Читать книгу Vom Wind verweht - Маргарет Митчелл - Страница 18

KAPITEL 9

Оглавление

Eines Morgens im Hochsommer saß Scarlett an ihrem Schlafzimmerfenster und beobachtete traurig die Wagen und Kutschen voller Mädchen, Soldaten und Anstandsdamen, die vergnügt die Peachtree Road hinunterfuhren, um grünen Waldschmuck für den Basar zu sammeln, der am Abend zugunsten der Lazarette veranstaltet werden sollte. Die rote Straße lag im sonnengesprenkelten Schatten der sie überwölbenden Bäume, und die zahlreichen Hufe wirbelten rote Staubwölkchen auf. Voraus fuhr ein Wagen mit vier kräftigen, axtbewehrten Schwarzen, deren Aufgabe es war, immergrüne Zweige zu schlagen und Ranken herunterzureißen. Hinten im Wagen waren mit Servietten bedeckte Tragekörbe, Spankörbe mit Proviant und ein Dutzend Wassermelonen aufgetürmt. Zwei der schwarzen Kerle gaben gerade auf Banjo und Harmonika schwungvoll If You Want to Have a Good Time, Jine the Cavalry zum Besten. Hinter ihnen folgte ein fröhlicher Zug von Mädchen in dünnen, geblümten Musselinkleidern mit leichten Schultertüchern, Hauben, Glacéhandschuhen und Sonnenschirmchen, um ihre Haut zu schützen; dann ältere Damen, die inmitten des Gelächters und der scherzenden Rufe von Kutsche zu Kutsche milde schmunzelten; Rekonvaleszenten aus den Lazaretten, eingeklemmt zwischen Anstandsdamen und schlanken Mädchen, die sich mit großem Getue um sie kümmerten; Kavallerieoffiziere, die im Schneckentempo neben den Kutschen herritten – Räder knirschten, Sporen klirrten, Goldtressen glänzten, Sonnenschirme hüpften, Fächer wedelten, Schwarze sangen. Alle fuhren die Peachtree Road hinaus, um Grünzeug zu sammeln und ein Picknick mit Melonen abzuhalten. Alle, dachte Scarlett, nur ich nicht.

Sie winkten und riefen im Vorbeifahren zu ihr hinauf, und Scarlett versuchte, mit Anmut zu antworten, aber es fiel ihr schwer. Ein harter kleiner Schmerz war in ihrem Herzen erwacht und bewegte sich langsam aufwärts in ihren Hals, wo er sich in einen Kloß und dann in Tränen verwandeln würde. Alle fuhren zum Picknick, außer ihr. Und alle gingen heute Abend auf den Basar und den anschließenden Ball, alle außer ihr. Das heißt, alle außer ihr und Pittypat und Melly und den anderen Unglücklichen in der Stadt, die in Trauer waren. Aber Melly und Pittypat schien das nichts auszumachen. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, dass sie Lust haben könnten, hinzugehen. Aber Scarlett war es in den Sinn gekommen. Und sie wollte hingehen, unbedingt.

Es war einfach ungerecht. Sie hatte doppelt so hart gearbeitet wie die anderen Mädchen der Stadt, um alles für den Basar vorzubereiten. Sie hatte Socken gestrickt und Babymützchen und Umschlagtücher und Schals und meterweise Schiffchenspitze hergestellt und porzellanene Haargefäße und Schnurrbarttassen bemalt. Und sie hatte ein halbes Dutzend Kissenbezüge mit der Flagge der Konföderation bestickt. (Zugegeben, die Sterne waren ein wenig ungleichmäßig, manche waren fast rund und andere hatten sechs oder sieben Zacken, aber die Gesamtwirkung war gut.) Gestern hatte sie bis zur Erschöpfung im staubigen alten Schuppen einer Waffenfabrik gelbe, rosa und grüne Gaze über die Verkaufsstände drapiert, die längs der Wände aufgereiht standen. Unter der Aufsicht des Damenlazarettkomitees war das harte Arbeit und nicht das geringste Vergnügen. Es machte nie Spaß, in Mrs. Merriwethers, Mrs. Elsings und Mrs. Whitings Gegenwart zu sein, sich von ihnen wie eine Sklavin herumkommandieren zu lassen und anhören zu müssen, wie sie mit der Beliebtheit ihrer Töchter prahlten. Zu allem Überfluss hatte Scarlett sich zwei Brandblasen zugezogen, als sie Pittypat und Cookie dabei half, Schichttorten für die Tombola zu backen.

Sie hatte geschuftet wie eine Pflückerin, und nun, da der Spaß losging, musste sie sich wohlanständig zurückziehen. Ach, es war einfach ungerecht, dass sie einen toten Ehemann hatte und ein schreiendes Baby im Nebenzimmer, und dass sie sich von allem, was Vergnügen machte, fernhalten musste. Vor kaum mehr als einem Jahr hatte sie getanzt und bunte Kleider getragen statt dieser düsteren Trauerkleidung und war mit drei jungen Männern so gut wie verlobt gewesen. Jetzt war sie erst siebzehn, und ihre Füße kribbelten immer noch vor Tanzlust. Oh, es war so ungerecht! Das Leben zog an ihr vorbei, eine schattige sommerliche Straße entlang, das Leben in grauen Uniformen und klirrenden Sporen und geblümten Organzakleidern und mit Banjospiel. Sie gab sich Mühe, den Männern, die sie am besten kannte, denen, die sie im Lazarett gepflegt hatte, nicht zuzulächeln oder allzu begeistert zuzuwinken, aber es fiel ihr schwer, ihre Grübchen zu unterdrücken und so auszusehen, als wäre ihr Herz im Grab – wo es doch gar nicht war.

Ihr Nicken und Winken fand ein abruptes Ende, als Pittypat, wie immer außer Atem vom Treppensteigen, das Zimmer betrat und sie ohne viel Federlesens vom Fenster zurückriss.

»Hast du denn den Verstand verloren, Schätzchen, dass du von deinem Schlafzimmerfenster aus Männern zuwinkst? Ich muss schon sagen, Scarlett, ich bin entsetzt! Was würde deine Mutter dazu sagen?«

»Naja, sie wussten ja nicht, dass es mein Schlafzimmer ist.«

»Aber sie konnten sich vorstellen, dass es dein Schlafzimmer ist, und das ist genauso schlimm. Alle Leute werden über dich reden und sagen, dass du liederlich bist – und außerdem weiß Mrs. Merriwether, dass es dein Schlafzimmer ist.«

»Und ich nehme an, sie wird es den Jungs erzählen, die alte Hexe.«

»Schätzchen, pst! Dolly Merriwether ist meine beste Freundin.«

»Sie ist trotzdem eine Hexe – oh, Entschuldigung, Tantchen, nicht weinen! Ich hatte vergessen, dass es mein Schlafzimmerfenster ist. Ich tu’s nicht wieder – ich – ich wollte sie nur vorbeifahren sehen. Ich wünschte, ich könnte mit.«

»Schätzchen!«

»Wirklich. Ich habe es so satt, zu Hause herumzusitzen.«

»Scarlett, versprich mir, so etwas nie wieder zu sagen. Die Leute würden sich den Mund zerreißen. Sie würden sagen, dass du Charlies Andenken nicht ehrst …«

»O Tantchen, nicht weinen!«

»Ach, jetzt habe ich dich auch zum Weinen gebracht«, schluchzte Pittypat erfreut und suchte in ihrer Rocktasche nach einem Taschentuch.

Der harte kleine Schmerz war endlich in Scarletts Hals angekommen, und sie schluchzte laut auf – nicht wegen dem armen Charlie, wie Pittypat glaubte, sondern weil die letzten Wagengeräusche und das Lachen verhallt waren. Melanie eilte besorgt aus ihrem Zimmer herbei, in der Hand eine Bürste. Ihr gewöhnlich streng mit einem Netz gebändigtes schwarzes Haar floss in verschwenderischen krausen Locken um ihr Gesicht.

»Ihr Lieben! Was ist los?«

»Charlie!« schluchzte Pittypat, die sich nun vollständig dem süßen Gefühl ihres Kummers hingab und ihren Kopf an Mellys Schulter vergrub.

»Oh«, sagte Melly, und ihre Unterlippe zitterte bei der Erwähnung ihres Bruders.

»Sei tapfer, meine Liebe. Nicht weinen. O Scarlett!«

Scarlett hatte sich auf ihr Bett geworfen und schluchzte hemmungslos, schluchzte um ihre verlorene Jugend und die jugendlichen Freuden, die ihr versagt waren, schluchzte mit der Wut und Verzweiflung eines Kindes, das einst mit Tränen alles erreichen konnte und plötzlich erkennt, dass Weinen nichts mehr hilft. Sie vergrub ihren Kopf im Kissen und weinte und trat mit den Füßen gegen die quastengeschmückte Tagesdecke.

»Ich könnte genauso gut tot sein!« schluchzte sie verzweifelt. Vor einem solch tiefen Schmerz versiegten Pittypats locker sitzende Tränen, und Melly stürzte ans Bett, um ihre Schwägerin zu trösten.

»Liebste, nicht weinen! Tröste dich mit dem Gedanken, wie sehr Charlie dich geliebt hat! Versuch an dein süßes Baby zu denken!«

Die Entrüstung darüber, derartig missverstanden zu werden, mischte sich mit Scarletts hoffnungslosem Gefühl, von allem abgeschnitten zu sein, und schnürte ihr den Hals zu. Das war ein Glück, denn andernfalls hätte sie die Wahrheit in Geralds unverblümten Worten herausgeschrien. Melanie streichelte ihre Schulter und Pittypat ging geräuschvoll auf Zehenspitzen durchs Zimmer und zog die Rouleaus herunter.

»Lass das!« rief Scarlett und hob ihr rotes, verquollenes Gesicht vom Kissen. »So tot, dass ihr die Rouleaus herunterlassen müsst, bin ich noch nicht – obwohl ich es genauso gut sein könnte. Geht bloß weg und lasst mich in Ruhe!«

Sie ließ ihr Gesicht wieder auf das Kissen sinken, und nachdem die beiden sich flüsternd beraten hatten, schlichen sie hinaus. Als sie die Treppe hinuntergingen, konnte Scarlett hören, wie Melanie leise zu Pittypat sagte:

»Tante Pitty, du solltest nicht mit ihr über Charles sprechen. Du weißt doch, wie sie das immer trifft. Die Arme, sie bekommt dann diesen komischen Gesichtsausdruck, und ich merke ganz genau, dass sie versucht, nicht zu weinen. Wir dürfen es ihr nicht noch schwerer machen.«

Scarlett trat in machtloser Wut gegen die Decke und suchte nach einem möglichst wüsten Ausdruck.

»Herrgott im Nachtgewand!« rief sie schließlich und fühlte sich ein wenig erleichtert. Wie konnte Melanie sich damit abfinden, zu Hause zu bleiben und niemals Spaß zu haben und Trauerkleidung für ihren Bruder zu tragen, obwohl sie erst achtzehn Jahre alt war? Melanie schien nicht zu wissen, oder es bekümmerte sie nicht, dass das Leben mit klirrenden Sporen an ihr vorbeiritt.

»Sie ist eben ein Schlafmittel«, dachte Scarlett und schlug mit der Faust auf das Kissen. »Und sie war nie beliebt, so wie ich, deshalb fehlen ihr die Dinge nicht, die mir fehlen. Und – und außerdem hat sie Ashley, und ich – ich habe niemanden!« Und bei diesem frischen Schmerz brach sie in erneutes Wehgeschrei aus.

Bis zum Nachmittag blieb sie trübsinnig in ihrem Zimmer, und auch der Anblick der heimkehrenden Ausflügler in ihren hoch mit Pinienästen, Ranken und Farnen beladenen Wagen munterte sie nicht auf. Alle winkten ihr müde und glücklich zu, während sie die Grüße missmutig erwiderte. Das Leben war einfach hoffnungslos und nicht wert, gelebt zu werden.

Die Erlösung kam in höchst unerwarteter Form, als in der Ruhezeit nach dem Essen Mrs. Merriwether und Mrs. Elsing vorfuhren. Erschrocken über einen Besuch zu dieser Stunde erhoben sich Melanie, Scarlett und Tante Pittypat, hakten hastig ihre Mieder zu, glätteten sich die Haare und stiegen in den Salon hinab.

»Mrs. Bonnells Kinder haben die Masern«, sagte Mrs. Merriwether grimmig und ließ deutlich durchblicken, dass sie Mrs. Bonnell persönlich dafür haftbar machte, dass sie so etwas zugelassen hatte.

»Und die McLure-Mädchen sind nach Virginia gerufen worden«, sagte Mrs. Elsing mit ihrer ersterbenden Stimme und fächelte sich matt, als wäre weder dies noch irgendetwas anderes sonderlich bedeutsam. »Dallas McLure ist verwundet.«

»Wie schrecklich!« riefen ihre Gastgeberinnen im Chor. »Ist der arme Dallas …«

»Nein. Nur an der Schulter«, sagte Mrs. Merriwether kurz angebunden. »Aber es hätte wirklich zu keiner ungünstigeren Zeit passieren können. Die Mädchen fahren in den Norden, um ihn nach Hause zu holen. Aber, du lieber Himmel, wir haben keine Zeit, hier herumzusitzen und zu plaudern. Wir müssen schnell wieder zur Waffenfabrik zurück und fertig schmücken. Pitty, wir brauchen dich und Melly heute Abend. Ihr müsst für Mrs. Bonnell und die McLure-Mädchen einspringen.«

»Oh, aber Dolly, wir können nicht kommen.«

»Sag nicht ›können nicht‹ zu mir, Pittypat Hamilton«, sagte Mrs. Merriwether energisch. »Wir brauchen dich für die Beaufsichtigung der Darkys bei den Erfrischungen. Das wäre Mrs. Bonnells Aufgabe gewesen. Und Melly, du musst den Stand der McLure-Mädchen übernehmen.«

»Oh, das können wir einfach nicht, wo Charlie doch erst seit …«

»Ich weiß, wie ihr euch fühlt, aber kein Opfer ist zu groß für die Gute Sache«, unterbrach Mrs. Elsing mit leiser entschiedener Stimme.

