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Der Nahe und Mittlere Osten im 19. Jahrhundert Das Osmanische Reich: Reformen und aufstrebende Nationalismen Konstantinopel und die anatolischen Provinzen des Osmanischen Reichs

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Das 19. Jahrhundert brachte für das Osmanische Reich und seine Bewohner das Hereinbrechen der Moderne und die Zunahme europäischen Einflusses. Militärisch und politisch geschwächt, waren die Sultane am Bosporus gezwungen, eine Reihe von Reformmaßnahmen durchzuführen, die entscheidende Veränderungen für die muslimische und nicht-muslimische Bevölkerung des Reichs mit sich brachten. Nach dem türkischen Begriff für Reformen wird diese Zeit als Periode der Tanzimat bezeichnet. Über Jahrhunderte waren Christen und Juden in den islamisch beherrschten Ländern dem ḏimma-Status unterworfen gewesen. Von den islamischen Juristen der ersten Jahrhunderte des Islam entwickelt, erlaubte er den Angehörigen der Buchreligionen (ahl al-kitāb) die Ausübung ihrer Religion im Rahmen der islamischen Ordnung. Öffentliche Demonstrationen ihres Glaubens wie der Bau neuer Kirchen, Prozessionen, lautes Singen oder die Verwendung von Kirchenglocken waren verboten. Als ahl al-ḏimma, geschützte Gemeinschaften, genossen sie aber den Schutz ihres Lebens und Eigentums. Er wurde gewährt als Gegenleistung für die Anerkennung der Vormachtstellung des Islam und war gebunden an die Entrichtung der ğizya, einer Kopfsteuer für Nicht-Muslime, und verschiedene Kennzeichen der Unterordnung in der Öffentlichkeit, wie zum Beispiel Kleidungsvorschriften. Die Vorschriften wurden nicht zu allen Zeiten und in allen Gebieten mit gleicher Strenge eingehalten. Gerade auf dem Land lebten die Menschen außerhalb des unmittelbaren Sichtfelds der Herrschenden, oft in Dörfern, in denen nur eine einzige Religionsgemeinschaft vertreten war. Man sollte nicht davon ausgehen, dass das Leben der Nicht-Muslime dort von den ḏimma-Vorschriften – mit Ausnahme der Kopfsteuer – besonders beeinflusst wurde.1

In osmanischer Zeit wurden die Nicht-Muslime in sogenannten millets organisiert. Die Religionsgemeinschaften wurden dabei quasi als eigene „Völker“ betrachtet, die jeweils von ihrem religiösen Oberhaupt beim Sultan in Istanbul vertreten wurden. Der griechische Patriarch von Konstantinopel wurde bereits vom Mehmed dem Eroberer im Jahr 1454, ein Jahr nach der Einnahme der Stadt durch die Osmanen, als religiöses und ziviles Oberhaupt der orthodoxen Gemeinschaften des Reichs anerkannt. Seine zivile Autorität wurde mit der Eroberung Syriens, Palästinas und Ägyptens in den Jahren 1516–1517 auch auf die Patriarchate Antiochien, Jerusalem und Alexandrien ausgedehnt. Für die Armenier musste ein vergleichbares Amt in der Hauptstadt erst eingerichtet werden. So schuf Mehmed 1479 das armenische Patriarchat von Konstantinopel und übertrug dem Patriarchen die zivile Leitung der Armenier. Im Prinzip unterstanden dem armenischen Patriarchen auch die Gemeinden der Syrer und Kopten sowie der Kirche des Ostens. Diese Autorität war aber nur theoretischer Natur; in der Praxis wurden diese Christen weiterhin von ihren eigenen Patriarchen bei den lokalen Behörden vertreten. Die Patriarchen verdankten ihre Autorität der Anerkennung durch den Sultan, der sie – nach der Wahl durch die kirchlichen Instanzen – durch einen Berat, eine Art Ernennungsurkunde, in ihr Amt einsetzte. Als milletbaşı, Haupt der millet, war der Patriarch für seine Gemeinschaft gegenüber dem Sultan verantwortlich, gleichzeitig garantierte der Sultan, dass seine Entscheide innerhalb der Gemeinschaft Gültigkeit hatten.2

