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Die Jungtürken an der Macht

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In Zusammenhang mit der Einführung einer Verfassung 1876 hatte sich unter Abgängern der osmanischen Militärschulen eine Bewegung gebildet, die auf liberale Reformen hinarbeitete. Bekannt geworden unter dem Namen „Jungtürken“ gewann die Bewegung in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erheblich an Einfluss, nicht nur in Offizierskreisen, sondern auch unter Studenten und Intellektuellen. Als „Komitee Einheit und Fortschritt“ (KEF, türkisch: İttihad ve terakki) bildeten Jungtürken die treibende Kraft bei der konstitutionellen Revolution von 1908 und bestimmten die Politik bis zur Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg. Die Jungtürken waren gespalten in Liberale und Nationalisten. Die Liberalen strebten eine Dezentralisierung des Reichs und gewisse Autonomierechte für die nicht-türkischen Völker sowie für die religiösen Minderheiten an. Im Zentrum ihres Interesses stand die Verankerung einer verfassungsmäßigen Ordnung, die allen osmanischen Bürgern unabhängig von ihrer Religions- und Volkszugehörigkeit die gleichen bürgerlichen und freiheitlichen Rechte sichern sollte. Dies ermöglichte ihnen die Zusammenarbeit mit den armenischen, griechischen und arabischen Bildungseliten des Reichs, die ähnliche Ziele verfolgten. Der liberale Flügel der Jungtürken bestimmte die erste Phase ihrer Herrschaft von 1908 bis 1912. Nationalisten dagegen strebten nach der Zentralisierung der Macht in Istanbul und der Durchsetzung des türkischen Vormachtanspruchs im gesamten Reich. Das brachte sie in Konflikt mit den arabischen Nationalisten in den südlichen Provinzen des Reichs, mit Armeniern und Griechen im europäischen Teil sowie in Anatolien. Mit der italienischen Besetzung Tripolitaniens 1911 und den Niederlagen des Osmanischen Reichs in den Balkankriegen 1912–1913 gewann die nationalistische Richtung im Komitee Einheit und Fortschritt die Oberhand. Damit trat auch endgültig der Bruch mit den arabischen Provinzen sowie mit den armenischen Parteien ein.

Im Sommer 1908 revoltierte ein Teil der Armee in Makedonien. Die Revolte wurde gesteuert von jungtürkischen Offizieren des Komitees für Einheit und Fortschritt. Die Aufständischen forderten vom Sultan, die Verfassung von 1876 wieder in Kraft zu setzen. Am 24. Juli sah sich Sultan Abdhülhamid gezwungen, den Forderungen nachzugeben und die konstitutionelle Ordnung wiederherzustellen. Das KEF übernahm mangels politisch erfahrener Mitglieder nicht selbst die Regierungsgewalt, sondern steuerte die Entscheidungen aus dem Hintergrund. Sofort entstanden Parteien, und bisher in der Illegalität operierende Organisationen traten an die Oberfläche. Auch die Presse nahm einen raschen Aufschwung. Im Zeitungswesen spielten Publikationen von Griechen und Armeniern sowie von christlichen Arabern eine bedeutende Rolle. Im Umfeld der Machtübernahme des KEF 1908 gab es Szenen der Verbrüderung und der Solidarität sowohl zwischen Türken und Armeniern als auch zwischen Türken und Arabern. Dies waren aber wohl keine spontanen Äußerungen der Gefühle des Volkes, sondern vom KEF organisierte Aktionen. Die armenischen Parteien Dashnak und Hnchak bestimmten das Forum innerhalb der armenischen Gemeinschaft. Der Dashnak suchte die enge Zusammenarbeit mit dem Komitee Einheit und Fortschritt und zwar in Istanbul genauso wie in den anatolischen Provinzen. In einer gemeinsamen Erklärung hieß es: „In Anbetracht der Tatsache, dass die Bewahrung des heiligen osmanischen Vaterlands vor Trennung und Spaltung ein Ziel der gemeinsamen Kooperation der beiden Organisationen ist, werden sie dafür arbeiten, dass in der öffentlichen Meinung die falsche, aus dem despotischen Regime ererbte Mär zerstreut wird, wonach die Armenier nach Unabhängigkeit streben.“29 Der Hnchak dagegen zeigte sich reserviert.30