»Wir helfen natürlich gerne, aber könnt ihr denn nicht ein paar nette, hübsche Mädchen für die Stände auftreiben?«

Mrs. Merriwether schnaubte trompetenartig.

»Ich weiß nicht, was mit der Jugend von heute los ist. Da gibt es überhaupt kein Verantwortungsgefühl. All die Mädchen, die noch keinen Stand übernommen haben, finden so viele Ausreden, dass man mit dem Drohen gar nicht nachkommt. Aber mich führen sie nicht hinters Licht! Sie wollen bloß nicht dabei gestört werden, mit den Offizieren zu turteln, das ist alles. Und sie fürchten, ihre neuen Kleider kämen hinter den Ladentischen nicht zur Geltung. Ich wünschte zu Gott, dass dieser Blockadebrecher – wie heißt er noch?«

»Captain Butler«, half Mrs. Elsing nach.

»Ich wünschte, er brächte mehr Krankenhausbedarf und weniger Reifröcke und Spitze. Hätte ich heute Augen für Kleider gehabt, ich hätte zwanzig gesehen, die er hereingeschmuggelt hat. Captain Butler – ich kann den Namen nicht mehr hören. Also Pitty, ich habe keine Zeit zum Streiten. Du musst kommen. Das werden alle verstehen. Außerdem sieht dich im Hinterzimmer sowieso niemand, und Melly wird nicht auffallen. Der Stand der armen McLure-Mädchen ist ganz hinten und nicht sonderlich hübsch, so dass dich niemand bemerken wird.«

»Ich finde, wir sollten hingehen«, sagte Scarlett und versuchte ihren Eifer zu dämpfen und ihr Gesicht ernst und harmlos aussehen zu lassen. »Das ist das Mindeste, was wir für das Lazarett tun können.«

Keine der Besucherinnen hatte ihren Namen auch nur erwähnt, und sie musterten sie mit kritischen Blicken. Selbst in dieser Notlage hätten sie nie in Betracht gezogen, eine Frau, die erst seit knapp einem Jahr Witwe war, zu einer solchen Veranstaltung zu bitten.

»Ich finde, wir sollten hingehen und dazu beitragen, dass es ein Erfolg wird, wir alle. Ich finde, ich sollte mit Melly an den Stand gehen, weil – ich glaube, es sieht besser aus, wenn wir zu zweit da stehen als nur eine. Findest du nicht auch, Melly?«

»Naja«, begann Melly hilflos. Der Gedanke, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, während sie in Trauer war, erschien so unerhört, dass er sie komplett überforderte.

»Scarlett hat recht«, sagte Mrs. Merriwether, die Anzeichen des Einlenkens wahrnahm. Sie erhob sich und schüttelte ihren Reifrock zurecht. »Alle beide – alle drei müsst ihr kommen. Pitty, jetzt fang nicht wieder mit den Ausflüchten an. Bedenk doch bitte, wie dringend das Lazarett Geld braucht für neue Betten und Medikamente. Und ich weiß, dass es Charlie freuen würde, wenn ihr die Gute Sache unterstützt, für die er gestorben ist.«

»Tja«, sagte Pittypat, hilflos wie immer in Gegenwart einer stärkeren Persönlichkeit, »wenn du meinst, dass die Leute dafür Verständnis haben.«

»Zu schön, um wahr zu sein! Zu schön, um wahr zu sein!« jubelte es in Scarlett, als sie unauffällig in den rosa und gelb drapierten Verkaufsstand schlüpfte, der eigentlich für die McLure-Mädchen vorgesehen war. Sie war tatsächlich auf einer Party! Nach einjährigem Eingesperrtsein mit Trauerkleidung und gedämpften Stimmen und Langeweile bis zum Wahnsinnigwerden war sie wirklich auf einer Party – der größten, die Atlanta je gesehen hatte. Und sie konnte Menschen und viele Lichter sehen und Musik hören und mit eigenen Augen die hübsche Spitze und die Kleider und Kinkerlitzchen betrachten, die der berühmte Captain Butler auf seiner letzten Fahrt durch die Blockade bugsiert hatte.

Sie ließ sich auf einem der kleinen Hocker hinter der Theke nieder und blickte den Saal hinunter, der bis zu diesem Nachmittag ein kahler und hässlicher Exerzierraum gewesen war. Wie mussten die Damen heute gearbeitet haben, um ihn so zu verschönern. Er sah entzückend aus. Jede Kerze und jeder Kerzenständer Atlantas war anscheinend heute Abend in diesem Saal, dachte sie – silberne mit einem Dutzend Armen, solche aus Porzellan, an deren Basis sich reizende Figürchen drängten, und alte Messingständer, aufrecht und würdevoll, standen mit lorbeerduftenden Kerzen aller Größen und Farben auf den Gewehrhaltern an den Längswänden, auf den langen blumengeschmückten Tischen, auf den Ladentheken und sogar an den offenen Fenstern, wo die warme Sommerluft gerade genug hereinwehte, um sie flackern zu lassen.

Der klobige große Lüster, der an rostigen Ketten in der Mitte des Saals von der Decke hing, war vollkommen verwandelt durch Efeuranken und wilden Wein, auch wenn sie aufgrund der Hitze bereits welk wurden. Die Wände waren mit würzig duftenden Pinienzweigen verkleidet, die in den Ecken des Saals hübsche Lauben für die Anstandsdamen und alten Frauen bildeten. Lange, anmutige Girlanden von Efeu, Weinranken und Stechwinden hingen an den Wänden, umkränzten die Fenster und bogen sich geflochten über die bunten Gazestände. Und überall zwischen dem Grün leuchteten auf Fahnen und Wimpeln die hellen Sterne der Konföderation auf ihrem blau-roten Grund.

Das Podium für die Musiker war besonders kunstvoll gestaltet. Es war durch das aufgetürmte Grün und den bestirnten Flaggenstoff nahezu vollständig den Blicken entzogen, und Scarlett wusste, dass sämtliche Topfpflanzen der Stadt hier standen, Buntnesseln, Geranien, Hortensien, Oleander, Begonien – sogar Mrs. Elsings vier geheiligte Gummibäume, welche die Ehrenplätze an den vier Ecken einnahmen.

Am anderen Ende des Saals, gegenüber dem Podium, hatten die Damen sich selbst übertroffen. An dieser Wand hingen große Bilder von Präsident Davis und dem aus Georgia stammenden »Little Alec« Stephens, dem Vizepräsidenten der Konföderation. Über ihnen hing eine gigantische Fahne, und darunter befand sich auf langen Tischen die Ausbeute aller Gärten der Stadt, Farne, Berge von Rosen, rot, gelb und weiß, stolze Gladiolensträuße, verschiedenfarbige Kapuzinerkresse zuhauf, und hochragende Gebirgsmalven, die ihre braunvioletten und cremefarbenen Köpfe über die anderen Blumen reckten. Dazwischen brannten Kerzen wie Altarlampen. Die beiden Gesichter blickten auf die Szene herab, zwei Gesichter, wie sie bei Männern, die eine so folgenschwere Unternehmung leiteten, verschiedener nicht hätten sein können: Davis mit eingefallenen Wangen und den kalten Augen des Asketen, die dünnen, stolzen Lippen fest aufeinandergepresst, Stephens mit dunkel brennenden, tiefliegenden Augen in einem Antlitz, das nichts als Krankheit und Schmerzen gekannt und mit Humor und innerem Feuer darüber triumphiert hatte – zwei Gesichter, die sehr geliebt wurden.

Die älteren Damen des Komitees, in deren Händen die Verantwortung für den Basar lag, segelten wie vollgetakelte Fregatten herein, trieben verspätete jungverheiratete Frauen und kichernde Mädchen in ihre Verkaufsstände und wogten dann durch die Türen in die Hinterzimmer, wo die Erfrischungen vorbereitet wurden. Tante Pittypat schnaufte hinterher.

Die Musikanten kletterten strahlend auf das Podium – ihre schwarzen Pausbacken glänzten bereits von Schweiß – und fingen an, ihre Geigen zu stimmen und im Vorgefühl ihrer Wichtigkeit mit ihren Bögen zu sägen und zu knarzen. Der alte Levi, Mrs. Merriwethers Kutscher, der die Kapelle schon seit damals, als Atlanta noch Marthasville geheißen hatte, bei jedem Basar, jedem Ball und jeder Hochzeit leitete, klopfte mit dem Bogen auf sein Pult. Es waren, abgesehen von den Damen, die den Basar organisierten, erst wenige Leute da, aber alle Augen richteten sich auf ihn. Dann begannen die Geigen, Bassgeigen, Akkordeons, Banjos und Knuckle Bones eine langsame Version von Lorena – zu langsam zum Tanzen, denn das Tanzen würde später anfangen, wenn die Stände leer gekauft waren. Scarletts Herz schlug schneller, als sie die liebliche Melodie des Walzers hörte:

Die Jahre, ach, sie zieh’n, Lorena!

Der Schnee bedecket schon das Gras.

Die Sonne steht schon tief, Lorena …

Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, tief-Schwung-drei, drehn-zwei-drei. Was für ein wunderschöner Walzer! Sie breitete ein wenig die Arme aus, schloss die Augen und schaukelte im schwermütigen Rhythmus des Ohrwurms hin und her. Irgendwie mischte sich die traurige Melodie und Lorenas verlorene Liebe mit ihrer eigenen Aufregung und schnürte ihr die Kehle zu.

Dann, als hätte die Walzermusik sie herbeigezaubert, drangen unten von der dunklen, nur vom Mond beleuchteten Straße Geräusche herein, Hufgetrappel und Wagenräder, Gelächter in der warmen, samtigen Luft und die leise Schärfe von Sklavenstimmen, die um Anbindeplätze für ihre Pferde zankten. Auf den Treppen herrschte ausgelassenes Durcheinander, die hellen Stimmen der Mädchen mischten sich mit den Basstönen ihrer Begleiter, muntere Begrüßungsrufe und Freudenschreie ertönten, wenn Mädchen Freundinnen erkannten, von denen sie sich erst am Nachmittag verabschiedet hatten.

Plötzlich erwachte der Saal zum Leben. Er war voller Mädchen, die in schmetterlingsbunten Kleidern hereinschwebten, mit gewaltigen Reifröcken, unter denen Spitzenunterhosen hervorlugten, mit nackten, runden Schultern und einer zarten Andeutung von Brüsten, die sich über dem Spitzenbesatz abzeichneten, während der Spitzenschal lässig über dem Arm hing. Mit Sternen bemalte Fächer und solche aus Schwanendaunen und Pfauenfedern hingen an schmalen Samtbändern von ihren Handgelenken. Manche Mädchen trugen ihr dunkles Haar in strengen Knoten, die so schwer waren, dass ihre Köpfe stolz und kess nach hinten gebogen wurden, bei anderen ringelte sich die blonde Lockenpracht um den Hals, während goldene Ohrringe mit den Locken um die Wette schaukelten und tanzten. Spitze und Seidenstoffe und Kordeln und Bänder waren alle durch die Blockade geschmuggelt worden und deswegen umso kostbarer, und sie wurden mit entsprechend großem Stolz als besonderer Affront gegen die Yankees zur Schau gestellt.

Nicht alle Blumen der Stadt blühten zu Ehren der Anführer der Konföderation. Die kleinsten und wohlriechendsten Blüten schmückten die Mädchen. Teerosen hinter rosa Ohrmuscheln, Gardenien und Rosenknospen in gebogenen Girlanden über Kaskaden von Schläfenlöckchen, Blüten, die keusch in Satinschärpen steckten, Blumen, die noch vor Ende der Nacht als wohlgehütetes Andenken ihren Weg in die Brusttaschen grauer Uniformen finden würden.

Es waren so viele Uniformen in der Menge zu sehen – so viele Uniformen an so vielen Männern, die Scarlett kannte, Männer, die sie an Feldbetten im Lazarett kennengelernt hatte, auf der Straße, am Exerzierplatz. Prachtvoll waren diese Uniformen mit ihren glänzenden Knöpfen und prunkvollen verschlungenen Goldtressen an Aufschlägen und Kragen, den je nach Waffengattung roten, gelben oder blauen Biesen auf den Hosen, die das Grau perfekt zur Geltung brachten. Scharlachrote und goldene Schärpen baumelten hin und her, Säbel blinkten und stießen gegen glänzende Stiefel, Sporen rasselten und klirrten.