Durch die Reformen des 19. Jahrhunderts wurde die traditionelle osmanische Gesellschaft gründlich umgebaut. Die Reformen waren zum größten Teil nicht ohne äußeren Druck in Angriff genommen worden. Die Niederlagen der Sultane gegen die europäischen Mächte und Russland hatten die Schwäche des Osmanischen Reichs offenbart. So zielte die erste Phase der Reformen hauptsächlich auf die Umstrukturierung des Militärs und die Verbesserung des Steuersystems, um die neu formierte Armee finanzieren zu können. Die Reformen hatten aber auch in besonderer Weise Auswirkungen auf die Nicht-Muslime. Vor allem diese Aspekte interessieren im Rahmen der vorliegenden Darstellung. 1839 erließ Sultan Abdülmecid I. (1839–1861) das Ḫaṭṭ-ı šerīf von Gülhane. Darin wurde allen Untertanen des Sultans ohne Ansehen ihrer Religions- und Volkszugehörigkeit die Sicherheit ihres Lebens, ihrer Ehre und ihres Vermögens zugesichert. Alle Untertanen waren nun als Individuen dem Sultan in Bezug auf Steuererhebung und Wehrpflicht verantwortlich. Erstmals wurden Nicht-Muslime dabei nicht nach ihrer jeweiligen millet, ihrer Religionsgemeinschaft, definiert, sondern als tabaʿayı salṭānatı seniye, Untertanen Seiner Höchsten Majestät, direkt der Autorität des Sultans unterstellt. Das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn von 1856 setzte die Reformen fort. Im Umfeld des Krim-Kriegs (1853–1856), in dem Frankreich und England (ab 1855 auch Sardinien-Piemont) dem Osmanischen Reich gegen Russland zur Seite gesprungen waren, hatten die beiden Mächte auf weitere Verbesserungen für die nicht-muslimischen Untertanen des Sultans gedrängt. Das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn statuierte Rechtsgleichheit zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, erlaubte die Beschäftigung von Nicht-Muslimen im Staatsdienst auf allen Ebenen, sicherte die Vertretung der Nicht-Muslime in den Verwaltungsräten der Provinzen, regelte den Bau von Kirchen und ersetzte die ğizya-Steuer (türkisch: cizye) für Nicht-Muslime durch den bedel-i ʿaskari, eine Ersatzsteuer für den Wehrdienst, zu dem sie nun formal verpflichtet waren. Damit war der ḏimma-Status des islamischen Rechts formal abgeschafft, auch wenn er im Bewusstsein der Bevölkerung noch lange weiterwirkte. Das Landgesetz von 1858 erlaubte osmanischen Untertanen und Ausländern den Erwerb von Grundbesitz. 1869 wurde ein Staatsbürgerschaftsgesetz erlassen, nach dem jeder, der von osmanischen Eltern oder einem osmanischen Vater abstammte, unabhängig von seiner Religion und ethnischen Zugehörigkeit osmanischer Staatsbürger war.3

Über Jahrhunderte hatten die religiösen Häupter der Gemeinschaften die Vertretung der Gemeinschaften gegenüber dem Sultan bzw. den Provinzgouverneuren wahrgenommen. Ab dem frühen 19. Jahrhundert waren auch mehr und mehr weltliche Notable (Handels- und Verwaltungseliten) in diese Rolle hineingewachsen. Durch die Reformen wurden diese Vermittlungsinstanzen weitgehend durch individuelle Rechte des Einzelnen ersetzt. Allerdings fiel es der osmanischen Regierung schwer, den verschiedenen Gruppen (vor allem Griechen, Armeniern und Arabern, letztere zerfielen wiederum in mehrere Untergruppen) eine angemessene Beteiligung am politischen System zuzusprechen. Mehr und mehr wurde die numerische Stärke einer Gruppe als Argument ins Feld geführt (und damit auch der Begriff der Minderheit in die politische Diskussion eingeführt). Die Tatsache, dass die Eliten der Griechen und Armenier sowie die an den katholischen und protestantischen Missionsschulen ausgebildeten arabischen Christen stark von europäischen Vorstellungen in Bezug auf individuelle Freiheitsrechte und politische Konzepte geprägt waren, erzeugte unter ihnen eine zusätzliche Erwartung an das politische System, die oft nicht erfüllt wurde.4 Auf der anderen Seite blickten viele Muslime des Reichs mit gemischten Gefühlen auf die Reformen. Sie sahen die Vormachtstellung im Gemeinwesen gefährdet, die ihnen durch ihre Zugehörigkeit zur herrschenden Religion des Islam über Jahrhunderte selbstverständlich zugekommen war. Die Erlaubnis zum Bau von Kirchen, das Durchführen öffentlicher Prozessionen und der wachsende Reichtum der christlichen Händlerschicht beförderten die Ressentiments. Durch die Änderungen im Steuersystem und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurden der gesamten Bevölkerung überdies bisher unbekannte Lasten auferlegt, die vor allem die unteren Schichten, die sich nicht freikaufen konnten, trafen. Gerade die arme muslimische Bevölkerung sah sich nun von den Christen überholt, die noch dazu auf die Protektion durch europäische Mächte zählen konnten. Das herkömmliche Verhältnis zwischen Christen als ahl al-ḏimma und Muslimen war gestört; die neue Lage war kaum noch mit dem traditionellen islamischen Bild der Gesellschaft vereinbar.5