Während die progressiven Kräfte in den Minderheitengemeinden mit dem KEF zusammenarbeiteten, sah der konservative Klerus die Aktivitäten mit großer Skepsis. So wehrte sich der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel Joachim III. (1878–1884/1901–1912) gegen die Gleichstellung aller Bürger. In einem Interview mit der Zeitung Daily Telegraph sagte er: „Wir können und werden nicht akzeptieren, dass auch nur ein Iota der kirchlichen Autonomie geopfert wird, die wir seit dem Tod Konstantins XI. [des letzten byzantinischen Kaisers] genossen haben.“ 31 Aber auch in der griechischen Gemeinde waren die Meinungen gespalten zwischen Megalī idea, der Wiedererrichtung eines hellenischen Reichs im östlichen Mittelmeerraum, und Osmanismus, der Integration der Griechen in den osmanischen Staat. Auf armenischer Seite zwang der Dashnak den konservativen Patriarchen Malakia Ormanian noch im Juli 1908 zum Rücktritt. Im Herbst fanden Wahlen zur Armenischen Nationalkammer gemäß der Gemeindeverfassung von 1863 statt, die von Sultan Abdülhamid 1891 ausgesetzt worden war. Bei den Wahlen wurden erstmals auch Vertreter von Dashnak und Hnchak gewählt.32

Das Komitee Einheit und Fortschritt beeinflusste die Politik zunächst aus dem Hintergrund. Es bestimmte aber die Zusammensetzung der Regierung und diktierte deren Maßnahmen. Außerdem ließ es in fast allen Provinzen Gouverneure aus den eigenen Reihen einsetzen und es gelang ihm, die oberen Ebenen der Verwaltung mit Gesinnungsgenossen zu besetzen. Im November und Dezember 1908 fanden allgemeine Wahlen statt. Sie wurden stark vom KEF beeinflusst. Gewählt wurden 288 Abgeordnete aus allen Provinzen des Reichs:33 147 türkische, 60 arabische, 27 albanische, 26 griechische, 14 armenische, zehn slawische und vier jüdische Abgeordnete. Von ihnen waren 220 Muslime, 46 Christen. Für die Armenier stellte der Dashnak mehrere Abgeordnete. Von den armenischen Abgeordneten war Krikor Zohrab aus Istanbul besonders aktiv. Er beklagte das Fehlen politischer Parteien, in denen sich die Nationalitäten auflösen könnten, anstatt als antagonistische nationale Blöcke zu arbeiten. Er erklärte in einem Interview, dass die armenischen Abgeordneten „zuallererst im allgemeinen Interesse des Reichs arbeiten. Partikularinteressen der armenischen Nation kommen danach.“34

Das Gefühl der Einheit und Brüderlichkeit zwischen Türken und Armeniern bekam allerdings bereits 1909 wieder einen tiefen Riss. Armenier nahmen die von der Verfassung garantierte Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen ernst und forderten ihre Rechte immer nachdrücklicher ein. Dies weckte Misstrauen auf türkischer Seite. Zu lange war man an ein vorsichtiges, nicht zu sagen unterwürfiges Verhalten der religiösen Minderheiten, die nach islamischem Recht dem ḏimma-Status unterlagen, gewöhnt. Gerüchte über einen armenischen Aufstand gegen die türkische Herrschaft und Bestrebungen zur Errichtung eines unabhängigen armenischen Staats machten sich in muslimischen Kreisen breit. In Adana hatte sich der armenisch-orthodoxe Bischof Mushegh Seropian seit Anfang 1909 mit mehreren Eingaben beim Gouverneur zugunsten der Gleichberechtigung der Armenier hervorgetan. Auf ihn richtete sich später der Hass der türkischen Nationalisten. Der Prälat gehörte einer neuen Generation von Bischöfen an (er war damals 35 Jahre alt), legte großen Wert auf Bildung und versuchte ein demokratisches Leben auf lokaler Ebene hervorzubringen. Im Februar 1909 hielt der Bischof eine öffentliche Rede, in der er sagte: „Alle Verbrechen, die die Türkei und das osmanische Vaterland beschmutzt haben, haben ihren Niedergang hervorgerufen. Sie waren die Folge der Versklavung der Bevölkerung. Die Sklaverei in all ihren Formen ist unerträglich, aber die des Wortes und der Feder ist die schlimmste von allen Formen der Unterwerfung. Wenn bis jetzt so viele Verbrechen und Ungerechtigkeiten begangen wurden, wenn der Niedergang des Osmanischen Reichs bis jetzt systematisch vorangeschritten ist, ist der Grund dafür, dass wir [der Freiheit] des Wortes beraubt waren, des Rechts zu protestieren, unserer Fähigkeit, die legitimen Rechte unseres heiligen Vaterlands zu verteidigen: Man schnitt denjenigen, die Gerechtigkeit verlangten, die Zunge ab; man zerbrach die Feder derjenigen, die gegen die Ungerechtigkeit anschrieben.“35 In Adana und seinem Umland entstand eine gefährliche Gemengelage aus Gerüchten um eine Bewaffnung der Armenier und einem bevorstehenden Aufstand. Warnungen der örtlichen armenischen Notablen und der europäischen Konsuln wurden vom Gouverneur in Adana damit abgetan, dass alle notwendigen Maßnahmen getroffen seien. Im April 1909 griff ein türkischer Mob das armenische Viertel in Adana an. Dort organisierten die Armenier bewaffneten Widerstand, dennoch kamen Tausende ums Leben. In den umliegenden Dörfern waren Armenier den Angreifern hingegen schutzlos ausgeliefert und wurden massakriert. Nach den ersten Ausschreitungen wurde eine Armeeeinheit nach Adana entsandt, um die Ruhe wiederherzustellen. Diese behauptete nun aber, selbst von den Armeniern angegriffen worden zu sein, und veranstaltete ein Massaker in der Stadt. Das armenische Patriarchat schätzte die Zahlen der Opfer für die Provinz Adana auf 21.361 Christen, davon 18.869 Armenier, 1.250 Griechen, 850 Syrer und 422 Chaldäer.36