Was für stattliche Männer, dachte Scarlett wohlgefällig, während die Männer Grüße austauschten, Freunden zuwinkten und sich tief über die Hände älterer Damen beugten. Alle sahen so jung aus, trotz ihrer schwungvollen blonden Schnauzer und ihrer schwarzen und braunen Vollbärte, so hübsch, so unbekümmert mit Armen in der Schlinge, mit kalkweißen Kopfverbänden über sonnengebräunten Gesichtern. Manche gingen an Krücken, und wie stolz waren die Mädchen, die sorgsam ihren Schritt dem Gehumpel ihrer Begleiter anpassten. Unter all den Uniformen befand sich ein wilder Farbtupfer, der den bunten Putz der Mädchen in den Schatten stellte und auffiel wie ein Paradiesvogel – ein Zuave aus Louisiana mit blau-weiß gestreiften Pluderhosen, beigen Gamaschen und einer engen roten Jacke, ein dunkles, grinsendes Äffchen von einem Mann, der den Arm in einer schwarzen Seidenschlinge trug. Er war Maybelle Merriwethers besonderer Verehrer, René Picard. Das ganze Lazarett musste gekommen sein, zumindest alle, die laufen konnten, auch alle Männer auf Urlaub und im Krankenstand, sowie die Besetzungen aller Bahn- und Postämter und alle Krankenhaus- und Requirierungsabteilungen zwischen hier und Macon. Wie würden sich die Damen freuen! Das Lazarett würde heute Abend ein Heidengeld einnehmen.

Von der Straße klangen gedämpfte Trommelwirbel herauf, das Geräusch von Marschierenden und die bewundernden Ausrufe der Kutscher. Ein Signalhorn ertönte, und eine Bassstimme gab Befehl, aus dem Glied zu treten. Im nächsten Augenblick erbebte die Treppe unter den Schritten der Bürgerwehr und der Miliz, deren Mitglieder kurz darauf in ihren hellen Uniformen unter Verbeugungen, Salutieren und Händeschütteln in den Saal drängten. In der Bürgerwehr waren Knaben, die Krieg spielten und sich fest vorgenommen hatten, nächstes Jahr um diese Zeit, sollte der Krieg so lange andauern, in Virginia zu sein; alte weißbärtige Männer, die sich wünschten, jünger zu sein, und sich, stolz auf ihre Uniform, im Ruhm ihrer Söhne an der Front sonnten. In der Miliz gab es viele mittelalte und einige ältere Männer, aber auch nicht wenige Männer in felddienstfähigem Alter, die sich nicht so fesch und stramm hielten wie die Älteren und Jüngeren. Es wurde bereits getuschelt, warum sie wohl nicht an Lees Seite waren.

Wie sollten sie alle in den Saal passen? Vor wenigen Minuten hatte er noch enorm groß ausgesehen, und nun war er brechend voll und zugleich erfüllt von warmen Sommernachtsgerüchen aus Duftkissen und Eau de Cologne, von Pomade und brennenden Lorbeerkerzen und Blumenduft, aber auch vom Staub, der vom alten Exerzierboden aufgewirbelt wurde. Der Lärm und das Stimmengewirr machten es nahezu unmöglich, etwas herauszuhören, und der alte Levi, als spürte er die Freude und Erregung des Anlasses, brach Lorena mitten im Takt ab, klopfte energisch mit seinem Bogen, und das Orchester fiedelte Bonnie Blue Flag, als gelte es das Leben.

Hunderte Stimmen fielen ein und sangen das Lied johlend mit. Der Hornist der Bürgerwehr kletterte aufs Podium, setzte genau zum Refrain ein, und die hohen silbrigen Töne schwebten mitreißend über dem Gesang der Menge. Die nackten Arme bekamen Gänsehaut, und kalte Schauer rieselten so manchen Rücken hinab:

Hurra! Hurra! Für des Südens Recht, Hurra!

Hurra für die schöne blaue Flagge,

Die ein einz’ger Stern nur schmückt.

Sie schmetterten den zweiten Vers, und Scarlett hörte während des Mitsingens, wie hinter ihr Mellys hoher, süßer Sopran aufstieg, klar und rein und begeisternd wie das Spiel des Horns. Sie wandte sich um, und da stand Melly, die Hände an die Brust gepresst, und zarte Tränen rannen aus ihren geschlossenen Augen. Als die Musik endete, verzog sie ihren Mund zu einem verlegenen Lächeln und tupfte sich die Augen mit dem Taschentuch ab.

»Ich bin so glücklich«, flüsterte sie, »und so stolz auf die Soldaten, dass ich einfach weinen muss.«

Eine schwärmerische Glut strahlte in ihren Augen und machte ihr kleines, unscheinbares Gesicht einen Moment lang schön.

Das gleiche Leuchten zeigte sich beim Ende des Liedes auf den Gesichtern aller Frauen; Tränen des Stolzes auf rosigen wie runzligen Wangen, ein verklärtes Lächeln, eine tiefe, heiße Glut in den Augen, als sie sich ihren Männern zuwandten, die Liebende dem Geliebten, die Mutter dem Sohn, die Ehefrau ihrem Mann. Alle waren sie schön, von der blendenden Schönheit, die selbst die hässlichste Frau verwandelt, wenn sie sich vollkommen geborgen und geliebt fühlt und diese Liebe tausendfältig zurückgibt.

Sie liebten ihre Männer, sie glaubten an sie und vertrauten ihnen bis zum letzten Atemzug. Wie sollte über Frauen wie sie je Unheil kommen, wo doch diese standhafte, graue Kampflinie zwischen ihnen und den Yankees stand? Hatte es seit Anbeginn der Welt je solche Männer gegeben, so heldenhaft, so kühn, so galant, so zärtlich? Konnte einer Guten Sache, die so gerecht und richtig war wie die ihre, etwas anderes als ein überwältigender Sieg beschieden sein? Eine Gute Sache, die sie ebenso sehr liebten wie ihre Männer, der sie mit Hand und Herz dienten, über die sie sprachen, nachdachten, von der sie träumten – eine Gute Sache, der sie notfalls auch diese Männer opfern und dann den Verlust ebenso aufrecht tragen würden wie die Männer ihre Feldstandarten.

Ihr Herz schwoll vor Hingabe und Stolz, vor Begeisterung für die Konföderation, denn der endgültige Sieg stand bevor. Stonewall Jacksons Triumph im Shenandoah Valley und die Niederlage der Yankees in der siebentägigen Schlacht bei Richmond zeigten das deutlich. Wie konnte es auch anders sein bei solchen Heerführern wie Lee und Jackson? Nur noch ein weiterer Sieg, und die Yankees würden auf Knien um Frieden betteln, und die Männer würden nach Hause reiten und mit Küssen und Lachen empfangen werden. Nur noch ein Sieg, dann war der Krieg vorbei!

Gewiss, da waren leere Stühle und Babys, die nie das Gesicht ihres Vaters sehen würden, und es gab namenlose Gräber neben einsamen Bächen in Virginia und in den stillen Bergen von Tennessee, aber war das ein zu hoher Preis für eine Gute Sache? Seidenstoffe für die Damen und Tee und Zucker waren schwer zu bekommen, aber das konnte man mit einem Scherz abtun. Außerdem führten die verwegenen Blockadebrecher diese Dinge unter der Nase der verärgerten Yankees ein, was ihren Besitz umso erregender machte. Bald würden sich Raphael Semmes und die konföderierte Marine um die Kanonenboote der Yankees kümmern, und dann stünden die Häfen wieder weit offen. Und England würde der Konföderation helfen, den Krieg zu gewinnen, weil die englischen Webereien aus Mangel an Baumwolle stillstanden. Denn selbstverständlich sympathisierte die englische Aristokratie mit der Konföderation gegen eine Bande von Dollarfuchsern wie den Yankees, weil Aristokraten eben untereinander sympathisieren.

Daher raschelten die Damen mit ihren Seidenkleidern und lachten, und wenn ihr Herz beim Anblick ihrer Männer schier bersten wollte vor Stolz, so wussten sie, dass eine Liebe, die man Gefahr und Tod abtrotzte, seltsam erregend und damit doppelt süß war.

Zu Anfang, als sie die Menge betrachtete, hatte Scarletts Herz vor Aufregung, an einer Party teilzunehmen, wild geklopft, aber als sie mit leichtem Unverständnis den hochherzigen Ausdruck auf allen Gesichtern sah, verflog ihre Freude allmählich. Alle anwesenden Frauen waren befeuert von einem Gefühl, das sie selbst nicht empfand. Das verwirrte und bedrückte sie. Der Saal kam ihr nicht mehr so hübsch und die Mädchen nicht mehr so hinreißend vor, und die glühende Hingabe an die Gute Sache, die immer noch alle Gesichter erfüllte, wirkte – nun, sie wirkte einfach töricht!

In einem blitzartigen Moment der Selbsterkenntnis begriff sie, dass sie den leidenschaftlichen Stolz dieser Frauen, ihren Wunsch, sich und alles, was sie besaßen, für die Gute Sache zu opfern, nicht teilte. Vor Staunen stand ihr der Mund offen. Noch ehe sie schuldbewusst dachte: »Nein – nein! Ich darf so etwas nicht denken! Das ist falsch, das ist Sünde«, hatte sie erkannt, dass ihr die Gute Sache überhaupt nichts bedeutete und dass Menschen, die mit fanatischem Blick darüber sprachen, sie einfach langweilten. Die Gute Sache erschien ihr nicht als etwas Heiliges. Auch der Krieg war für sie keine heilige Unternehmung, sondern ein lästiges Ärgernis, in dem Männer sinnlos zu Tode kamen, das Geld kostete und Luxusartikel nahezu unerreichbar machte. Sie erkannte, dass ihr das ewige Stricken und Bindenrollen und Scharpiezupfen, von dem ihre Nagelhaut rissig wurde, gründlich auf die Nerven ging. Und ach, wie satt sie das Lazarett hatte! Überdruss, Langeweile und Ekel erfüllten sie angesichts der widerlichen Wundbrandgerüche und des unablässigen Stöhnens – und der Ausdruck des nahenden Todes in den eingesunkenen Gesichtern machte ihr Angst.

Sie blickte sich verstohlen um, als ihr diese lästerlichen Gedanken durch den Kopf schossen, denn sie fürchtete, man könnte sie deutlich von ihrem Gesicht ablesen. Warum war sie nicht imstande, so zu empfinden wie die anderen Frauen? Sie gaben sich von ganzem Herzen und aufrichtig der Guten Sache hin. Sie meinten alles, was sie sagten und taten. Und wenn jemals jemand argwöhnen sollte, dass Scarlett … Nein, niemand durfte es je erfahren! Sie musste weiterhin so tun, als diente sie mit Begeisterung und Stolz der Guten Sache, und sie musste die Rolle der Witwe eines Konföderationsoffiziers spielen, die tapfer ihren Kummer erträgt und deren Herz gestorben ist, für die der Tod des Ehemanns aber keine Bedeutung hat, wenn er der Guten Sache zum Sieg verhilft.

Ach, warum hatte sie mit diesen liebenden Frauen so gar nichts gemein? Scarlett würde niemals etwas oder jemanden so selbstlos lieben können wie sie. Wie einsam sie sich fühlte – noch nie zuvor war sie einsam gewesen, weder körperlich noch seelisch. Zunächst versuchte sie, die Gedanken zu unterdrücken, aber die harte Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, die zu ihrem Charakter gehörte, ließ das nicht zu. Und während der Verkauf im Basar weiterging und sie und Melanie die Kunden bedienten, arbeitete ihr Geist fieberhaft daran, sich zu rechtfertigen – was ihr selten schwerfiel.

Die anderen Frauen waren eben einfach dumm und hysterisch mit ihrem Gerede von Patriotismus und der Guten Sache, und die Männer waren fast ebenso schlimm mit ihrem Gerede von unverzichtbaren Punkten und Rechten der Bundesstaaten. Sie, Scarlett O’Hara Hamilton, hatte als einzige ihren guten dickköpfigen, irischen Verstand beisammen. Sie würde sich wegen der Guten Sache nicht lächerlich machen, aber sie würde sich auch nicht lächerlich machen, indem sie ihre wahren Gefühle offenbarte. Sie war dickköpfig genug, um die Angelegenheit von der praktischen Seite her zu sehen, und niemand würde je von ihren wahren Gefühlen erfahren. Wie überrascht wären die Leute auf dem Basar, wenn sie wüssten, was sie wirklich dachte! – wie schockiert, wenn Scarlett plötzlich auf das Podium steigen und erklären würde, der Krieg müsse aufhören, damit jeder nach Hause zu seiner Baumwolle gehen könnte und es endlich wieder Partys und Liebesgeplänkel und lindgrüne Kleider in Hülle und Fülle gäbe.

Einen Augenblick lang fühlte sie sich durch ihre Selbstrechtfertigung etwas ermuntert, aber immer noch blickte sie voller Abneigung im Saal umher. Der Stand der McLure-Mädchen war unauffällig, wie Mrs. Merriwether angekündigt hatte, und es gab längere Pausen, in denen niemand in ihre Ecke kam und Scarlett nichts zu tun hatte, als neidisch das vergnügte Gedränge zu betrachten. Melanie spürte ihre Misslaunigkeit, schrieb diese aber der Sehnsucht nach Charlie zu und wollte Scarlett deswegen in kein Gespräch verwickeln. Sie beschäftigte sich damit, die Waren in ihrem Stand ansprechender anzuordnen, während Scarlett dasaß und niedergeschlagen um sich blickte. Selbst die Blumenmauer unter den Bildern von Mr. Davis und Mr. Stephens missfiel ihr.