Die Rechte der Nicht-Muslime wurden von der osmanischen Verfassung, die auf Druck der europäischen Mächte 1876 in Kraft gesetzt wurde, bestätigt. Sie sah neben einem Zwei-Kammer-System, bestehend aus einem vom Sultan ernannten Senat und einem in indirekten Wahlen bestimmten Abgeordnetenhaus, gleiche Rechte für alle osmanischen Staatsbürger ungeachtet ihrer Religion vor. Von den 115 gewählten Abgeordneten waren 67 Muslime und 48 Nicht-Muslime.6 Allerdings entließ Sultan Abdülhamid II. (1876–1909) das Parlament bereits 1878 nach der Niederlage im russisch-türkischen Krieg und berief es bis zu der jungtürkischen Revolution von 1908 nicht mehr ein. Auf die Rechte der Minderheiten hatte dies allerdings keine direkten Auswirkungen.7

Die Reformen machten auch eine Reform des millet-Systems notwendig. Der Sultan hatte bereits seit 1830 neben den drei traditionellen millets der Griechen, Armenier und Juden weitere millets anerkannt: 1830 zunächst eine gemeinsame millet für alle katholischen Ostkirchen unter der Leitung des armenisch-katholischen Prälaten von Konstantinopel, 1843 erhielt der syrisch-katholische, 1844 der chaldäische Patriarch einen eigenen Berat, 1848 wurde die griechisch-katholisch-melkitische Kirche vom Sultan als eigene millet anerkannt8, 1850 eine armenisch-protestantische millet,9 1873 die syrisch-orthodoxe millet.10 Die traditionellen millets erhielten in den 1860er Jahren eigene Verfassungen: die Griechen 1862, die Armenier 1863. Die Verfassung der armenisch-orthodoxen Gemeinschaft sah eine Art Parlament von 140 Abgeordneten vor, die Armenische Nationalversammlung, die über wichtige Fragen beraten sollte und unter anderem den Patriarchen von Konstantinopel wählte. Außerdem wurden verschiedene Kommissionen zur Verwaltung der Klöster, der Schulen und anderer Einrichtungen geschaffen. Die Verfassung sah also eine breite Beteiligung der Laien an der Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten vor. Die Verfassung für das griechische Patriarchat von Konstantinopel, Ethnikoi Kanōnismoi, sah ebenfalls eine Nationale Generalversammlung vor, sicherte dagegen der Heiligen Synode, bestehend aus den zwölf Erzbischöfen des Fanar, zusammen mit dem Ständigen Gemischten Nationalrat, bestehend aus vier Bischöfen und acht Laien, die Wahl des Patriarchen. Der Einfluss der Laien war also weit geringer als bei den Armeniern. Der Gemischte Rat war auch für die Verwaltung der Stiftungen, Schulen und Krankenhäuser verantwortlich.11

