sie genug aß und die Zeiten für ihren Mittagsschlaf und ihre Spazierfahrten einhielt. Nicht nur bewunderten sie aufs Höchste ihr Temperament, ihre Figur, ihre kleinen Hände und schmalen Füße, ihren weißen Teint, sie sprachen es auch häufig aus und streichelten, umarmten und küssten sie, um ihre liebevollen Worte noch zu bekräftigen.

Scarlett lag nichts an den Zärtlichkeiten, aber sie genoss die Komplimente. Niemand in Tara hatte je so viele reizende Dinge über sie gesagt. Eigentlich hatte Mammy die ganze Zeit daran gearbeitet, ihrer Eitelkeit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der kleine Wade war keine Nervensäge mehr, denn die Familie, schwarz wie weiß, und auch die Nachbarn vergötterten ihn, und es herrschte ein unaufhörlicher Wettstreit, auf wessen Schoß er sitzen durfte. Melanie liebte ihn besonders. Selbst wenn er fürchterlich schrie, fand Melanie ihn hinreißend und sagte: »Ach, du wonniger Schatz! Ich wünschte, du wärest meiner!«

Manchmal fiel es Scarlett schwer, ihre Gefühle zu verbergen, denn sie hielt Tante Pitty nach wie vor für eine alberne alte Dame und ihre Geistesabwesenheit und ihre Hirngespinste gingen ihr unsäglich auf die Nerven. Gegen Melanie empfand sie eifersüchtige Abneigung, die mit jedem Tag wuchs, und manchmal musste sie abrupt den Raum verlassen, wenn Melanie, strahlend vor Liebesstolz, von Ashley sprach oder seine Briefe vorlas. Aber alles in allem verlief das Leben so glücklich, wie es unter diesen Umständen nur möglich war. Atlanta war interessanter als Savannah, Charleston oder Tara, und es hatte so viele unbekannte kriegsbedingte Beschäftigungen zu bieten, dass Scarlett wenig Zeit fand, zu grübeln oder Trübsal zu blasen. Nur manchmal, wenn sie die Kerze löschte und ihren Kopf im Kissen vergrub, seufzte sie und dachte: »Wäre Ashley doch nicht verheiratet! Müsste ich doch nicht in diesem vermaledeiten Lazarett arbeiten! Ach, wenn ich doch ein paar Verehrer hätte!«

Die Krankenpflege war ihr von Anfang an zuwider, aber sie konnte sich dieser Pflicht nicht entziehen, denn sie war sowohl in Mrs. Meades als auch in Mrs. Merriwethers Komitee. Das bedeutete vier Vormittage pro Woche in der Hitze des stinkenden Lazaretts, das Haar unter einem Tuch hochgesteckt und in einer warmen Kittelschürze, die sie vom Hals bis zu den Füßen bedeckte. Jede Matrone in Atlanta, ob alt oder jung, pflegte, und zwar mit einem Enthusiasmus, der Scarlett nachgerade fanatisch vorkam. Sie gingen davon aus, dass Scarlett von der gleichen patriotischen Inbrunst durchdrungen war wie sie selber, und wären schockiert gewesen, hätten sie gewusst, wie wenig ihr an diesem Krieg lag. Abgesehen von der ständig gegenwärtigen Angst, dass Ashley fallen könnte, interessierte sie der Krieg nicht im mindesten, und mit der Krankenpflege beschäftigte sie sich lediglich deshalb, weil sie nicht wusste, wie sie sich davor drücken sollte.