Das sieht aus wie ein Altar, dachte sie naserümpfend. Und so, wie alle immerfort von den beiden schwärmen, könnten sie auch Gottvater und Sohn sein! Erschrocken über ihre Respektlosigkeit begann sie sich hastig zu bekreuzigen, fing sich aber noch rechtzeitig.

»Ist doch wahr«, erwiderte sie ihrem Gewissen. »Alle tönen herum, als wären sie heilig, dabei sind es bloß Männer, und reichlich unattraktive noch dazu.«

Natürlich konnte Mr. Stephens nichts für sein Aussehen, denn er war sein ganzes Leben lang kränklich gewesen, aber Mr. Davis – sie blickte zu dem selbstgefälligen, hochmütigen Gesicht empor. Am meisten störte sie sein Spitzbart. Männer sollten entweder glattrasiert sein oder einen Schnurrbart oder Vollbart tragen.

Dieses kleine Büschelchen sieht aus, als hätte er nichts Besseres hingekriegt, dachte sie, ohne die kalte, harte Intelligenz in seinem Gesicht zu erkennen, die die Bürde einer neuen Nation trug.

Nein, jetzt war sie nicht mehr fröhlich, dabei hatte sie zu Beginn gestrahlt vor Vergnügen, unter Menschen zu sein. Inzwischen genügte ihr das bloße Dabeisein nicht mehr. Sie war auf dem Basar, aber sie gehörte nicht dazu. Niemand schenkte ihr Aufmerksamkeit, und sie war die einzige junge, unverheiratete Frau, die keinen Verehrer hatte. Und dabei war sie zeit ihres Lebens im Mittelpunkt gestanden. Es war einfach ungerecht! Sie war siebzehn Jahre alt, und ihre Füße klopften den Takt und wollten hüpfen und tanzen. Sie war siebzehn Jahre alt und hatte einen Ehemann, der auf dem Oakland-Friedhof lag, und ein Baby in der Wiege im Haus von Tante Pittypat, und alle Leute fanden, sie müsse mit ihrem Schicksal zufrieden sein. Sie hatte einen weißeren Busen und eine schlankere Taille und kleinere Füße als irgendeins der anwesenden Mädchen, aber das spielte überhaupt keine Rolle; sie hätte genauso gut neben Charles liegen können – unter der in Stein gemeißelten Aufschrift »mit seiner geliebten Ehefrau«.

Sie war kein Mädchen, das tanzen und flirten durfte, und sie war auch keine Ehefrau, die bei den anderen Ehefrauen sitzen und über die tanzenden und flirtenden Mädchen herziehen konnte. Und alt genug, um Witwe zu sein, war sie auch nicht. Witwen mussten alt sein – so furchtbar alt, dass sie keine Lust mehr hatten zu tanzen und zu flirten und sich bewundern zu lassen. Ach, es war so ungerecht, dass sie hier brav sitzen und ein Inbild würdevoller Witwenschaft darstellen musste, wo sie doch erst siebzehn war. Es war einfach ungerecht, dass sie ihre Stimme dämpfen und die Augen niederschlagen musste, wenn Männer, und noch dazu gutaussehende Männer, an ihren Stand kamen.

Jedes Mädchen in Atlanta konnte in Männern waten. Selbst die hässlichsten Mädchen führten sich wie Diven auf – und was das Schlimmste war, sie taten es in so wunderschönen Kleidern!

Hier saß sie wie eine Krähe, bis zu den Handgelenken in heißem schwarzem Taft und zugeknöpft bis zum Kinn, ohne die leiseste Andeutung von Spitze oder Litze, ohne Schmuck außer Ellens Trauerbrosche aus Onyx, und musste zusehen, wie geschmacklos gekleidete Mädchen am Arm attraktiver Männer hingen. Alles nur, weil Charles Hamilton die Masern bekommen hatte. Er war nicht einmal in heldenhaftem Glanz gestorben, so dass sie mit ihm hätte prahlen können.

Trotzig stützte sie die Ellbogen auf den Ladentisch und blickte in die Menge, ungeachtet der oft wiederholten Ermahnungen Mammys, sich nicht aufzustützen, weil das die Ellbogen hässlich und faltig macht. Was spielte es denn für eine Rolle, wenn sie hässlich wurden? Sie würde wahrscheinlich nie wieder die Chance bekommen, sie zu zeigen. Sie konnte die Augen nicht von den vorbeischwebenden Kleidern wenden, einem Reigen aus buttergelber Moiréseide mit Girlanden von Rosenknospen, rosa Satin mit achtzehn von dünnem schwarzem Samtband eingefassten Volants, Röcken aus neun Meter hellblauem Taft, umschäumt von darüberfallender Spitze, entblößten Busen, verlockenden Blumen. Maybelle Merriwether trat am Arm des Zuaven an den Nachbarstand in einem apfelgrünen Tarlatankleid, das so weit war, dass es ihre Taille auf ein Nichts reduzierte. Es war übersät mit gerüschter cremefarbener Chantilly-Spitze, die mit dem letzten Blockadebrecherschiff aus Charleston gekommen war, und Maybelle stellte es so kess zur Schau, als hätte sie selbst und nicht Captain Butler die Blockade durchbrochen.

Wie süß ich in diesem Kleid aussehen würde, dachte Scarlett mit wildem Neid im Herzen. Ihre Taille ist so dick wie die einer Kuh. Das Grün ist genau meine Farbe, und es würde meine Augen … Warum versuchen Blondinen bloß diese Farbe zu tragen? Ihre Haut sieht grün aus wie alter Käse. Und sich vorzustellen, dass ich diese Farbe nie wieder tragen werde, selbst wenn ich tatsächlich mal die Trauer ablegen sollte! Nein, nicht einmal, wenn ich es schaffe, wieder zu heiraten. Denn dann werde ich scheußliches Grau und Braun und Flieder tragen müssen.

Einen Augenblick lang dachte sie über die Ungerechtigkeit von alledem nach. Wie kurz war die Zeit für Spaß, für hübsche Kleider, fürs Tanzen und für Koketterie! Nur wenige, viel zu wenige Jahre. Dann heiratete man und trug gedeckte Farben und bekam Babys, die einem die Taille verdarben, und saß bei Bällen mit anderen humorlosen Matronen in der Ecke herum und kam nur hervor, um mit seinem Ehemann zu tanzen oder mit alten Herren, die einem auf die Füße traten. Wenn man sich nicht daran hielt, kam man bei den anderen Matronen ins Gerede, und dann war der Ruf ruiniert und man brachte Schande über die Familie. Es kam ihr wie eine Riesenverschwendung vor, dass man seine gesamte Mädchenzeit hindurch lernte, attraktiv zu sein und Männer an sich zu binden, um diese Kenntnisse dann nur ein oder zwei Jahre lang anzuwenden. Wenn sie auf ihre Ausbildung bei Ellen und Mammy zurückblickte, erkannte sie, dass diese gründlich und gut gewesen war, denn sie hatte immer ihre Wirkung getan. Es gab Regeln, die man befolgen musste, und wenn man sie befolgte, dann wurden die Bemühungen von Erfolg gekrönt.

Alten Damen gegenüber benahm man sich zuvorkommend und arglos und stellte sich so einfältig wie möglich, denn alte Damen waren schlau und beobachteten die Mädchen missgünstig wie Katzen, bereit, sich auf jede Unbedachtheit von Zunge oder Auge zu stürzen. Bei alten Herren war man als Mädchen naseweis und neckisch und schon fast kokett, so dass die alten Trottel sich in ihrer Eitelkeit geschmeichelt fühlten. Dann kamen sie sich wie junge Teufelskerle vor, kniffen einen in die Wange und erklärten, man sei ein kleines Biest. Und natürlich errötete man dann immer, sonst kniffen sie einen mit ungebührlichem Vergnügen und erzählten ihren Söhnen, man sei liederlich.

Bei jungen Mädchen und jungverheirateten Frauen raspelte man Süßholz und küsste sie bei jeder Begegnung – wenn es sein musste, zehnmal am Tag. Und man legte ihnen den Arm um die Taille und ließ sie dasselbe tun, egal, wie unangenehm man es fand. Man bewunderte rückhaltlos ihre Kleider oder ihre Babys, zog sie wegen ihrer Verehrer auf und lobte ihre Ehemänner und kicherte bescheiden und behauptete, man habe, verglichen mit ihnen, nicht die geringsten Reize. Und vor allem sagte man nie und zu keinem Thema, was man wirklich dachte, ebenso wenig, wie sie sagten, was sie wirklich dachten.

Die Ehemänner anderer Frauen ließ man strengstens in Ruhe, selbst wenn sie eigene, abgelegte Verehrer waren, ganz egal, wie anziehend man sie fand. War man zu nett zu jungen Ehemännern, erklärten ihre Frauen einen für liederlich, und dann bekam man einen schlechten Ruf und nie einen Verehrer.

Aber mit Junggesellen – ha! Das war etwas ganz anderes! Man konnte leise kichern, und wenn sie herbeieilten, um zu erfahren, warum man kicherte, konnte man sich weigern, es ihnen zu verraten, und lauter lachen und sie ewig festhalten, während sie versuchten, es herauszubekommen. Man konnte mit den Augen alles mögliche Aufregende versprechen, worauf er mit allerhand Manövern versuchte, einen allein zu erwischen. Und wenn er einen dann allein erwischt hatte, konnte man sehr, sehr verletzt sein oder sehr, sehr böse, wenn er einen zu küssen versuchte. Man konnte ihn zwingen, sich dafür zu entschuldigen, dass er ein solcher Flegel war, und ihm dann so lieb verzeihen, dass er dablieb und versuchte, einen ein zweites Mal zu küssen. Manchmal, aber nicht oft, ließ man sich auch küssen. (Das hatten Ellen und Mammy ihr nicht beigebracht, aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es funktionierte.) Dann brach man in Tränen aus und erklärte, man wisse nicht, was über einen gekommen sei, und jetzt könne er einen nie mehr achten. Dann trocknete er einem die Augen, und gewöhnlich machte er dann einen Heiratsantrag, um zu beweisen, wie groß seine Hochachtung war. Und dann gab es – ach, es gab so viele Dinge, die man mit Junggesellen anstellen konnte, und sie kannte sie alle, die Nuance eines Seitenblicks, das halbe Lächeln hinter dem Fächer, das Wiegen der Hüften, so dass die Röcke wie eine Glocke schwangen, die Tränen, das Lachen, die Schmeichelei, das liebevolle Mitgefühl. Ach, all die Tricks, die unweigerlich verfingen – außer bei Ashley.

Nein, es erschien nicht recht, all diese schlauen Tricks zu lernen, sie dann nur so kurz anzuwenden und danach nie wieder. Wie herrlich wäre es, nie zu heiraten, sondern sich immer in blassgrünen Kleidern zu bewegen und von stattlichen Männern umworben zu werden. Aber wenn man das zu lange trieb, dann wurde man eine alte Jungfer wie India Wilkes, und alle Leute sagten in diesem blasierten, gehässigen Ton »armes Ding«. Nein, am Ende war es doch besser, zu heiraten und seine Selbstachtung zu behalten, auch wenn man dann nie mehr Spaß hatte.

Ach, was war das Leben für ein Jammertal! Warum war sie so dumm gewesen, ausgerechnet Charles zu heiraten und ihr Leben mit sechzehn zu beenden?

Ihre bittere und hoffnungslose Träumerei wurde unterbrochen, als die Menge sich rückwärts gegen die Wände drängte, wobei die Damen sorgfältig ihre Reifröcke festhielten, damit kein achtloser Zusammenstoß mehr von ihren langen Unterhosen entblößte als schicklich war. Scarlett stellte sich auf die Zehenspitzen und sah, wie der Hauptmann der Miliz das Podium bestieg. Er brüllte Kommandos, und die Hälfte der Kompanie trat an. Einige Minuten lang exerzierten sie kräftig, bis Schweißperlen auf ihre Stirnen traten und das Publikum jubelnd applaudierte. Scarlett klatschte pflichteifrig mit, und als die Soldaten nach dem Wegtreten zu den Punsch- und Limonadenständen drängten, wandte sie sich an Melanie in dem Gefühl, dass sie ihr Täuschungsmanöver bezüglich der Guten Sache möglichst rasch ins Werk setzen sollte.

»Haben sie nicht gut ausgesehen?« fragte sie.

Melanie beschäftigte sich mit den Strickwaren auf dem Ladentisch.

»Die meisten würden bedeutend besser in grauen Uniformen und in Virginia aussehen«, sagte sie, ohne den geringsten Versuch, ihre Stimme zu dämpfen.

Einige der stolzen Mütter von Milizionären standen in der Nähe und hörten die Bemerkung. Mrs. Guinan lief erst puterrot an und wurde dann bleich, denn ihr fünfundzwanzigjähriger Willie gehörte ebenfalls zu der Einheit.

Scarlett war entgeistert, dass ausgerechnet Melly so etwas sagte.