Die Reformen und die Ausbreitung westlicher Vorstellungen brachten auch das Bewusstsein für eine Trennung der geistlichen von den weltlichen Aufgaben mit sich. Die absolute Kontrolle der Kirchenführer über ihre Gemeinschaften wurde dadurch stark eingeschränkt. Mehr und mehr nahmen Laien und deren Organisationen politische, soziale, kulturelle und erzieherische Aufgaben wahr, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts – sofern sie überhaupt existierten – fest in den Händen der Kirchen gelegen hatten. Ausdruck dafür war die Gründung philanthropischer und kultureller Vereine. Sie bemühten sich um die Gründung und den Betrieb von Schulen nach westlichem Muster und errichteten Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen. Literarische Vereine bemühten sich um die Verbreitung einer modernisierten Form der klassischen Sprachen (Griechisch, Armenisch und Arabisch) und die Renaissance der Literatur.12 Die Druckerpressen und Verlagshäuser der christlichen Minderheiten verbreiteten über die zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften sowohl die modernisierte Sprache als auch Erkenntnisse der westlichen Wissenschaften.13 Unter den Griechen, Armeniern und Arabern des Osmanischen Reichs bildeten sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Richtungen aus: jeweils eine, die für die nationalen Ambitionen des eigenen Volks kämpfte, und eine zweite, die für Kooperation im Rahmen des osmanischen Staats eintrat (Osmanismus). Auf Seite der Griechen standen das Patriarchat von Konstantinopel, der höhere Klerus und die führenden griechischen Familien des Fanar (die sogenannten Fanarioten) für eine griechisch-türkische Kooperation. Sie sahen im Osmanischen Staat eine Fortsetzung des Byzantinischen Reichs und hofften auf ein orthodox geführtes, multinationales, theokratisches System, in dem das Ökumenische Patriarchat alle orthodoxen Christen vertrat. Dem stand die Megalī idea, die Vision eines hellenistischen Ostmittelmeerraums unter griechisch-nationaler Führung gegenüber. Hier standen weniger religiöse, als vielmehr kulturell-säkulare Ideen im Vordergrund. Auf armenischer Seite standen sich der konservative höhere Klerus und die politischen Parteien, die für nationale Ambitionen verbunden mit sozialistischsäkularen Ideen eintraten, gegenüber.14

Nicht-Muslime erlebten im 19. Jahrhundert in Anatolien einen nicht gekannten demographischen, kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung. Schneller als andere Bevölkerungsschichten übernahmen sie Errungenschaften aus Europa, mit denen das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert bekannt wurde. Durch verbesserte Hygienebedingungen und medizinische Versorgung nahm die Sterblichkeit ab. Dadurch wuchs die griechische und armenische Bevölkerung Kleinasiens um 2 % jährlich, während die muslimische Bevölkerung gleichblieb. Hinzu kam die Einwanderung von Griechen sowie Europäern, die von den günstigen Wirtschaftsbedingungen angelockt wurden. Durch Kapitulationen und Handelsverträge gegenüber der osmanischen Bevölkerung bevorzugt, sicherten sich christliche Händler und Unternehmer wichtige Anteile an der anatolischen Wirtschaft. Besonders die Hafenstädte Smyrna/Izmir an der Ägäis, die Städte rund um das Marmara-Meer (Kios/Gemlik, Mudanya und Bursa), Amisos/Samsun und Trebizond/Trapzon an der Schwarzmeerküste sowie Mersin an der südlichen Mittelmeerküste profitierten davon. Hier kontrollierten griechische und armenische Händler weitgehend den Handel mit dem Binnenland. Aber auch Städte im kappadokischen Binnenland wie Ikonion/Konya, Kaisareia/Kayseri, Neapolis/Nevşehir und Sinasos hatten florierende griechische Gemeinden. Griechische Einzelhändler sowie griechische und armenische Geldverleiher waren fast in jedem Dorf anzutreffen. Für die Bauern war ihre Tätigkeit unverzichtbar, weil der osmanische Staat die Steuern nach dem islamischen Mondjahr einzog und somit die Steuern meist vor dem Einbringen der Ernte fällig wurden. Geldverleiher streckten die notwendigen Summen vor und ließen sich dafür nach der Ernte mit einem Zinssatz von bis zu 20 % vergüten. Neben dem Groß- und Kleinhandel waren Griechen aber auch in der Textilsowie in der Zigarettenindustrie führend. Der wirtschaftliche Aufstieg ging einher mit der Gründung von Schulen und Bildungseinrichtungen in der Hand der griechischen und armenischen Gemeinden.15

