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„Die Kehrseite der Demokratie“

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Wer heutzutage Überwachen und Strafen liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es besser sei, sich von der Disziplin fernzuhalten. Foucault präsentierte sein Buch zwar als historische Studie – und nicht als politisches Pamphlet –, doch sind seine Vorbehalte gegen die Disziplin deutlich spürbar. Die disziplinierende Strafgewalt maskiere ihre „ungeheure Einzigartigkeit“60; deshalb schreibt er deutlich über die „Neuerung dieser kleinen Notierungs-, Registrierungs-, Auflistungs- und Tabellierungstechniken, die uns so vertraut sind“,61 und über die „kleinliche und boshafte Gründlichkeit der Disziplinen und ihrer Nachforschungen“.62 Er stellt fest, dass der Mensch der Siebziger kein Maschinenmensch sein und den eigenen Körper keinesfalls „als Gegenstand und Zielscheibe der Macht“ missbraucht sehen wollte oder als Körper, „den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet, gewandt wird und dessen Kräfte sich mehren“.63 Und nicht nur Marcuse erkannte damals, dass der menschliche Organismus eine gute Waffe sei gegen die effizienten Politik-, Kultur- und Erziehungsmaschinerien mit ihren Techniken, die das Leben sicherer und angenehmer gestalten sollen.

Foucault entnimmt der anarchistischen Zeitschrift Phalange aus dem 19. Jahrhundert den Bericht über einen dreizehnjährigen Jungen, Béasse, der einem Richter gegenüber erklärt hatte, er habe keine Lust auf eine regelmäßige Arbeit, und da er keine Familie habe, wolle er lieber ein freies Leben führen. Dies wird häufig als Aufforderung an den Leser verstanden, es Béasse nachzutun und sich aller Disziplin zu entledigen.64 Hinweise auf Foucaults Engagement zum Sturz aller Disziplinarmächte finden sich allerdings nicht nur in |51|Überwachen und Strafen, sondern auch in seinen Interviews und kurzen Artikeln der siebziger Jahre. In einem Gespräch aus dem Jahr 1974, das er mit dem amerikanischen Sprachwissenschaftler und Philosophen Noam Chomsky führte, sagte er:

Die wahre politische Pflicht in einer Gesellschaft wie der unseren liegt darin, die Arbeitsweise von Institutionen zu kritisieren, die neutral und unabhängig erscheinen. Und zwar so lange vehement zu kritisieren, bis die politische Gewalt, die gern im Dunkel dieser Institutionen operiert, ihre Maske fallen lässt, so dass man sie bekämpfen kann.65

Der Kampf, auf den Foucault hier anspielt, soll sich gegen die Bourgeoisie richten, die klüger und berechnender vorging, als man dachte: In seinen Augen war keine „Herrschaftsform […] jemals so fruchtbar und damit so gefährlich“ und das schreie nach Aufstand. Er, Foucault, werde dafür gerne die Waffen bereitstellen: „Ich möchte, daß meine Bücher so etwas wie Operationsmesser, Molotowcocktails oder unterirdische Stollen sind und daß sie nach dem Gebrauch verkohlen wie Feuerwerke.“66 Das Ziel des Kampfes ließ er offen, doch mit Sicherheit beabsichtigte er nicht die Restauration der souveränen Macht des traditionellen Fürsten. Doch was dann? Foucault war der Ansicht, dass die Disziplin die „Kehrseite der Demokratie“ sei.67 Auf den ersten Blick sah es so aus, als fordere er damit, mit der Disziplin auch die Demokratie zu bekämpfen.

Seine Kritik an den traditionellen Institutionen der Macht hatte weitreichende Folgen, und die Theorie von den unsichtbaren Auswirkungen der Macht bildete die Basis einer ganz neuen philosophisch-soziologisch-anthropologischen Denkrichtung: die governmentality studies.68

In den Niederlanden fand der Aufruf zum Angriff auf die Institutionen kaum Gehör. Vermutlich gingen den nüchternen Niederländern die Aufforderungen, das „Siesteem“ oder das „Establishment“ zu attackieren und die Disziplinarinstitutionen abzuschaffen, |52|schlichtweg zu weit. Nach den verspielten Aktionen der „Kabouters“ oder den „Mein Bauch gehört mir“-Demonstrationen der Feministinnen oder den Unibesetzungen krempelte die niederländische Protestbewegung die Ärmel hoch und machte sich daran, sowohl die Gesellschaft als auch die Politik konstruktiv zu reformieren. Das erregte das Vertrauen der restlichen Bevölkerung. Außerdem war der Staat von sich aus zu Veränderungen bereit.69 Man nahm lieber eine Demokratie mit etwas Dressur und Disziplin in Kauf als Gefahr zu laufen, mit dem Bad der Disziplin gleich das Kind des gesamten Systems auszuschütten.

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