Die Regierung versuchte zunächst, die Ereignisse kleinzureden und die Schuld den Armeniern in die Schuhe zu schieben. Berichte der internationalen Presse ließen sich jedoch nach einiger Zeit nicht mehr ignorieren. Das Komitee Einheit und Fortschritt suchte die Allianz mit dem armenischen Dashnak zu retten. Am 11. August 1909 richtete der Großwesir Hüseyin Hilmi Pascha ein Rundschreiben an alle Provinzgouverneure. Darin versuchte er, den weit verbreiteten Anschauungen über die Armenier und deren revolutionäre Ambitionen entgegenzutreten: „Es gibt keinen Zweifel, dass zur Zeit des Ancien Régime, in der die Missstände des Despotismus herrschten, gewisse Schichten der armenischen Gemeinschaft auf ein politisches Ziel hinarbeiteten. Aber was auch immer die Art und Weise war, in der diese Arbeit geschah, sie hatte kein anderes Ziel, als sich von den unerträglichen Schikanen und Untaten einer despotischen Regierung zu befreien. In jüngster Zeit lässt sich dagegen feststellen, dass die Armenier viel dabei geholfen haben, dass die Nation eine Verfassung bekommt, und sie haben so ihre ehrliche Bindung an das osmanische Vaterland unter Beweis gestellt. Nach der Einführung der Verfassung haben sie, überzeugt, dass es außerhalb der Treue zur osmanischen Verfassung weder Heil noch Glück für ihre Nation geben könne, ihre Bemühungen darauf konzentriert, in Eintracht für das Wohl [der Verfassung] zu arbeiten. Daher hat die schlechte Meinung, die auf dem Verdacht derjenigen beruht, die die Wahrheit nicht kennen, und [zum Inhalt hat], die armenische Gemeinschaft verfolge tadelnswerte politische Ziele, keinen Daseinsgrund.“37

Die liberale Phase des KEF endete 1912 mit den Balkankriegen. Nun appellierte es an die religiösen Gefühle der Muslime und rief zum Dschihad gegen Bulgaren und Griechen auf. Mit der Niederlage im Krieg stürzte auch die Regierung. Das KEF setzte im Januar 1913 General Mahmud Şevket als Großwesir durch. Seine Ermordung im Juni 1913 war für das KEF Anlass, die oppositionellen Parteien zu verbieten und sich selbst als Partei zu konstituieren – bisher handelte es sich um eine „Geheimgesellschaft“, deren Mitglieder in den Staatsorganen wirkten.