Im 19. Jahrhundert beanspruchten verschiedene europäische Mächte die Protektion über bestimmte Gruppen von Christen im Osmanischen Reich. Frankreich hatte bereits mit den Kapitulationen, die König Franz I. im 16. Jahrhundert mit Sultan Süleyman dem Prächtigen abgeschlossen hatte, ein Protektorat über die lateinischen Ordensleute und die Rechte der Katholiken an den Heiligen Stätten in Jerusalem erlangt. Im 18. Jahrhundert baute Frankreich dieses Protektorat zu einer Protektion aller Katholiken, auch der Angehörigen der mit Rom unierten Kirchen, aus, auch wenn dies vertraglich nicht geregelt und damit völkerrechtlich nicht bindend war. Im 19. Jahrhundert beanspruchten dann auch der Kaiser von Österreich und der König von Sardinien-Piemont (Sardinien sollte die führende Macht bei der Einigung Italiens werden) gewisse Protektionsrechte für die Katholiken im Osmanischen Reich. England versuchte im Gegenzug, protestantische Missionen zu protegieren – wenn auch nicht mit der gleichen Konsequenz wie Frankreich seine Protektionsrechte über die Katholiken durchzusetzen suchte – und die Drusen für sich zu gewinnen. Russland hatte seinen Einfluss über die orthodoxen Christen des Osmanischen Reichs seit dem Friedensvertrag von Küçük Kaynarci des Jahres 1774 auszuweiten versucht und beanspruchte 1853 ultimativ das Recht auf Protektion über alle orthodoxen Christen im Reich des Sultans. Dies führte – zusammen mit den Änderungen, die der Sultan 1852 am status quo, den Rechten der unterschiedlichen Kirchen an den Heiligen Stätten in Jerusalem und Bethlehem, vorgenommen hatte – zum Krim-Krieg. Missionare und Missionsgesellschaften dienten oft geistlichen Belangen genauso wie politischen Interessen ihrer Heimatländer. Aber auch die lokalen Kirchen trugen durch die Anrufung europäischer Protektion dazu bei, dass die Loyalität von Christen zum Osmanischen Staat und ihren muslimischen Nachbarn oftmals angezweifelt wurde (allerdings hatte auch das islamische Recht die geduldeten nicht-muslimischen Gemeinschaften nicht dazu eingeladen, Verantwortung im islamischen Gemeinwesen zu übernehmen, sondern sie nur dazu verpflichtet, den Vorrang der islamischen Ordnung anzuerkennen). Die ausländischen Konsuln intervenierten während des gesamten 19. Jahrhunderts immer wieder zugunsten der von ihren Regierungen protegierten Christen. Dies förderte Ressentiments der einfachen muslimischen Bevölkerung und der osmanischen Beamten, die ihre Autorität durch die Interventionen der Konsuln immer wieder unterminiert sahen. Ihre Eingriffe begründeten die Mächte wiederholt mit Petitionen, die die lokale Bevölkerung – in der Regel aus den Reihen der eigenen protegierten Klientel – an sie gerichtet hatten. Die osmanische Regierung reagierte bisweilen damit, entsprechende Gegenprotektionen zu erwirken, teils mit Druck, teils auch durch Fälschung. Angestellte der Konsulate – Dragomane (offizielle Übersetzer), Handlungsgehilfen, Janitscharen (Sicherheitsbedienstete) und Hausangestellte – genossen dank eines speziellen Berats gewisse Privilegien und waren somit der osmanischen Gerichtsbarkeit entzogen. Die Vielzahl dieser sogenannten Beratli – oft beriefen sich auch weitere Familienangehörige auf einen solchen Berat, den sie selbst gar nicht hatten – verärgerte die muslimische Bevölkerung. Die Sultane versuchten die Zahl der Beratli immer wieder einzudämmen.16

Die führende Rolle, die die religiösen Minderheiten im Handel und in der Industrie sowie in anderen Wirtschaftszweigen am Ende des 19. Jahrhunderts einnahmen, wurde dadurch gefördert, dass viele von ihnen nicht wie die Muslime willkürlicher Besteuerung und dem Risiko der Beschlagnahme ihres Besitzes ausgesetzt waren, sondern häufig ausländische Protektion genossen. Sie bezahlten niedrigere Steuern und Zölle und hatten dadurch einen erheblichen wirtschaftlichen Vorteil und größere Sicherheit bei ihren Geschäften. Die Reform des osmanischen Landgesetzes sowie der ägyptischen Landgesetze ab 1858 erlaubte Minderheiten uneingeschränkt Landbesitz und hob so auch in diesem Bereich die Schranken zwischen Christen und Muslimen auf, wodurch sich Christen erhebliche wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen wussten.17

Größere Spannungen zwischen Christen und Muslimen setzten nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877–1878 ein. Angesichts des Vormarschs der Russen und der Verluste der osmanischen Truppen setzte Sultan Abdülhamid II. auf eine Islamisierung des Reichs. Gleichzeitig zeigten Griechen und Armenier immer deutlicher ihre Sympathien für die europäischen Mächte. In den Städten kontrollierten sie den internationalen Handel, bauten Industriebetriebe auf, betrieben Banken und Finanzhäuser und gelangten zu einem deutlich größeren Wohlstand als der Durchschnitt der Muslime. In den Kleinstädten waren die Handwerks- und Kleinhandelsbetriebe zum größten Teil in den Händen von Armeniern und Griechen.

