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Widerwille gegen militärische Disziplin

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Vor der von Bauman beschriebenen Disziplin fürchteten sich nach dem Krieg weite Teile der Bevölkerung. Viele Niederländer hatten üble Erfahrungen mit dem Kadavergehorsam der deutschen Wehrmacht gemacht und wussten genau, wozu dieser imstande war.

Über diesen Kadavergehorsam schreibt auch der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch (1927–2010) in seiner Reportage über den Eichmann-Prozess. Über viele Seiten hinweg wundert er sich über Eichmanns Besessenheit vom „Befehl“. Für Eichmann, einem der Hauptverantwortlichen des Holocausts, besaß der Befehl eine übernatürliche Macht, die die Macht sowohl des Befehlenden als auch des Befehlsempfängers überstieg. Einem Befehl musste anstandslos Folge geleistet werden. Mulisch vergleicht den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann mit einer Befehlsmaschine:

|43|Wenn in jenen Jahren nicht Adolf Hitler, sondern Albert Schweitzer Reichskanzler gewesen wäre und Eichmann den Befehl erhalten hätte, alle kranken Neger in moderne Krankenhäuser zu transportieren, so hätte er dies tadellos ausgeführt – mit derselben Genugtuung über seine Genauigkeit wie bei seiner Arbeit, die er jetzt hinter sich hat. Er ist weniger ein Verbrecher als jemand, der zu allem imstande ist.44

Jede Gesellschaft, in der Menschen in Maschinen verwandelt werden können, birgt für Mulisch die Gefahr, wieder in die Barbarei zu verfallen. Doch eine Gesellschaft wie die deutsche, in der die ganze Erziehung auf blinden Gehorsam ausgerichtet gewesen war, hat die Entstehung eines Maschinenmenschen wie Eichmann in seinen Augen geradezu gefördert.

Die deutsch-amerikanische politische Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975) war ebenfalls als Beobachterin beim Eichmann-Prozess anwesend.45 Wie Mulisch stellte sie fest, dass Eichmann äußerlich ein ganz normaler Mensch zu sein schien, eine Durchschnittsperson, die gewissenhaft befolgte, was ihr befohlen worden war. Beide Berichte sind Beispiele für den in der Nachkriegszeit zunehmenden Widerwillen gegen rational und effizient organisierte gesellschaftliche oder militärische Institutionen.

In den Niederlanden waren sowohl die progressiven als auch die konservativen Kräfte überzeugt, dass Disziplinarinstitutionen wie Verwaltung, Kirche, Schulwesen und Armee reformiert und „demokratisiert“ werden müssen. Das Stichwort lautete „Politisierung“. Die Bürger sollten nicht mehr passiv und gehorsam sein, sondern demokratisch, diskussionsfreudig, verantwortungsvoll und mündig; Bürgerbeteiligung oder Bürgerpartizipation war gefragt.

Mit der „Provo“-Bewegung in den Niederlanden und den Pariser bzw. Berliner Studentenunruhen von 1968 formte sich ein allgemeiner Widerstand gegen starre und veraltete Machtstrukturen in der Politik, im Bildungssystem, im Justizwesen und in der Medizin. Öffentliche Institutionen sollten von unten her organisiert und |44|geleitet werden: die Fabriken von den Arbeitern, die Krankenhäuser und psychiatrische Einrichtungen vom medizinischen Personal und den Patienten, Stadtbezirke von den Bewohnern, die Armee von den Soldaten und die Universitäten von den Studenten. Im Unterschied zu anderen Ländern wie Deutschland und Amerika sympathisierte in den Niederlanden auch die Elite mit den Ideen über Mitbestimmung, Partizipation und Selbstverwaltung,46 so dass hier eher von Reform und Evolution die Rede sein konnte als von radikalem Umsturz oder Revolution.

Die Notwendigkeit für den Bruch mit den bestehenden disziplinierenden Institutionen ergab sich u.a. auch aus der Lektüre von Erfahrungsberichten über den Holocaust – hier ist zum Beispiel Primo Levis (1919–1987) Se questo è un uomo (1947, deutsch: Ist das ein Mensch?, 1961) zu nennen –, aber auch aus den philosophischen Theorien des französischen Strukturalismus oder den Schriften der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.47 Das wichtigste Werk auf diesem Gebiet jedoch ist Foucaults Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Es handelt sich zweifellos um das weltweit am häufigsten zitierte Werk über Disziplin. Foucault illustriert mit zahlreichen Beispielen und Analysen die Entstehung, Entwicklung und Funktion von Disziplinarinstitutionen wie Gefängnis, Schule, Kaserne und Fabrik und zeigt, wie raffiniert Macht funktioniert. Er geht dabei bis ins 17. Jahrhundert zurück. Die Disziplinarmaßnahmen, die sich in jener Zeit in der Armee herausbildeten, griffen auf alle Bereiche der Gesellschaft über.

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