Die Massaker von Kilikien, die autoritären Tendenzen im KEF und die Unterdrückung der liberalen Opposition führten schließlich zum Bruch mit den Armeniern (Die Griechen hatten sich von vornherein skeptisch gezeigt und auch keine Parteien ausgebildet wie die Armenier). 1911 erklärte der Dashnak auf seinem Kongress in Konstantinopel seine Zusammenarbeit mit dem Komitee für beendet. Der Hnchak beendete auf seinem internationalen Kongress in Constanza (Rumänien) im September 1913 seine Phase der Arbeit im Rahmen der osmanischen Legalität und kehrte zur Untergrundund Terrorstrategie zurück, die er bis 1908 bereits verfolgt hatte. Allerdings wurden die Beschlüsse von vielen Komitees innerhalb des Osmanischen Reichs, inklusive des Komitees in Konstantinopel, nicht geteilt.38 Die Übergriffe auf Armenier nahmen unterdessen in den anatolischen Provinzen wieder die Form an, die sie vor 1908 schon hatten. Die armenische Elite sah eine große Gefahr darin, dass die Regierung zwischen der Meinung der Massen und eigener Untätigkeit gefangen war. Auch die Armenier selbst provozierten mit Widerstand und dem Hervorrufen internationaler Aufmerksamkeit für die Übergriffe nur weiteren Hass. Der armenische Patriarch Hovhannes XII. Archarouni (1911–1913) warnte in einer Note an den Großwesir, dessen Inhalt er im Anschluss auch den Botschaftern der europäischen Mächte zur Kenntnis gab: „Von einem Ende Anatoliens bis zum anderen legt sich die Drohung von Massakern über ihre [der Armenier] Köpfe. Sie dienten als Geiseln in den Händen der Muslime. Wenn es [bisher] nicht zu diesen Massakern gekommen ist, lag dies allein daran, dass die Armenier, obwohl sie Opfer der schändlichsten Untaten waren, darauf verzichtet haben, Gerechtigkeit zu verlangen, da sie befürchteten, ihre Haltung könne als Akt der Provokation verstanden werden. […] Diesen Angriffen und der Gefahr, in Massen massakriert zu werden, ausgesetzt, können sie auf keinerlei Schutz durch die Regierung zählen und haben nicht einmal das Recht, sich zu verteidigen. Wenn sie sich Waffen verschaffen, werden sie sofort beschuldigt, einen Aufstand vorzubereiten. Es mangelt der Regierung niemals an Wachsamkeit ihnen gegenüber. Indem es es stets so darstellt, als seien sie bereit, die Waffen zu erheben, hat das Handeln der Regierung nur den Hass der fanatischen Massen noch weiter angestachelt.“39

Angesichts der Enteignungen und der Gewalt gegen Armenier in Anatolien beschloss die Armenische Nationalkammer im Dezember 1912, die „armenische Frage“ erneut zu internationalisieren. Die Internationalisierung war 1895 aufgegeben worden, weil die Armenier das Gefühl hatten, sie würden von den europäischen Mächten zur Durchsetzung eigener Interessen instrumentalisiert. Nun beschlossen die armenischen Parteien Dashnak und Hnchak sowie die beiden kirchlichen Spitzen von Konstantinopel und Etchmiadzin, eng zusammenzuarbeiten. Sie wollten die europäischen Kanzleien von der Notwendigkeit von Reformen in den anatolischen Ostprovinzen unter internationaler Garantie zu überzeugen. Boghos Nubar Pascha (1851–1930), Vorsitzender der Armenischen Nationalversammlung, wurde zu diesem Zweck als Leiter der armenischen Delegation mit Sitz in Paris eingesetzt. Nach über einjährigen Verhandlungen zwischen der Hohen Pforte, den europäischen Mächten und der armenischen Delegation wurde schließlich am 8. Februar 1914 ein Abkommen unterzeichnet. Es sah vor, dass die Regierungsbeamten in den Ostprovinzen je zur Hälfte Muslime und Christen sein sollten, keine weiteren muslimischen Einwanderer vom Balkan oder aus dem Kaukasus (muhacir) dort angesiedelt würden und Christen auch in den Provinzen, wo sie in der Minderheit waren, in den Verwaltungsräten vertreten sein sollten. Die Umsetzung sollte von internationalen Inspekteuren überwacht werden. Dazu wurden ein Holländer und ein Norweger eingesetzt. Allerdings wurde der Reformplan mit der Mobilisierung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs Anfang August 1914 bereits ausgesetzt. Die Führung des Dashnak, der Ende Juli zu einem Parteikongress in Erzerum zusammengekommen war, wurde vom KEF aufgefordert, sich dem Kampf gegen Russland anzuschließen. Dazu konnte er sich angesichts der zahlreichen Armenier, die im Zarenreich lebten, jedoch nicht entschließen. Er empfahl also den Armeniern in beiden Ländern, ihren jeweiligen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen.40

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