In Ostanatolien wurde die Lage für die Armenier dagegen immer kritischer. Die Gesellschaft Ost-Anatoliens gliederte sich im 19. Jahrhundert in die sesshafte Bevölkerung (raya/reʿāyā) und in nomadische oder semi-nomadische Stämme (ʿašīret). Hinzu kamen Zehntausende muslimische Einwanderer (muhacir), die von Russland aus dem Kaukasus vertrieben worden waren. Diese meist den Volksgruppen der Tscherkessen und Lazen angehörigen Flüchtlinge ließen sich nur schwer in die Gesellschaft Anatoliens integrieren. Viele lebten daher vom Raub und terrorisierten die ansässige Bevölkerung. Vor allem die Tscherkessen waren gefürchtet. Die eingesessenen Stämme waren bewaffnet und ebenfalls im Kampf erprobt. Ihre Lebensgrundlage bezogen sie aus der Viehhaltung, ergänzten ihre Ressourcen aber auch gern durch Raubzüge gegen die sesshafte Bevölkerung. Sie entzogen sich der Staatsgewalt und zahlten keine Steuern, trieben vielmehr Abgaben von der bäuerlichen Bevölkerung ein, die sie als ihr Eigentum betrachteten. Die meisten unabhängigen Stämme waren Kurden, aber auch die Assyrer des Hakkari lebten in solchen unabhängigen Stammesverbänden. Ein Teil der Armenier, nämlich die, die in den bergigen Gebieten von Sasun, Moks, Zeytun und Dersim lebten, war ebenfalls bewaffnet und wusste sich gegen Übergriffe der Kurden und Tscherkessen zur Wehr zu setzen. Bewaffnete Armenier und assyrische Stämme gingen wechselnde Allianzen mit den Kurden ein, darin ganz der Logik der Stammesrivalitäten folgend. Wie die kurdischen Stämme sahen sie im Vordringen der osmanischen Staatsmacht eine Gefahr und bekämpften diese Entwicklung in Einklang mit den Kurden. Die sesshafte Bevölkerung zahlte dagegen Steuern an den osmanischen Staat, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist durch die kurdischen Clanchefs. Ein Großteil der Armenier zählte zu den unbewaffneten raya, ebenso ein Teil der Assyrer, die meisten Chaldäer und Syrisch-Orthodoxen. Die Bauern ebenso wie die Handwerker und Händler in den Städten sahen in der osmanischen Regierung eine Schutzmacht, von der sie Verteidigung gegen Übergriffe der Stämme erwarteten.18

Zu Beginn der 1840er Jahre drang die osmanische Staatsmacht auch in die unwegsamen Gebiete Kurdistans vor und suchte die kurdischen Emire, die über Jahrhunderte eine große Unabhängigkeit bewahrt hatten, zu unterwerfen. In diese Auseinandersetzungen wurden auch die assyrischen Stämme des Hakkari hineingezogen. Kurz zuvor (1839) hatten amerikanische Missionare dort eine Station errichtet und in Konkurrenz mit Abgesandten der Kirche von England angefangen, Schulen aufzubauen. Dies ließ Unruhe unter den Kurden entstehen, die ein Eindringen westlicher Mächte in ihr Gebiet fürchteten. Spaltungen unter den assyrischen Stämmen kamen hinzu. Nachdem es zunächst zu Kämpfen zwischen Türken und Kurden gekommen war, fielen im Sommer 1843 kurdische Stämme unter ihrem Führer Bedir Khan über die Assyrer her. Mehrere Tausend wurden von den aufständischen Kurden niedergemacht. Der Patriarch, Mar Shim’un XVII. Auraham (1820–1861) floh nach Mossul, später nach Urmia jenseits der persischen Grenze. Die Kämpfe bedeuteten auch das Ende der amerikanischen und englischen Mission.19 Am Rande traf der Aufstand auch die syrisch-orthodoxen Christen des Tur Abdin. An der Lebenswelt der assyrischen Christen des Hakkari und der Syrisch-Orthodoxen im Tur Abdin gingen die Reformen der Tanzimat-Periode weitgehend vorbei. Die Staatsmacht war kaum in diese Gebiete vorgedrungen und Christen lebten dort in eigenen Dörfern, umgeben von Kurden. Es waren weniger religiöse Bestimmungen, die dort das Leben regelten, als die Beziehungen zwischen bäuerlicher und nomadischer Bevölkerung und die sich daraus ergebenden Konflikte.20 Weder der Katholikos der Assyrer noch der Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche bemühte sich um die Anerkennung seines Amtes durch den Sultan in Istanbul. Dies war für die Ausübung seiner Funktionen in den abgelegenen Bergregionen (ähnlich wie bei den Maroniten im Libanon-Gebirge) schlicht nicht erforderlich.