Jedenfalls hatte die Pflege nichts Romantisches an sich. Sie bedeutete Stöhnen, Delirium, Tod und Gestank. Die Lazarette waren übervoll mit schmutzigen, unrasierten, verlausten Männern, die entsetzlich rochen und an ihren Körpern Wunden trugen, die jedem Christenmenschen den Magen umdrehten. Es stank nach Wundbrand, ein Geruch, der ihre Nase attackierte, lange bevor sie die Tür erreichte, ein widerwärtiger Geruch, der an ihren Händen und Haaren klebte und sie bis in ihre Träume verfolgte. Fliegen und Stechmücken schwebten in summenden, sirrenden Schwärmen über den Krankenbetten und quälten die Männer, bis sie fluchten oder leise schluchzten, und Scarlett schwang, während sie ihre eigenen Mückenstiche kratzte, Palmettowedel, bis ihre Schultern schmerzten und sie wünschte, alle Männer wären tot.

Melanie dagegen schienen der Gestank, die Wunden und die Nacktheit nichts auszumachen, was Scarlett bei der ängstlichsten und schamhaftesten aller Frauen seltsam fand. Manchmal sah Melanie kreidebleich aus, wenn sie Becken und Instrumente hielt, während Dr. Meade vom Wundbrand befallenes Fleisch herausschnitt, und einmal fand Scarlett sie nach einer solchen Operation in der Wäschekammer, wo sie sich leise in ein Handtuch erbrach. Aber solange die Verwundeten sie sehen konnten, war sie sanft, einfühlsam und fröhlich, und die Männer in den Lazaretten nannten sie einen Engel der Barmherzigkeit. Scarlett hätte sich diesen Titel auch gewünscht, aber dazu musste man Männer berühren, auf denen Läuse herumkrabbelten, bewusstlosen Patienten den Finger in den Hals stecken, um herauszufinden, ob sie sich an Kautabak verschluckt hatten, Gliederstümpfe verbinden und Maden aus faulendem Fleisch ziehen. Nein, sie mochte das Pflegerinnendasein nicht!

Vielleicht wäre es erträglich gewesen, wenn sie mit den Genesenden hätte flirten dürfen, denn viele von ihnen waren anziehend und aus guter Familie, aber das war im Witwenstand undenkbar. Um die Genesenden kümmerten sich die jungen Damen der Stadt, denen nicht gestattet war zu pflegen, weil sie dabei womöglich Dinge zu sehen bekämen, die für die Augen einer Jungfrau unpassend waren. Ungehindert von Ehe oder Witwenschaft machten sie sich schamlos an die Rekonvaleszenten heran, und selbst die unattraktivsten Mädchen hatten, wie Scarlett betrübt beobachtete, keinerlei Schwierigkeiten, sich einen Verlobten zu angeln.

Mit Ausnahme der Gesellschaft von schwerkranken und schwerverwundeten Männern lebte Scarlett in einer gänzlich weiblichen Welt, was sie verdross, denn weder fand sie ihre Geschlechtsgenossinnen sympathisch noch vertrauenswürdig, und was noch schlimmer war, sie langweilten sie unendlich. Aber an drei Nachmittagen in der Woche musste sie an Nähzirkeln und Verbandwickelkomitees von Melanies Freundinnen teilnehmen. Die Mädchen, die alle Charles gekannt hatten, waren bei diesen Zusammenkünften sehr rücksichtsvoll und aufmerksam ihr gegenüber, vor allem Fanny Elsing und Maybelle Merriwether, die Töchter der stadtbeherrschenden Witwen. Aber sie behandelten sie so ehrerbietig, als sei sie schon alt und abgehalftert, und ihr ständiges Geschnatter über Bälle und Verehrer machte Scarlett neidisch auf ihre Vergnügungen und erfüllte sie mit Unmut, weil ihr Witwenstand ihr solchen Zeitvertreib verbot. Schließlich war sie dreimal so attraktiv wie Fanny und Maybelle. Ach, wie ungerecht das Leben doch war! Wie ungerecht, dass alle Leute glaubten, ihr Herz sei im Grab, was doch gar nicht stimmte! Es war in Virginia bei Ashley!

Doch trotz all dieser Ärgernisse gefiel Atlanta ihr sehr gut. Und während die Wochen verflossen, zog sich ihr Besuch immer länger hin.

Vom Wind verweht

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