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Anti-Materialismus

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Der vierte Schritt in der kulturellen Revolution der sechziger und siebziger Jahre bestand aus einer kritischen Haltung zum Kapitalismus. Eine rebellische Jugend begehrte gegen das sogenannte „Establishment“ auf, während die ältere Generation mit sich und dem Zustand der Welt zufrieden war und den status quo beibehalten wollte. In der Nachkriegszeit bescherte das starke Wirtschaftswachstum, das in Westdeutschland als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wurde, allen Schichten der Bevölkerung einen gewissen Wohlstand. Die jüngere Generation stand diesem wachsenden Wohlstand skeptisch gegenüber. Die Losung „jedem Bürger ein Auto und einen Fernseher“ war für sie gleichbedeutend mit Materialismus, Spießigkeit, Konformismus und Beschränktheit.

Der Widerwille gegen den Konsumismus äußerte sich in einer Verweigerung der Warenwelt. Man wollte keinen Fernseher und kein Auto, ging nicht zum Friseur und trug zerschlissene Jeans, man verachtete Arbeiter und Angestellte, die doch nur Geld verdienten, um konsumieren zu können, und hielt diese außerdem für habgierig, langweilig und phantasielos.

Eine Bestätigung ihrer Verweigerungshaltung fanden Intellektuelle und Künstler in Marcuses One-Dimensional Man, das 1964 |37|erstmals erschien und drei Jahre später auf Deutsch unter dem Titel „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ veröffentlicht wurde.35 Marcuse führt darin aus, dass die hochtechnokratische Gesellschaft alle Bedürfnisse ersticke, die eine gewisse Freiheit benötige. Eine solche Gesellschaft definiere Freiheit als Genuss eines gewissen Komforts, als Abwesenheit von Notwendigkeit. Dadurch, dass der Wohlfahrtsstaat den Menschen ein angenehmes und gutes Leben gewährt, verhindert er, dass diese sich nach wirklicher Freiheit sehnen, nach einer Freiheit in Form von Selbstbestimmung.36 Diese irreale Freiheit ist ein machtvolles Herrschaftsinstrument.37

Indem die großen Worte über Freiheit und Erfüllung von Führern und Politikern bei Wahlkampagnen verkündet werden, in den Kinos, im Radio und Fernsehen, verkehren sie sich in sinnlose Laute, die nur im Zusammenhang mit Propaganda, Geschäft, Disziplin und Zerstreuung einen Sinn erhalten.38

Marcuse erkannte, dass auf diese Art und Weise ein Muster des „eindimensionalen Denkens und Verhaltens“39 entsteht, bei dem alles, was diesem Muster widerspricht, abgelehnt oder isoliert wird. Sämtliche Versuche, frei zu denken und zu handeln, der Realität zu entfliehen oder weniger etablierten Alternativen eine Chance zu geben, werden ausgebremst. Das Diktat des status quo verleibt jeden Protest ein und erstickt sämtliche Ansätze zu einem gesellschaftlichen Wandel.

Um zu verdeutlichen, wie die Gesellschaft auf das Bewusstsein des Einzelnen einwirkt, unterscheidet Marcuse auf der Basis Marxscher Theorien sowohl zwischen dem „wahren“ und dem „falschen“ Bewusstsein als auch zwischen einem „wirklichen“ und einem „unmittelbaren“ Bedürfnis. Menschen mit einem falschen Bewusstsein entscheiden sich für die unmittelbaren Interessen. Sie wollen ihre Wünsche sofort erfüllt und ihr Verlangen unverzüglich |38|gestillt haben. Personen mit einem wahren Bewusstsein verfolgen dagegen wirkliche Interessen. Sie schieben die unmittelbare Befriedigung naheliegender Bedürfnisse hinaus, um zu erreichen, was ihnen am Herzen liegt: ein besseres menschliches Leben. Nur wenn der Mensch bereit ist, sein Leben zu ändern, kann er erfahren, welches das wahre Bewusstsein ist, und damit auch, worin sein wirkliches Interesse besteht. Er muss sich gegen die Verführungen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft in Form von hohen Gehältern, Autos, Fernseher und Freizeitvergnügungen wehren. Sich diesen Dingen zu versagen fällt schwer, denn je wohlhabender die Gesellschaft ist, desto größer auch ihr Vermögen, das Bestehende zu bewahren und Tendenzen zum Umschwung zu unterdrücken.40 Marcuse definiert Freiheit und Disziplin auf ungewöhnliche Weise. Er zeigt, dass eine freie Wahl selten auf Freiwilligkeit beruht. Im Gegenteil, unsere Entscheidungen sind von einem Überfluss an falschen Bedürfnissen motiviert. Um wahre Freiheit erreichen zu können, müssen wir uns von der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung distanzieren – auch das ist Disziplin.

Mit Marcuses Der eindimensionale Mensch war die rebellische Jugend der Sechziger und Siebziger der Ansicht, man könne das System nur von außen verändern. Die sozialen Umwälzungen waren nicht länger vom Arbeiter zu erwarten – vom Proletariat, auf das Marx seine Hoffnungen gesetzt hatte –, sondern von den Rändern der Gesellschaft. Studenten, die arbeitende Jugend, Feministinnen, Umweltaktivisten und Künstler fanden sich zu einer einzigen großen Gegenbewegung zusammen, die das Konsumverhalten der kapitalistischen Gesellschaft an den Pranger stellte. Der Konsum als „falsches“ Bedürfnis sollte dem „wahren“ Bedürfnis nach der Verbesserung des menschlichen Lebens weichen. Ein Leben als freier Mensch war somit nur mit Disziplin möglich.

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