»Aber Melly!«

»Du weißt, dass das stimmt, Scarlett. Ich meine nicht die kleinen Jungen und die alten Männer. Aber viele in der Miliz sind absolut tauglich, ein Gewehr zu tragen, und genau das sollten sie in diesem Moment tun.«

»Aber – aber …«, begann Scarlett, die noch nie darüber nachgedachthatte. »Jemand muss doch zu Hause bleiben, damit …« Was hatte Willie Guinan doch noch erzählt, um seine Gegenwart in Atlanta zu rechtfertigen? »Jemand muss zu Hause bleiben, damit keiner in unseren Staat einmarschiert.«

»Niemand marschiert bei uns ein, und das wird auch nie geschehen«, sagte Melly kühl, den Blick auf eine Gruppe Milizionäre gerichtet. »Und am besten hält man die Invasoren fern, indem man nach Virginia geht und dort die Yankees besiegt. Und dann das ganze Gerede, dass die Miliz hierbleibt, damit die Darkys keinen Aufstand machen – also, das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Warum sollten unsere Leute einen Aufstand machen? Das ist bloß eine Ausrede für Feiglinge. Ich wette, wir würden die Yankees in einem Monat fertigmachen, wenn alle Milizen unserer Staaten nach Virginia gingen. So!«

»Aber Melly!« rief Scarlett noch einmal und starrte sie fassungslos an.

Mellys sanfte, dunkle Augen funkelten zornig. »Mein Mann hatte keine Angst zu gehen, und deiner auch nicht. Und mir wäre es lieber, sie wären beide tot als hier zu Hause … O Darling, es tut mir leid. Wie gedankenlos und grausam von mir!«

Sie streichelte Scarletts Arm, während Scarlett sie noch immer anstarrte. Aber sie dachte nicht an den toten Charles, sondern an Ashley. Wenn er nun auch noch starb? Sie wandte sich rasch ab und lächelte mechanisch Dr. Meade an, der sich ihrem Stand näherte.

»Na, Mädels«, begrüßte er sie, »es war nett von euch zu kommen. Ich weiß, was für ein Opfer es für euch war, heute Abend auszugehen. Aber es ist ja für die Gute Sache. Und ich verrate euch auch ein Geheimnis. Ich habe noch eine Überraschung auf Lager, wie wir mehr Geld für das Lazarett aufbringen können, ich fürchte nur, dass ein paar Damen darüber schockiert sein werden.«

Er hielt inne, lachte leise und zupfte an seinem Spitzbart.

»Oh, was denn? Bitte verraten Sie’s uns!«

»Wenn ich’s mir recht überlege, dann lasse ich auch euch lieber im Dunkeln. Aber ihr Mädchen müsst zu mir halten, wenn die Kirchenmitglieder mich deshalb aus der Stadt jagen wollen. Schließlich ist es für das Lazarett. Ihr werdet schon sehen. So etwas hat es noch nie gegeben.«

Er stolzierte zu einer Gruppe von Anstandsdamen, die in einer Ecke saßen, und gerade, als sich die beiden Mädchen fragend anschauten, um was für ein Geheimnis es sich wohl handeln könnte, kamen zwei alte Herren an den Stand, die mit lauter Stimme erklärten, sie wollten zehn Ellen Schiffchenspitze. Nun, schließlich waren alte Herren besser als gar keine, dachte Scarlett, während sie die Spitze abmaß und sich sittsam gefallen ließ, ans Kinn gefasst zu werden. Die alten Schwerenöter machten sich zum Limonadestand auf, und andere nahmen ihren Platz am Ladentisch ein. Ihr Stand hatte nicht so viele Kunden wie die anderen, wo Maybelle Merriwethers schrilles Lachen und Fanny Elsings Kichern und die Schlagfertigkeit der Whiting-Mädchen für gute Laune sorgten. Melly verkaufte wie eine Geschäftsfrau still und gleichmütig unbrauchbares Zeug an alte Männer, die dafür keinerlei Verwendung haben konnten, und Scarlett ahmte Mellys Verhalten nach.

Vor allen Ständen außer dem ihren standen Trauben von Menschen, Mädchen schnatterten und Männer kauften. Die wenigen, die sich bei ihnen blicken ließen, erzählten, sie seien mit Ashley auf der Universität gewesen, und er sei ja so ein fabelhafter Soldat, oder sie sprachen voller Respekt von Charles und was für einen Verlust für Atlanta sein Tod doch bedeutete.

Dann brach die Kapelle in die ausgelassene Melodie von Johnny Booker, help this Nigger! aus, und Scarlett hätte schreien können. Sie wollte tanzen. Sie wollte tanzen. Sie schaute über die Tanzfläche und klopfte mit dem Fuß den Takt, und ihre grünen Augen leuchteten so begierig, dass sie geradezu blitzten.

Ganz auf der anderen Seite des Raums stand ein Neuankömmling in der Tür, sah sie beide, zuckte beim Wiedererkennen leicht zusammen und betrachtete eingehend die schrägstehenden Augen in dem mürrischen, aufmüpfigen Gesicht. Dann erkannte er die Einladung, die jeder Mann darin lesen konnte, und schmunzelte.

Er trug einen schwarzen Anzug aus feinem Wollstoff und überragte die Offiziere in seiner Nähe. Er hatte breite Schultern, aber schmale Hüften und absonderlich kleine Füße in Lackstiefeln. Sein strenger dunkler Anzug mit dem feinen Rüschenhemd und den Hosen, die straff unter seinem hohen Rist gespannt waren, stand in merkwürdigem Kontrast zu seinem Körperbau und Gesicht – geckenhafte Kleider eines Dandys an einem Körper, der in seiner lässigen Haltung kräftig und unterschwellig gefährlich wirkte. Sein Haar war kohlrabenschwarz, und sein kleiner schwarzer, kurz gestutzter Schnurrbart sah neben den schneidigen, geschwungenen Schnurrbärten der danebenstehenden Kavalleristen beinahe fremdländisch aus. Man sah ihm an, dass er ein Mann von ungebremsten, schamlosen Gelüsten war. Er strahlte vollkommene Selbstgewissheit und eine nicht recht sympathische Unverfrorenheit aus, und er starrte Scarlett unverhohlen mit einem leicht maliziösen Glitzern in den Augen an, bis sie seinen Blick spürte und erwiderte.

Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie konnte sich im Augenblick nicht erinnern, wer er war. Doch er war der erste Mann seit Monaten, der Interesse an ihr zeigte, und sie warf ihm ein fröhliches Lächeln zu. Er verbeugte sich und sie knickste leicht, doch als er sich dann aufrichtete und mit auffallend geschmeidigem, indianisch wirkendem Gang auf sie zukam, schlug sie sich erschrocken die Hand vor den Mund, denn plötzlich erkannte sie ihn.

Wie vom Donner gerührt stand sie regungslos da, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Dann drehte sie sich blindlings um und wollte in die Erfrischungsräume flüchten, aber ihr Rock verhakte sich an einem Nagel. Sie zerrte wütend daran, so dass der Rock zerriss, und im selben Augenblick stand er neben ihr.

»Erlauben Sie«, sagte er, bückte sich und machte den Volant los. »Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass Sie sich an mich erinnern würden, Miss O’Hara.«

Seine Stimme klang überraschend angenehm, die wohlmodulierte, klangvolle Stimme eines Gentleman, überlagert von der flachen, gedehnten Sprechweise von Charleston.

Sie blickte flehend zu ihm auf, das Gesicht flammend rot vor Scham über ihre letzte Begegnung, und traf zwei Augen, so schwarz, wie sie noch kaum je welche gesehen hatte, die in mitleidlosem Vergnügen funkelten. Dass von allen Menschen auf der Welt dieser schreckliche Mensch hier auftauchen musste, der die Szene mit Ashley miterlebt hatte, die ihr immer noch Albträume bereitete; dieser widerliche Schuft, der Mädchen kompromittierte und nicht gesellschaftsfähig war; dieser verachtenswerte Mann, der nicht zu Unrecht gesagt hatte, dass sie keine Dame sei!

Beim Klang seiner Stimme wandte sich Melly um, und zum ersten Mal in ihrem Leben dankte Scarlett Gott für die Anwesenheit ihrer Schwägerin.

»Ach, das ist – das ist ja Mr. Rhett Butler, oder?« sagte Melanie und streckte lächelnd ihre Hand aus. »Ich kenne Sie …«

»Vom glücklichen Anlass der Bekanntmachung Ihrer Verlobung«, setzte er ihren Satz fort und beugte sich tief über ihre Hand. »Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich meiner erinnern.«

»Und was machen Sie hier, so weit weg von Charleston, Mr. Butler?«

»Langweilige Geschäftsangelegenheiten, Mrs. Wilkes. Ich werde Ihre Stadt von jetzt an öfter besuchen. Ich habe festgestellt, dass es nicht genügt, Waren einzuführen, ich muss sie auch an den Mann bringen.«

»Einzuführen …«, begann Melly mit gerunzelter Stirn, doch dann strahlte sie vor Freude. »Ach, dann – dann müssen Sie ja der berühmte Captain Butler sein, von dem wir schon so viel gehört haben – der Blockadebrecher. Meine Güte, alle Mädchen hier tragen Kleider, die Sie eingeführt haben. Scarlett, ist das nicht aufregend – was ist los, meine Liebe? Fühlst du dich nicht wohl? Setz dich doch hin!«

Scarlett sank auf den Hocker. Ihr Atem ging so schnell, dass sie fürchtete, ihr Korsett würde platzen. Oh, wie entsetzlich! Sie hätte nie erwartet, diesen Mann wiederzutreffen. Er nahm ihren schwarzen Fächer vom Tisch und begann, ihr fleißig Luft zuzufächeln, ein wenig zu fleißig, mit ernstem Gesicht, aber immer noch blitzenden Augen.

»Es ist ziemlich warm hier drinnen«, sagte er. »Kein Wunder, dass Miss O’Hara nicht wohl ist. Darf ich Sie ans Fenster bringen?«

»Nein«, sagte Scarlett so abweisend, dass Melly sie überrascht anschaute.

»Sie heißt nicht mehr Miss O’Hara«, sagte Melly. »Sie ist Mrs. Hamilton. Sie ist jetzt meine Schwester.« Melly warf ihr einen ihrer zärtlichen kurzen Blicke zu. Scarlett glaubte zu ersticken, als sie den Ausdruck in Captain Butlers dunklem Piratengesicht sah.

»Das ist mit Sicherheit ein großer Gewinn für zwei charmante Damen«, sagte er und verbeugte sich leicht. Solche Bemerkungen machten alle Männer, aber Scarlett hatte das Gefühl, dass er das genaue Gegenteil meinte.

»Ihre Ehemänner sind vermutlich hier bei diesem angenehmen Anlass heute Abend? Ich würde mit Vergnügen die Bekanntschaft erneuern.«

»Mein Mann ist in Virginia«, sagte Melly und warf stolz den Kopf zurück. »Aber Charles …« Ihre Stimme brach.

»Er ist im Feldlager gestorben«, sagte Scarlett knapp und fast schnippisch. Würde diese Kreatur nie weggehen? Melly blickte sie erschrocken an, und der Captain machte eine entschuldigende Geste.

»Meine lieben Damen, wie konnte ich nur! Sie müssen mir verzeihen. Aber gestatten Sie einem Fremden die tröstenden Worte: Wer für sein Land stirbt, der lebt ewig.«

Melanie lächelte ihn durch schimmernde Tränen an, während Scarlett von Zorn und ohnmächtigem Hass zerfressen wurde. Wieder einmal hatte er eine artige Bemerkung gemacht, wie sie jeder Gentleman unter diesen Umständen machen würde, aber er meinte nicht eine Silbe davon ernst. Er verhöhnte sie. Er wusste, dass sie Charles nicht geliebt hatte. Aber Melly in ihrer Naivität durchschaute ihn nicht. O bitte, lieber Gott, mach, dass ihn auch sonst niemand durchschaut, dachte sie beklommen. Würde er verraten, was er wusste? Er war ja kein Gentleman, und man konnte nicht vorausahnen, zu was jemand fähig war, der kein Gentleman war. Es gab keine Regel, nach der man so jemanden beurteilen konnte. Sie blickte zu ihm auf und merkte, dass er seine Mundwinkel in gespieltem Mitgefühl herunterzog, während er mit dem Fächer wedelte. Etwas an seinem Blick forderte ihren Widerspruchsgeist heraus, und eine Woge von Antipathie gab ihr neue Kraft. Unvermittelt riss sie ihm den Fächer aus der Hand.

»Es ist gut jetzt«, sagte sie brüsk. »Sie brauchen nicht meine Frisur durcheinanderzuwedeln.«

»Scarlett, Liebste! Captain Butler, Sie müssen ihr verzeihen. Sie – sie ist nicht sie selbst, wenn sie den Namen des armen Charlie hört – und vielleicht hätten wir heute Abend erst gar nicht hierherkommen sollen. Wir sind noch in Trauer, wissen Sie, und es ist für sie eine enorme Belastung – all diese Munterkeit und die Musik, das arme Kind.«

»Das verstehe ich gut«, sagte er mit bemühtem Ernst, aber als er sich Melanie mit einem prüfenden Blick zuwandte, der bis auf den Grund ihrer lieben, sorgenvollen Augen drang, änderte sich seine Miene, und zögernd breiteten sich Respekt und Sanftheit auf seinem dunklen Gesicht aus. »Ich finde, Sie sind eine mutige kleine Frau, Mrs. Wilkes.«

Kein Wort über mich! dachte Scarlett gereizt, während Melly beschämt lächelte und antwortete:

»Lieber Himmel, nein, Captain Butler! Das Lazarettkomitee hat uns für diesen Stand gebraucht, weil in letzter Minute … einen Kissenbezug? Hier ist ein sehr hübscher mit einer Flagge darauf.«

Sie wandte sich drei Kavalleristen zu, die am Stand aufgetaucht waren. Einen Moment lang fand Melanie Captain Butler ausnehmend nett. Dann wünschte sie, zwischen ihrem Rock und dem Spucknapf gleich neben dem Stand wäre etwas Festeres als nur Gaze, denn die Reitersmänner konnten mit dem bernsteinfarbenen Tabaksaft in ihren Mündern nicht so gut zielen wie mit ihren langen Sattelpistolen. Dann vergaß sie den Captain, Scarlett und den Spucknapf, denn weitere Kunden umdrängten den Stand.