Mit dem Vordringen der osmanischen Staatsmacht und den Reformen der Tanzimat-Periode sahen sich die kurdischen Stammesführer immer weiter an den Rand gedrängt. Ihnen entglitt die Kontrolle über „ihre“ raya und sie sahen die Tanzimat als ausschließlich für die Christen gemacht. So hatten die Armenier in den Augen der Kurden seit der Gemeindeverfassung von 1863 mit den Bischöfen, die sie vertraten, eigene „Gouverneure“, die ihnen selbst als Muslime – also keine eigene millet – nicht zugestanden wurden. Kurdische Stämme sahen sich damit um ihre Rechte gebracht mit dem Ergebnis, dass die Spannungen zwischen Kurden und Armeniern zunahmen.21 Weitere Reibungspunkte ergaben sich aus der sich ändernden Lebensweise der Armenier. Anders als die Kurden begannen sie westliche Bildung und Standards der westlichen Kultur zu übernehmen. Einige armenische Intellektuelle sahen die Gefahr, die darin bestand, dass die Armenier sich der westlichen Zivilisation öffneten und in den neu entstandenen Schulen einen höheren Bildungsgrad erwarben, während die Kurden ungebildet und in den überkommenen sozialen Strukturen verhaftet blieben. Sie forderten daher, Schulen für die Kurden zu eröffnen, bemühten sich um die Schaffung eines kurdischen Alphabets sowie um die Sesshaftmachung von kurdischen Nomaden in der Hoffnung, sie würden so nach und nach ihr kriegerisches Leben aufgeben.22

Nachdem das Osmanische Reich im russisch-türkischen Krieg von 1877–1878 eine Niederlage erlitten hatte, verpflichtete der Vertrag von Berlin (1878) den Sultan zu Reformen zum Schutz der Armenier, namentlich vor Übergriffen durch Kurden und Tscherkessen (Artikel 61). Damit wurde die „armenische Frage“ internationalisiert, allerdings wurden keine Maßnahmen zur Durchsetzung der Bestimmung getroffen. Dies wurde von der osmanischen Regierung als Einmischung in innere Angelegenheiten verstanden und nie umgesetzt. Die wiederholten Proteste des armenischen Patriarchen Nerses II. Varyapetian (1874–1884) blieben ungehört.23 1890 richtete die türkische Regierung kurdische Einheiten, die sogenannten Hamidiye, ein. Sie waren nach Stämmen organisiert und unterstanden den lokalen Clanführern. Ihre Angehörigen konnten nicht von zivilen Gerichten, sondern nur von Militärgerichten abgeurteilt werden und genossen gewisse Privilegien. Die zivilen Behörden hatten keinerlei Kontrolle über diese Einheiten. Sie waren für zahlreiche Übergriffe auf die Zivilbevölkerung verantwortlich, vor allem auf die unbewaffneten Armenier, und sorgten durch den von ihnen ausgeübten Terror dafür, dass viele Armenier nach Russland oder Istanbul auswanderten.24

