Читать книгу Disziplin! - Marli Huijer - Страница 13

|33|Lockerung der moralischen Grundsätze bezüglich Sex, Alkohol und Drogen

Оглавление

Der dritte Schritt im Prozess des Disziplinabbaus bestand aus einer allmählichen Lockerung der moralischen Grundsätze bezüglich Sex, Drogen und Alkohol. Heute erinnert man sich an die Sechziger oft als die swinging sixties: Jahre der Revolte, des Widerstands, aber auch der Verspieltheit und Fröhlichkeit, der umfassenden Neuerungen in Popmusik, Literatur, Mode und Kunst. Im Nonkonformismus dieser Jahre fanden sich Studenten, Künstler, junge Arbeiter und ganz normale Bürger vereint.

Dieser Nonkonformismus war für den großen Erfolg des niederländischen Autors Jan Cremer (* 1940) mit seinem Roman Ik, Jan Cremer mitverantwortlich, der 1964 erschien (deutsch 1969 unter dem Titel Ich, Jan Cremer).26 Der weitgehend autobiographische Roman erzählt die Geschichte von Jan Cremer, der in einer zerrütteten Familie aufwuchs, von dreizehn Schulen flog, von einem Kinderheim zum anderen gereicht wurde, durchbrannte und nach Paris fuhr, wo er geschnappt und nach Hause gebracht wurde. Später besuchte er kurz die Kunstakademie, heuerte auf einem Schiff an, meldete sich bei der Fremdenlegion und endete als Künstler. Das Buch quoll über vor Sex, Gewalt und Alkohol und brach mit sämtlichen Anstandsregeln der fünfziger Jahre. Mitte der sechziger Jahre wollte jeder in den Niederlanden so etwas lesen. Sogar die renommierte niederländische Tageszeitung NRC war des Lobes voll. Der undisziplinierte und unkonventionelle Lebensstil Cremers war Ausdruck einer Gegenkultur. An die Stelle von Disziplin und Tugend traten Experimente mit Sex, Drogen und Rock’n’Roll. Wer da nicht mitmachte, galt schnell als prüde und bürgerlich.

Die Experimente mit bewusstseinserweiternden Mitteln ließen sich philosophisch mit niemandem Geringeren als Walter Benjamin (1892–1940) rechtfertigen. Dieser hatte in den zwanziger und dreißiger Jahren Versuche mit Haschisch und Meskalin unternommen. |34|Der Rausch, so schrieb Benjamin, habe ihn zu Erfahrungen befähigt, die das Alltägliche weit übertrafen. Seine Wahrnehmung von Raum und Zeit veränderte sich; die Dimensionen wurden „absolut königlich“:

Versailles ist dem, der Haschisch gegessen hat, nicht zu groß, und die Ewigkeit dauert ihm nicht zu lange. Und auf dem Hintergrunde dieser immensen Dimensionen des inneren Erlebens, der absoluten Dauer und der unermeßlichen Raumwelt, verweilt nun ein wundervoller, seliger Humor desto lieber bei den Kontingenzen der Raum- und Zeitwelt.27

Es war Hermann Hesse, durch den Benjamin zum Drogenkonsum angeregt worden war. Vierzig Jahre nach der Ersterscheinung verschlang die Jugend der ganzen Welt Hesses Der Steppenwolf (1927), doch erst die amerikanischen Autoren der Beat-Generation William Burroughs, Allen Ginsberg, Jack Kerouac und vor allem Timothy Leary machten den Konsum psychodelischer Drogen populär. Die Einnahme von Drogen war für sie ein Akt des Widerstands gegen den Kapitalismus, die Konsumgesellschaft und die gewalttätige amerikanische Gesellschaft.

Offenheit und Toleranz betrafen nicht nur den Drogenkonsum, sondern auch die Sexualität. Auf einmal zeigte man sich offen für Sexualpraktiken, die bisher für unnatürlich gehalten wurden – Gruppensex, Homosexualität oder außereheliche Beziehungen. In den Niederlanden erfuhr die bereits 1946 gegründete Nederlandse Vereniging voor Seksuele Hervorming (NVSH, Niederländische Vereinigung für Sexuelle Reformen) regen Zuspruch und zählte 1966 beachtliche 200.000 Mitglieder. Man war sich einig, dass die Regierung sich nicht in die Sexualität des Einzelnen einmischen solle.28 Diese Ansicht vertrat auch der niederländische Anarchist Anton Constandse (1899–1985).29 In den dreißiger Jahren mahnte er, dass Liebe |35|und Sexualität nur ein Genuss seien, wenn Freiwilligkeit und Gleichwertigkeit aller Beteiligten gewährleistet seien. Die Gleichstellung müsse auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau miteinbeziehen, wofür sich einige Jahre später auch Simone de Beauvoir einsetzen sollte.30

Constandse war ein Anhänger des österreichischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1897–1957), dessen Schriften Die Funktion des Orgasmus (1927) oder Die Sexualität im Kulturkampf (1936) in den sechziger Jahren zu Bestsellern wurden. Constandse war der Meinung, dass eine Unterdrückung des Sexualtriebs zu psychischen Störungen wie Angstattacken und Neurosen führe, die unter Umständen in einer Zuwendung zu autoritären Institutionen wie der Kirche oder dem Faschismus münden.31 Dennoch propagierte er keine bedingungslose Lustbefriedigung. Die Einhaltung gewisser Regeln war unumgänglich: Beide Partner sollen gleichermaßen auf ihre Kosten kommen, sollen auf Hygiene achten und es vermeiden, ungewollt ein Kind zu zeugen.32 Selbstbeherrschung sei deshalb eine der größten Tugenden in der Sexualität.

Die in den dreißiger und vierziger Jahren verfassten Schriften über Sexualität – von Anton Constandse über die Denker der Frankfurter Schule bis zu den Feministinnen wie de Beauvoir und Betty Friedan (1921–2006) – erregten in den sechziger und siebziger Jahren das allgemeine Interesse für die sogenannte sexuelle Befreiung. Erich Fromms Die Kunst des Liebens (1956), Betty Friedans The Feminine Mystique (1963, deutsch: Der Weiblichkeitswahn, 1966), Herbert Marcuses Eros and Civilisation (1955, deutsch: Eros und Kultur, 1957) und Reimut Reiches (* 1941) Sexualität und Klassenkampf (1968) wurden verschlungen.

Doch all diese Sexualreformer gaben zu bedenken, dass die Befreiung der Sexualität Risiken berge, wenn sich die Gesellschaft nicht mitverändere. Marcuse prophezeite, dass eine entfesselte Sexualität ohne gesellschaftlichen Wandel zu vorkulturellen Zivilisationsformen führen werde,33 heute würde man sagen zu einer Welt von Sexbesessenen. |36|Und auch Reiche warnte vor einer unkritischen Befürwortung der sexuellen Befreiung, da sie zu Konsumismus verführe und die Menschen manipulierbar mache.34 Betty Friedan legte ausführlich dar, wie die sexuelle Befreiung die Frauen zu Werbeobjekten degradierte.

Die Lockerung der Sexualmoral bedeutete somit nicht, dass von nun an alles erlaubt sei; auch in Zeiten des umfassenden Disziplinabbaus teilten viele Marcuses Ansicht, dass die sexuelle Befreiung auch Gefahren und Risiken berge.

Disziplin!

Подняться наверх