Scarlett saß stumm auf dem Hocker, fächelte sich und wagte nicht aufzuschauen. Sie wünschte Captain Butler zurück auf das Schiffsdeck, wo er hingehörte.

»Ist Ihr Mann schon lange tot?«

»O ja, schon sehr lange. Fast ein Jahr.«

»Das ist ja ein Äon.«

Scarlett wusste nicht genau, was ein Äon war, aber der leise Spott in seiner Stimme entging ihr nicht, daher schwieg sie.

»Waren Sie lange verheiratet? Verzeihen Sie meine Fragen, aber ich war so lange nicht mehr in dieser Gegend.«

»Zwei Monate«, sagte Scarlett unwillig.

»Nichtsdestotrotz eine Tragödie«, fuhr er leichthin fort.

Oh, zur Hölle mit ihm, dachte sie wütend. Jeden anderen Mann auf der Welt könnte ich jetzt einfach eiskalt wegschicken. Aber er weiß das mit Ashley, und er weiß, dass ich Charles nicht geliebt habe. Mir sind die Hände gebunden. Sie blickte schweigend auf ihren Fächer hinunter.

»Und jetzt sind Sie zum ersten Mal wieder in Gesellschaft?«

»Ich weiß, dass es unpassend wirkt«, erklärte sie rasch. »Aber die McLure-Mädchen, die diesen Stand übernehmen sollten, mussten woandershin, und es war sonst niemand da, und deshalb haben Melanie und ich …«

»Kein Opfer ist zu groß für die Gute Sache.«

Nanu, hatte Mrs. Elsing nicht genau das Gleiche gesagt? Aber da hatte es völlig anders geklungen. Böse Worte kamen ihr auf die Lippen, aber sie schluckte sie wieder hinunter. Schließlich war sie nicht wegen der Guten Sache hier, sondern weil sie es satt hatte, zu Hause zu sitzen.

»Mir kommen«, sagte er nachdenklich, »diese Trauersitten, wo man Frauen für den Rest ihres Lebens in Krepp einmauert und ihnen jede normale Freude verbietet, schon seit jeher genauso barbarisch vor wie das hinduistische Sati.«

»Sati?«

Er lachte, und sie errötete über ihre Unwissenheit. Sie hasste Menschen, die Worte benutzten, die sie nicht kannte.

»Wenn in Indien ein Mann stirbt, wird er verbrannt und nicht begraben, und seine Frau steigt dann immer auf den Scheiterhaufen und wird mit ihm verbrannt.«

»Wie entsetzlich! Warum tun sie das? Schreitet denn die Polizei nicht dagegen ein?«

»Natürlich nicht. Eine Ehefrau, die sich nicht selbst verbrennt, wäre gesellschaftlich verfemt. All die feinen Hindumatronen würden sich das Maul über sie zerreißen, weil sie sich nicht verhält, wie es sich für eine wohlerzogene Frau schickt – genauso, wie die feinen Matronen in der Ecke da über Sie tratschen würden, wenn Sie heute Abend in einem roten Kleid auftreten und einen Tanz anführen würden. Ich für meinen Teil finde das Sati viel gnädiger als unsere reizende Südstaatensitte, Witwen lebendig zu begraben!«

»Wie können Sie es wagen zu behaupten, ich wäre lebendig begraben!«

»Wie sehr klammern sich die Frauen doch an die Ketten, die sie fesseln! Sie finden die Sitte der Hindus barbarisch, aber hätten Sie den Mut gehabt, heute Abend hier zu erscheinen, wenn die Konföderation Sie nicht gebraucht hätte?«

Derartige Argumente waren für Scarlett immer verwirrend. Die seinen waren doppelt verwirrend, weil sie das dunkle Gefühl hatte, dass sie ein Körnchen Wahrheit enthielten. Aber jetzt war der Augenblick gekommen, um ihm den Mund zu stopfen.

»Natürlich wäre ich nicht gekommen. Das wäre ja respektlos gegen – das hätte ausgesehen, als hätte ich ihn nicht gel…«

Seine Augen hingen voll zynischem Vergnügen an ihren Lippen, und sie konnte nicht fortfahren. Er wusste, dass sie Charlie nicht geliebt hatte, und er würde sich nicht mit den netten, höflichen Empfindungen zufriedengeben, die sie zum Ausdruck bringen konnte. Wie schrecklich war das, wenn man es nicht mit einem Gentleman zu tun hatte! Ein Gentleman machte immer den Eindruck, dass er einer Frau glaubte, selbst wenn er wusste, dass sie log. Das war die Ritterlichkeit der Südstaaten. Ein Gentleman befolgte immer die Regeln und sagte die richtigen Dinge und erleichterte einer Dame das Leben. Aber dieser Mann kümmerte sich anscheinend nicht im Geringsten um Regeln und genoss es, über Dinge zu reden, über die sonst niemand sprach.

»Ich warte atemlos gespannt.«

»Ich finde Sie grässlich«, sagte sie hilflos und senkte den Blick.

Er lehnte sich über den Ladentisch, näherte seinen Mund ihrem Ohr und zischte in einer sehr glaubhaften Imitation der Bösewichte, die hin und wieder im Athenaeum-Saal auftraten: »Fürchtet nichts, edle Frau! Euer sündiges Geheimnis ist bei mir sicher!«

»Oh«, flüsterte sie hastig, »wie können Sie so etwas sagen!«

»Ich wollte Sie nur beruhigen. Was soll ich denn sagen? ›Seid mein, schönste Frau, oder ich werde alles enthüllen‹?«

Sie begegnete unwillig seinen Augen, die vergnügt blitzten, wie die eines kleinen Jungen. Plötzlich musste sie lachen. Es war doch wirklich eine höchst alberne Situation. Er lachte auch, und zwar so laut, dass mehrere der Anstandsdamen in der Ecke sich nach ihnen umblickten. Sie sahen, dass Charles Hamiltons Witwe sich offensichtlich mit einem Wildfremden vergnügte, und steckten missbilligend die Köpfe zusammen.

Plötzlich ertönte ein Trommelwirbel und viele Stimmen machten »Schsch!«, als Dr. Meade das Podium erstieg und die Arme ausbreitete, um sich Gehör zu verschaffen.

»Wir alle müssen den reizenden Damen herzlich danken, deren unermüdliche patriotische Anstrengungen diesem Basar nicht nur zu finanziellem Erfolg verholfen haben«, begann er, »sondern diesen unwirtlichen Raum in eine Laube der Schönheit, einen passenden Garten für die reizenden Rosenknospen gemacht haben, die ich um mich her sehe.«

Alle klatschten Beifall.

»Die Damen haben ihr Bestes gegeben, nicht nur von ihrer Zeit, sondern auch mit ihrer Hände Arbeit, und diese schönen Gegenstände in den Verkaufsständen sind doppelt schön, da sie von den lieblichen Händen unserer reizenden Südstaatlerinnen hergestellt wurden.«

Mehr zustimmende Rufe ertönten, und Rhett Butler, der sich neben Scarlett gegen den Ladentisch fläzte, flüsterte: »Was für ein aufgeblasener Ziegenbock!«

Scarlett war zuerst entsetzt über diese Majestätsbeleidigung gegen Atlantas beliebtesten Bürger und warf ihm einen tadelnden Blick zu. Aber der Arzt sah tatsächlich aus wie ein Ziegenbock, während sein grauer Kinnbart immerfort wackelte, und sie konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken.

»Aber das genügt noch nicht. Die lieben Damen des Lazarettkomitees, deren kühle Hände so manch leidender Stirn Linderung gespendet und so manchen tapferen Mann, der im Kampf für die Allertapferste Sache verwundet wurde, dem Rachen des Todes entrissen haben – sie wissen, was wir brauchen. Ich werde nicht alles aufzählen. Aber wir brauchen mehr Geld, um medizinischen Bedarf aus England zu kaufen, und wir freuen uns, heute den furchtlosen Kapitän unter uns zu haben, der schon seit einem Jahr so erfolgreich die Blockade durchbricht und sie auch wieder durchbrechen wird, um uns das Benötigte zu bringen. Captain Rhett Butler!«

Dies kam zwar unerwartet, aber der Blockadebrecher machte eine galante Verbeugung – ein wenig zu galant, fand Scarlett und versuchte sie zu deuten. Es schien fast, als übertreibe er seine Höflichkeit, weil er alle Anwesenden so gründlich verachtete. Lauter Applaus brandete auf, als er sich verbeugte, und die Damen in der Ecke reckten die Hälse. Mit dem also amüsierte sich die Witwe des armen Charles Hamilton! Und dabei war Charlie kaum ein Jahr unter der Erde!

»Wir brauchen mehr Gold, und darum bitte ich Sie jetzt«, fuhr der Arzt fort.

»Ich bitte um ein Opfer, aber um ein so kleines Opfer, verglichen mit den Opfern, die unsere tapferen Männer in Grau bringen, dass es Ihnen lachhaft klein vorkommen wird. Meine Damen, ich brauche Ihren Schmuck. Ich brauche Ihren Schmuck? Nein, die Konföderation braucht Ihren Schmuck, die Konföderation ruft danach, und ich weiß, dass niemand sich verweigern wird. Wie schön glänzt ein Edelstein an einem hübschen Handgelenk! Wie prachtvoll glitzern die Goldbroschen am Busen unserer patriotischen Frauen! Aber wie viel schöner ist ein Opfer als alles Gold und alle Edelsteine Indiens. Das Gold wird eingeschmolzen und die Steine verkauft, und mit dem Geld werden Arzneien und anderer medizinischer Bedarf besorgt. Meine Damen, es werden jetzt zwei unserer tapferen Verwundeten mit Körben durch die Reihen gehen und …« Der Rest seiner Rede ging in einem Sturm der Begeisterung und im Applaus unter.

Scarletts erster Gedanke war, wie glücklich es sich doch traf, dass sie in der Trauerzeit ihre kostbaren Ohrringe und Grandma Robillards schwere Goldkette, die schwarz emaillierten Goldarmbänder und die Granatbrosche nicht tragen durfte. Sie sah, wie der kleine Zuave mit einem Eichenspankorb am gesunden Arm auf ihrer Seite des Saals die Runde machte, und sie sah Frauen, alt wie jung, die lachend und eifrig an ihren Armbändern zerrten, in gespieltem Schmerz quiekten, als Ohrringe aus dem durchstochenen Fleisch gezogen wurden, sich gegenseitig dabei halfen, Kettenverschlüsse zu öffnen und Broschen vom Busen loszumachen. Man hörte ein ununterbrochenes Kling-Klang von Metall auf Metall und Rufe wie: »Halt, halt! Jetzt habe ich es abgekriegt. Hier!« Maybelle Merriwether zog sich ihre wunderschönen Zwillingsarmbänder oberhalb und unterhalb der Ellbogen ab. Fanny Elsing rief: »Mama, darf ich?« und zerrte das schwere Golddiadem mit den Staubperlen, das seit Generationen in ihrer Familie war, aus ihren Haaren. Jedes Mal, wenn eine Opfergabe in den Korb fiel, gab es Jubel und Applaus.

Der grinsende kleine Mann kam nun an ihren Stand, der Korb hing ihm schwer am Arm. Von Rhett Butler flog ein ansehnliches goldenes Zigarrenetui hinein. Als er seinen Korb vor Scarlett auf den Ladentisch stellte, schüttelte sie den Kopf und öffnete die Hände, um zu zeigen, dass sie nichts zu geben hatte. Es war peinlich, die einzige Anwesende zu sein, die nichts spendete. Und da sah sie plötzlich ihren breiten goldenen Ehering aufblitzen.

Einen verwirrten Augenblick lang versuchte sie sich an das Gesicht von Charles zu erinnern – wie er ausgesehen hatte, als er ihn ihr an den Finger steckte. Aber die Erinnerung war verschwommen, verschwommen wegen des plötzlich aufbrandenden Ärgers, den die Erinnerung immer in ihr weckte. Charles – er trug Schuld daran, dass ihr Leben vorbei, dass sie eine alte Frau war.

Sie drehte und ruckte an ihrem Ring, aber er steckte fest. Der Zuave ging weiter zu Melanie.

»Warten Sie!« rief Scarlett. »Ich habe etwas für Sie!« Der Ring löste sich, und als sie drauf und dran war, ihn auf den Haufen aus Ketten, Uhren, Ringen, Anstecknadeln und Armbändern im Korb zu werfen, begegnete sie Rhett Butlers Blick. Seine Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln. Trotzig warf sie den Ring auf den Haufen.

»Oh, meine Liebe!« flüsterte Melly und drückte ihren Arm. Ihre Augen strahlten vor Liebe und Stolz. »Du tapferes, tapferes Mädchen! Warten Sie – Leutnant Picard, bitte warten Sie! Ich habe auch etwas für Sie!«

Sie zog an ihrem eigenen Ehering, dem Ring, der diesen Finger, wie Scarlett wusste, niemals verlassen hatte, seit Ashley ihn darangesteckt hatte. Scarlett wusste besser als sonst irgendwer, wie viel er Melanie bedeutete. Er ging nur schwer ab, und einen kurzen Augenblick lang hielt ihn die kleine Faust fest. Dann wurde er sanft auf dem Schmuckhaufen abgelegt. Die beiden Mädchen blickten dem Zuaven nach, der sich den älteren Damen in der Ecke näherte, Scarlett trotzig, Melanie mit einem Gesichtsausdruck, der noch bekümmerter war, als wenn sie geweint hätte. Und beides entging dem Mann neben ihnen nicht.

»Wenn du nicht den Mut gehabt hättest, es zu tun, hätte ich mich nie getraut«, sagte Melly, legte Scarlett den Arm um die Taille und drückte sie sanft. Einen kurzen Moment hatte Scarlett Lust, sie abzuschütteln und so laut sie konnte »Herr des Himmels!« zu rufen, wie Gerald es tat, wenn er sich wirklich ärgerte, aber sie fing einen Blick Rhett Butlers auf und brachte ein säuerliches Lächeln zustande. Es ging ihr auf die Nerven, dass Melly ihre Motive stets missdeutete – aber wahrscheinlich war das doch besser, als wenn ihr die Wahrheit geschwant hätte.

»Was für eine schöne Geste«, sagte Rhett Butler leise. »Opfer wie Ihre machen unseren tapferen Jungs in Feldgrau Mut.«

Heiße Worte sprudelten ihr auf die Lippen, und nur mit Mühe konnte sie sie zurückhalten. Aus allem, was er sagte, sprach Spott. Sie fand ihn herzlich unsympathisch, wie er sich da an den Stand flegelte. Dennoch war etwas Anregendes an ihm, etwas Warmes, Lebendiges, Elektrisches. Alles, was irisch an ihr war, lehnte sich gegen seine herausfordernden schwarzen Augen auf. Sie beschloss, diesen Mann ein oder zwei Nummern kleiner zu machen. Dass er ihr Geheimnis kannte, gab ihm einen Vorteil über sie, der zum Aus-der-Haut-Fahren war, und um das zu ändern, musste sie ihn irgendwie in schlechtes Licht setzen. Sie unterdrückte den Impuls, ihm einmal richtig die Meinung zu sagen. Mit Zucker fing man mehr Fliegen als mit Essig, wie Mammy oft sagte, und sie würde diese Fliege fangen und bändigen, so dass sie ihm nie wieder auf Gedeih und Verderb ausgeliefert wäre.

»Danke«, sagte sie liebenswürdig in absichtlicher Verkennung seines Spotts. »Ein solches Kompliment von einem derart berühmten Mann wie Captain Butler ist sehr schmeichelhaft.«

Er warf den Kopf zurück und lachte freiheraus – wieherte, dachte Scarlett wütend, während ihr Gesicht erneut rosa anlief.

»Warum sagen Sie eigentlich nicht, was Sie wirklich denken?« fragte er und senkte die Stimme, so dass nur sie ihn im Geklapper und der Aufregung der Kollekte hören konnte. »Warum sagen Sie nicht, dass ich ein verfluchter Schurke bin und dass ich verschwinden soll, sonst lassen Sie mich von einem dieser mutigen Jungs in Feldgrau fordern?«

Eine scharfe Antwort lag ihr auf der Zunge, doch mit heroischer Anstrengung gelang es ihr zu sagen: »Aber Captain Butler! Was Sie nicht sagen! Als ob nicht jeder wüsste, wie berühmt Sie sind und wie tapfer und was für ein – ein …«

»Ich bin enttäuscht von Ihnen«, sagte er.

»Enttäuscht?«

»Ja. Bei unserem ersten ereignisreichen Treffen dachte ich, ich hätte endlich mal ein Mädchen kennengelernt, das nicht nur schön, sondern auch mutig ist. Und jetzt sehe ich, dass Sie bloß schön sind.«

»Wollen Sie etwa behaupten, ich sei feige?« Sie plusterte sich auf wie ein Huhn.

»Exakt. Ihnen fehlt der Mut, zu sagen, was Sie wirklich denken. Als ich Sie das erste Mal sah, dachte ich: Hier ist das eine Mädchen unter Millionen. Sie ist nicht wie die anderen albernen Närrchen, die alles glauben, was ihre Mamas ihnen erzählen, und sich daran halten, ganz egal, was sie selbst empfinden. Und die all ihre Gefühle und Sehnsüchte und ihren Herzschmerz hinter vielen liebenswürdigen Worten verstecken. Ich dachte: Miss O’Hara ist ein Mädchen von seltenem Charakter. Sie weiß, was sie will, und es macht ihr nichts, ihre Meinung zu sagen – oder mit Vasen zu schmeißen.«

»Oh«, sagte sie, und ihre Wut brach sich endlich Bahn. »Dann sage ich Ihnen sofort meine Meinung. Wenn Sie nur das geringste bisschen Kinderstube hätten, dann wären Sie überhaupt nicht hierhergekommen und hätten ein Gespräch mit mir angefangen. Dann hätten Sie gewusst, dass ich Sie nie wieder sehen wollte. Aber Sie sind kein Gentleman. Sie sind bloß ein grässlicher, unerzogener Kerl. Und Sie glauben, nur weil ihre klapprigen kleinen Schiffe schneller sind als die der Yankees, haben Sie das Recht, hierherzukommen und tapfere Männer zu verhöhnen und Frauen, die alles für die Gute Sache opfern …«

»Halt, halt …«, bat er grinsend. »Sie haben sehr hübsch angefangen und ehrlich Ihre Meinung gesagt, aber jetzt fangen Sie bitte nicht an, von der Guten Sache zu reden! Davon habe ich die Nase gestrichen voll, und ich wette, Sie auch …«

»Wieso, woher wiss…«, begann sie überrumpelt, fing sich dann aber hastig, kochend vor Wut über sich selbst, dass sie ihm auf den Leim gegangen war.

»Ich stand dort in der Eingangstür, ehe Sie mich gesehen haben, und habe Sie beobachtet«, sagte er. »Und ich habe die anderen Mädchen beobachtet. Und die sahen alle aus, als wären ihre Gesichter aus ein und derselben Form gegossen. Aber Ihres nicht. Ihr Gesicht ist leicht zu lesen. Sie dachten nicht an Ihr Geschäft, und ich wette, Sie dachten nicht an die Gute Sache oder an das Lazarett. Es war deutlich zu sehen, dass Sie tanzen und Spaß haben wollten, aber nicht konnten. Deshalb waren Sie durch und durch wütend. Sagen Sie ehrlich! Habe ich nicht recht?«

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Captain Butler«, erklärte sie so förmlich sie konnte und versuchte, die Reste ihrer Würde zusammenzuraffen. »Bloß weil Sie sich etwas darauf einbilden, dass Sie der ›große Blockadebrecher‹ sind, haben Sie noch lange kein Recht, Frauen zu beleidigen.«

»Der große Blockadebrecher! Das ist ja wohl ein Witz! Bitte gönnen Sie mir noch einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit, ehe Sie mich in die Finsternis hinabstoßen. Ich möchte eine so charmante kleine Patriotin nicht im Unklaren über meinen Beitrag zur Sache der Konföderierten lassen.«

»Ich habe keine Lust, mir Ihre Prahlereien anzuhören.«

»Blockadebrechen ist ein Geschäft für mich, und ich verdiene damit Geld. Wenn ich kein Geld mehr damit verdiene, dann höre ich auf. Wie finden Sie das?«

»Ich finde, Sie sind ein käuflicher Schuft – genau wie die Yankees.«

»Exakt«, grinste er. »Und die Yankees helfen mir beim Geldverdienen. Gerade letzten Monat bin ich mit meinem Schiff geradewegs in den New Yorker Hafen gesegelt und habe Waren eingeladen.«

»Was?« rief Scarlett wider Willen interessiert und aufgeregt. »Haben die Sie nicht beschossen?«

»Arme Unschuld! Natürlich nicht. Es gibt einen Haufen strammer Unionspatrioten, die nicht abgeneigt sind, ein bisschen Geld zu machen, indem sie der Konföderation Waren verkaufen. Ich fahre mit dem Schiff nach New York, kaufe bei Yankee-Firmen, natürlich sub rosa, und ab geht’s. Und wenn das ein bisschen zu gefährlich wird, dann fahre ich nach Nassau, wo dieselben Unionspatrioten Pulver und Granaten und Reifröcke für mich hinbringen. Das ist praktischer, als nach England zu fahren. Manchmal ist es ein bisschen schwierig, es nach Charleston oder Wilmington zu bringen – aber Sie wären überrascht, wie weit einen ein bisschen Gold trägt.«

»Oh, ich wusste ja, dass die Yankees niederträchtig sind, aber ich wusste nicht …«

»Warum kritteln Sie an den Yankees herum, die ihre Pennys ehrlich damit verdienen, dass sie ihre hehre Union über Bord werfen? In hundert Jahren ist das sowieso vergessen. Das Resultat bleibt sich gleich. Sie wissen, dass die Konföderation am Ende unterliegen wird, warum sollten sie also kein Geld dabei herausschlagen?«

»Unterliegen – wir?«

»Natürlich.«

»Lassen Sie mich jetzt wohl bitte endlich in Ruhe, oder muss ich meinen Wagen kommen lassen und heimfahren, um Sie loszuwerden?«

»Eine hitzköpfige kleine Rebellin«, sagte er und grinste wieder. Er verbeugte sich und schlenderte davon, während ihre Brust vor ohnmächtiger Wut und Empörung wogte. In ihr brannte eine Enttäuschung, die sie nicht recht erklären konnte, die Enttäuschung eines Kindes, dessen Illusionen zerbersten. Wie konnte er es wagen, die Blockadebrecher so zu entzaubern! Und wie konnte er es wagen zu behaupten, die Konföderation würde unterliegen! Dafür gehörte er erschossen – erschossen wie ein Verräter. Sie blickte sich im Saal um und sah all die wohlbekannten Gesichter, so erfolgsgewiss, so tapfer, so hingegeben, und plötzlich griff ihr etwas Kaltes ans Herz. Unterliegen? Diese Leute – auf keinen Fall! Der bloße Gedanke war unerträglich, ja treulos.

»Was habt ihr beiden denn da geflüstert?« fragte Melanie, deren Kunden weiterzogen. »Mrs. Merriwether hat dich die ganze Zeit fixiert, und du weißt ja, wie sie tratscht.«

»Ach, dieser Mann ist unmöglich, ein unerzogener Flegel«, sagte Scarlett. »Und was die alte Merriwether betrifft, lass sie ruhig reden. Ich hab es satt, mich bloß wegen ihr wie eine doofe Kuh zu benehmen.«

»Aber Scarlett!« rief Melanie entsetzt.

»Sch-sch«, machte Scarlett. »Dr. Meade macht noch eine Ansage.«

Die Versammlung wurde wieder ruhig, als der Arzt seine Stimme erhob, zunächst um den Damen zu danken, die so bereitwillig ihren Schmuck gespendet hatten.

»Und nun, meine Damen und Herren, möchte ich eine Überraschung vorschlagen – eine Neuerung, die den ein oder anderen vielleicht schockieren wird, aber ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass alles für das Lazarett geschieht und zugunsten unserer Jungs, die dort liegen.«

Alles trat erwartungsvoll näher und rätselte, was der gesetzte Arzt wohl Schockierendes vorschlagen könnte.

»Demnächst beginnt der Tanz, und die erste Nummer wird natürlich ein Reel sein, gefolgt von einem Walzer. Die Tänze im Anschluss, die Polkas, die Schottischen, die Mazurken, werden alle von kurzen Reels eingeleitet. Ich weiß gut, wie sehr sich alle darum reißen, einen Reel anzuführen, und daher …«, der Arzt wischte sich die Stirn und warf einen unsicheren Blick in die Ecke, wo seine Frau unter den Anstandsdamen saß. »Meine Herren, wenn Sie gerne einen Reel mit der Dame Ihrer Wahl anführen möchten, müssen Sie ein Gebot für sie abgeben. Ich werde den Auktionator spielen, und der Erlös geht ans Lazarett.«

Die Fächer hielten urplötzlich still, und erregtes Gemurmel erhob sich im Saal. Die Ecke der Anstandsdamen war in Aufruhr, und Mrs. Meade, die versuchte, ihren Mann bei einer Aktion zu unterstützen, die sie von Herzen missbilligte, geriet ins Hintertreffen. Die Damen Elsing, Merriwether und Whiting waren puterrot vor Entrüstung. Aber plötzlich rief die Bürgerwehr »Hurra!«, und dieser Ruf wurde von den übrigen uniformierten Gästen weitergetragen. Die jungen Mädchen klatschten in die Hände und hüpften vor Begeisterung.

»Kommt dir das nicht auch ein bisschen … wie eine Sklavenauktion vor?« flüsterte Melly und starrte unsicher den auf einmal umstrittenen Arzt an, der bisher in ihren Augen ein Ausbund der Vollkommenheit gewesen war.

Scarlett sagte nichts, aber ihre Augen glänzten feucht, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wäre sie doch nur keine Witwe! Wäre sie doch wieder Scarlett O’Hara, da draußen auf der Tanzfläche in einem apfelgrünen Kleid mit dunkelgrünen Samtbändern am Mieder, und mit Tuberosen im schwarzen Haar – dann würde sie den Reel anführen. Und wie! Ein Dutzend Männer würden sich um sie reißen und einander bei dem Arzt überbieten. Ach, dass sie hier wider Willen als Mauerblümchen sitzen und zusehen musste, wie Fanny oder Maybelle den ersten Reel als Ballkönigin Atlantas anführte.

Der Tumult wurde übertönt von der Stimme des kleinen Zuaven, der mit deutlichem kreolischen Akzent rief: »Wen isch darf – swanzisch Dollar für Mieß Maybelle Merriweser.«

Maybelle sank errötend an Fannys Schulter. Die beiden Mädchen vergruben ihre Gesichter am Hals der jeweils anderen und kicherten, während weitere Stimmen andere Namen und Geldsummen riefen. Dr. Meade begann wieder zu lächeln und ignorierte das empörte Geflüster des Damenlazarettkomitees in der Ecke.

Zunächst hatte Mrs. Merriwether lauthals verkündet, ihre Maybelle würde niemals an einem solchen Verfahren teilnehmen, aber da Maybelles Name am häufigsten gerufen wurde und die Summe auf fünfundsiebzig Dollar stieg, ließ ihr Protest nach. Scarlett stützte die Ellbogen auf den Ladentisch und starrte mit funkelnden Augen die erregte, lachende Menge an, die sich um das Podium drängte, die Hände voll Papiergeld der Konföderationswährung.

Jetzt würden alle tanzen – außer ihr und den alten Damen. Jetzt würden alle Spaß haben außer ihr. Sie sah Rhett Butler gleich unterhalb des Arztes stehen, und ehe sie ihren Gesichtsausdruck ändern konnte, erblickte er sie, und ein Mundwinkel bewegte sich nach unten und eine Augenbraue nach oben. Sie reckte das Kinn und drehte ihm den Rücken zu, doch plötzlich hörte sie ihren Namen rufen – mit einer unverkennbaren Charlestoner Stimme, die das Gewirr der anderen Namen übertönte.

»Mrs. Charles Hamilton – hundertfünfzig Dollar – in Gold!«

Plötzlich senkte sich Schweigen über die Menge, sowohl wegen der Summe als auch wegen des Namens. Scarlett war so perplex, dass sie sich kaum rühren konnte. Sie blieb sitzen, das Kinn in die Hände gestützt, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen. Alle drehten sich nach ihr um. Der Doktor beugte sich vom Podium hinunter und flüsterte Rhett Butler etwas zu. Wahrscheinlich, dass sie in Trauer war und unmöglich auf der Tanzfläche erscheinen konnte. Sie sah Rhett gleichmütig mit den Achseln zucken.

»Vielleicht eine unserer anderen Schönen?« fragte der Arzt.

»Nein«, sagte Rhett laut und deutlich und ließ unbekümmert seinen Blick über die Menge schweifen. »Mrs. Hamilton.«

»Ich sage Ihnen doch, das geht nicht«, sagte der Arzt unwirsch. »Mrs. Hamilton will nicht …«

Scarlett hörte eine Stimme, die sie zunächst gar nicht als die ihre erkannte.

»Doch, ich will!«

Sie sprang auf, ihr Herz klopfte so wild, dass sie fürchtete, sie könnte nicht stehen, es hämmerte triumphierend, weil sie wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, weil sie das begehrteste aller anwesenden Mädchen war, und vor allem, weil sie wieder tanzen würde.

»Ach, das ist egal! Es ist mir egal, was sie sagen!« flüsterte sie, während süßer Wahnsinn sie überkam. Sie warf den Kopf hoch und eilte aus dem Verkaufsstand, und dabei ließ sie die Absätze knallen wie Kastagnetten und ihren schwarzen Seidenfächer so weit wie möglich aufschnappen. Im Vorübergehen sah sie Melanies ungläubiges Gesicht, die Mienen der Anstandsdamen und der verdrießlichen Mädchen und die begeisterte Zustimmung der Soldaten.

Dann war sie auf der Tanzfläche, und Rhett Butler kam mit seinem boshaften, spöttischen Lächeln durch den Gang, den die Menge bildete, auf sie zu. Aber das war ihr gleichgültig – er hätte sogar Abe Lincoln persönlich sein können! Sie würde wieder tanzen. Sie würde den Reel anführen. Sie machte einen tiefen Knicks und lächelte ihn strahlend an, und er verbeugte sich, eine Hand auf seiner Rüschenbrust. Der entgeisterte Levi rettete die Situation, indem er rief: »Partnerwahl für den Ferginny Reel!«

Und das Orchester stürzte sich in die beste aller Reelmelodien, den »Dixie«.

»Was fällt Ihnen ein, mich derart ins Rampenlicht zu zerren, Mr. Butler?«

»Aber meine liebe Mrs. Hamilton, es war so unübersehbar, dass Sie ins Rampenlicht wollten!«

»Wie konnten Sie vor allen Leuten meinen Namen rufen?«

»Sie hätten ja ablehnen können.«

»Aber, ich bin es der Guten Sache doch schuldig, ich – ich konnte doch nicht an mich selber denken, als sie so viel Gold boten. Hören Sie auf zu lachen, alle gucken schon.«

»Die gucken sowieso. Versuchen Sie nicht, mir dieses Gewäsch von der Guten Sache anzudrehen. Sie wollten tanzen, und ich habe Ihnen die Möglichkeit dazu gegeben. Diese Mühle ist die letzte Figur des Reels, oder?«

»Ja, eigentlich muss ich jetzt aufhören und mich hinsetzen.«

»Warum? Bin ich Ihnen auf den Fuß getreten?«

»Nein, aber man wird über mich reden.«

»Geben Sie da wirklich etwas darauf – in Ihrem innersten Herzen?«

»Naja …«

»Begehen Sie etwa ein Verbrechen? Warum wollen Sie nicht den Walzer mit mir tanzen?«

»Aber wenn Mutter je …«

»Immer noch an Mamas Schürzenzipfel.«

»Sie kriegen es doch immer hin, Tugenden blöd klingen zu lassen.«

»Aber Tugenden sind blöd. Macht es Ihnen etwas aus, wenn die Leute reden?«

»Nein, aber – ach, wir wollen nicht darüber sprechen. Gott sei Dank fängt der Walzer an. Nach Reels bin ich immer außer Atem.«

»Weichen Sie nicht meinen Fragen aus. Hat es Ihnen je etwas ausgemacht, was andere Frauen sagen?«

»Oh, wenn Sie mich unbedingt festnageln müssen – nein! Allerdings sollte man sich als Mädchen etwas daraus machen. Aber heute Abend ist es mir egal.«

»Bravo! Jetzt fangen Sie an, selber zu denken, statt andere für sich denken zu lassen. Das sind erste Anzeichen von Klugheit.«

»Oh, aber …«

»Wenn über Sie erst einmal so viel geredet wird wie über mich, dann werden Sie erkennen, wie unwichtig das ist. Denken Sie mal, in ganz Charleston gibt es kein Haus, wo man mich empfängt. Nicht einmal mein Beitrag zu unserer Gerechten und Heiligen Sache löst den Bann.«

»Wie schrecklich!«

»O nein, nicht im Geringsten. Ehe man seinen guten Ruf nicht verloren hat, erkennt man gar nicht, was für eine Belastung er ist und was Freiheit wirklich bedeutet.«

»Das sind skandalöse Aussagen!«

»Skandalös und wahr. Vorausgesetzt, Sie haben genügend Mut – oder Geld –, kommen Sie ohne guten Ruf bestens aus.«

»Mit Geld kann man nicht alles kaufen.«

»Das muss ihnen irgendjemand erzählt haben. Sie würden von allein niemals auf so eine Plattitüde kommen. Was kann man denn nicht kaufen?«

»Ach, ich weiß nicht – jedenfalls nicht Glück oder Liebe.«

»Im Allgemeinen schon. Und wenn nicht, dann kann man ziemlich beachtlichen Ersatz kaufen.«

»Und haben Sie so viel Geld, Mr. Butler?«

»Was für eine ungebührliche Frage, Mrs. Hamilton. Ich bin überrascht. Aber: ja. Für einen Mann, der in frühester Jugend ohne einen Schilling verstoßen wurde, habe ich es recht weit gebracht. Und ich bin sicher, dass ich mit der Blockade eine Million scheffeln werde.«

»O nein!«

»O doch! Den meisten Menschen scheint nicht klar zu sein, dass man an der Vernichtung einer Zivilisation genauso viel verdienen kann wie an ihrem Aufbau.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ihre Familie und meine Familie und alle Anwesenden heute Abend sind zu Geld gekommen, indem sie die Wildnis in eine Zivilisation verwandelt haben. Das ist der Aufbau eines Imperiums. So etwas wirft viel Geld ab. Aber noch mehr wirft die Vernichtung eines Imperiums ab.«

»Über was für ein Imperium reden Sie denn?«

»Das, in dem wir leben – der Süden – die Konföderation – das Baumwollimperium – es zerbröckelt unmittelbar unter unseren Füßen. Bloß sehen das die meisten Dummköpfe nicht und ziehen keinen Vorteil aus dem Zusammenbruch. Ich mache ein Vermögen mit der Vernichtung.«

»Dann glauben Sie also wirklich, dass wir unterliegen werden?«

»Ja. Warum sollte man wie ein Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken?«

»Lieber Himmel, mich langweilen solche Sachen. Sagen Sie nie etwas Hübsches, Captain Butler?«

»Würde es Sie freuen, wenn ich sage, dass Ihre Augen zwei Goldfischgläser sind, bis zum Rand mit ganz klarem grünem Wasser gefüllt, und wenn die Fische an die Oberfläche kommen, wie gerade jetzt, sind Sie teuflisch reizvoll?«

»Oh, das gefällt mir nicht … Ist die Musik nicht herrlich? Ach, ich könnte für immer weitertanzen! Ich wusste gar nicht, dass ich das so vermisst habe!«

»Sie sind die schönste Tänzerin, die ich je in den Armen gehalten habe.«

»Captain Butler, Sie dürfen mich nicht so eng halten. Alle gucken schon.«

»Wenn niemand gucken würde, hätten Sie dann auch etwas dagegen?«

»Captain Butler, Sie vergessen sich.«

»Aber nicht eine Minute. Wie könnte ich, mit Ihnen in den Armen? … Was ist das für ein Lied? Das ist neu, oder?«

»Ja. Ist es nicht himmlisch? Das haben wir von den Yankees stibitzt.«

»Wie heißt es?«

»When This Cruel War Is Over.«

»Wie geht der Text? Singen Sie mal.«

Weißt du noch, beim letzten Male

Sahen wir uns hier.

Flehentlich und voller Liebe

Knietest du vor mir.

Standest stolz im grauen Kleide

Dort im Mondenschein,

Schworest, mir und unsrem Lande

Ewig treu zu sein.

Bittre Tränen wein ich,

Möcht vor Schmerz vergehn.

Wenn der schlimme Krieg vorbei ist,

Wolln wir uns wiedersehn.

»Natürlich heißt es ›im blauen Kleide‹, aber das haben wir in Grau umgeändert … Oh, Sie tanzen so gut Walzer, Captain Butler. Die meisten großen Männer können das nicht, wissen Sie. Und zu denken, dass es Jahre dauern wird, bis ich wieder tanzen kann.«

»Es wird nur ein paar Minuten dauern. Ich werde für den nächsten Reel auf Sie bieten – und für den über- und überübernächsten.«

»O nein, das kann ich doch nicht! Das dürfen Sie nicht! Sie ruinieren meinen Ruf.«

»Der ist schon in Fetzen, was spielt da ein weiterer Tanz für eine Rolle? Vielleicht gebe ich den anderen Jungs eine Chance, wenn ich fünf oder sechs gehabt habe, aber ich muss den letzten bekommen.«

»Also gut. Ich weiß, dass ich verrückt bin, aber es ist mir egal. Es ist mir schnurzegal, was die Leute reden. Ich habe es so satt, zuh Hause zu sitzen. Ich werde tanzen und tanzen …«

»Und nicht mehr Schwarz tragen? Ich verabscheue Grabeskrepp.«

»Oh, die Trauer kann ich nicht ablegen – Captain Butler, Sie dürfen mich nicht so eng halten. Sonst werde ich böse.«

»Und Sie sehen phantastisch aus, wenn Sie böse sind. Ich werde Sie noch einmal drücken – jetzt –, nur um zu sehen, ob Sie wirklich böse werden. Sie haben keine Ahnung, wie reizend Sie aussahen an jenem Tag in Twelve Oaks, als Sie böse waren und mit Sachen geschmissen haben.«

»O bitte – können Sie das nicht vergessen?«

»Nein, das ist eine meiner unbezahlbarsten Erinnerungen – eine wohlerzogene Südstaatenschönheit, mit der das irische Temperament durchgeht – Sie sind sehr irisch, wissen Sie.«

»Ach du je, jetzt ist die Musik aus, und da kommt Tante Pittypat aus dem Hinterzimmer. Ich wette, Mrs. Merriwether hat es ihr gesagt. Um Gottes willen, lassen Sie uns rübergehen und aus dem Fenster gucken. Ich will nicht, dass sie mich jetzt entdeckt. Ihre Augen sind so groß wie Untertassen.«

Vom Wind verweht

Подняться наверх