Als erste armenische Partei entstand 1885 im ostanatolischen Van der Armenakan. Er wurde aber an Einfluss schnell von zwei anderen, international aktiven Parteien überflügelt: 1887 wurde in der Schweiz von armenischen Studenten die Sozialdemokratische Hnchak-Partei zunächst als Geheimorganisation gegründet. Ziel war die Unabhängigkeit der Ostprovinzen des Osmanischen Reichs und die Errichtung eines sozialistischen armenischen Staats. Als Methoden zur Erreichung der Ziele kamen sowohl Plädoyer auf internationaler Ebene als auch gewaltsamer Widerstand und Terroraktionen gegen osmanische Einrichtungen in Frage. Die Partei gewann schnell Anhänger im Osmanischen Reich und war für eine Reihe gewaltsamer Aktionen verantwortlich. 1890 wurde im Kaukasus die Armenische Revolutionäre Föderation (Dashnaktsutyun oder kurz: Dashnak) gegründet. Hauptsitz war Tiflis. Der Dashnak verstand sich einerseits als sozialistische Partei, andererseits aber auch als Befreiungsbewegung für das armenische Volk im Osmanischen Reich. Ziel war ein besserer Schutz für die armenische Bevölkerung und ein Autonomiestatus für die Armenier in den Ostprovinzen Anatoliens, wo sie einen erheblichen Bevölkerungsanteil stellten. Zur Durchsetzung der Ziele betrachtete die Partei auch gewaltsamen Widerstand und Terroraktionen als legitime Maßnahmen. Der Dashnak war auf internationaler Ebene aktiv, überließ es aber seinen Teilorganisationen in den einzelnen Ländern, die jeweils geeignete Politik festzulegen. Ab den 1890er Jahren bildete der Dashnak in Ostanatolien zahlreiche, Fedayi genannte, Widerstandskämpfer aus. Sie erhielten teils auf legalen, teils auf illegalen Wegen Waffen, verteidigten die armenische Bevölkerung und verübten auch Vergeltungsaktionen auf Kurden und Regierungseinrichtungen. Mit dem Entstehen der Parteien ergab sich eine Rivalität zwischen der kirchlichen Hierarchie, vor allem dem Patriarchat von Konstantinopel, und den Aktivisten der Parteien um die Vertretung der Armenier auf nationaler und internationaler Ebene. Mehrfach kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten und Geistlichen, so 1890 bei einem Angriff auf den Patriarchen von Konstantinopel Khoren I. Ashekian Keremettzi (1888–1894) in seiner Kathedrale25 und 1903 bei einen Anschlag auf Patriarch Malakia Ormanian (1896–1908).26

Eine erste Revolte von Armeniern angesichts des fehlenden Schutzes vor kurdischen Übergriffen durch die osmanische Staatsmacht hatte es 1862 in Zeytun gegeben. 1893 leisteten Armenier in Sasun bewaffneten Widerstand gegen kurdische Angriffe. Von den osmanischen Behörden wurde dies als Revolte dargestellt. Die Niederschlagung dieses „Aufstands“ durch türkische und kurdische Einheiten diente als Auftakt für die Massaker an den Armeniern der Jahre 1894 bis 1896. Während dieser, nach Sultan Abdülhamid „hamidische Massaker“ genannten Ereignisse wurden immer wieder armenische Dörfer in den Provinzen Bitlis, Harput, Diyarbakir, Erzerum und Trabzon von kurdischen Einheiten der Hamidiye angegriffen. Die Regierung ließ ihnen freien Lauf. Allerdings verteidigten auch einige kurdische Stammesführer die in ihrer Region lebenden Armenier. In Zeytun leisteten armenische Kämpfer bewaffneten Widerstand gegen die Angreifer und errangen einige Erfolge, bevor sie von der Übermacht der türkischen Truppen geschlagen wurden. Ihr Widerstand ist in der armenischen Geschichtserinnerung legendär. Zwischen 1894 und 1896 wurden nach armenischen Angaben bis zu 300.000 Armenier getötet, 100.000 flohen aus den betroffenen Gebieten. Die europäischen Mächte griffen nicht ein. Auf dem Land der getöteten oder vertriebenen Armenier wurden Angehörige der Hamidiye-Einheiten angesiedelt, außerdem muslimische Emigranten aus Russland: Tscherkessen und Lazen (Russland verfolgte im 19. Jahrhundert eine rigorose Politik der Christianisierung der Kaukasus-Provinzen, die es nach und nach vom Osmanischen Reich und Persien erwarb. Dabei wurden Hunderttausende muslimische Bewohner dieser Regionen oft unter unsäglichen Bedingungen ausgewiesen). Betroffen waren von den Massakern auch syrische Christen in der Region Diyarbakir, Harput und Urfa. Die Griechen in Trabzon wurden hingegen verschont.27

Ostanatolien blieb unruhig. 1904 erhoben sich in Sasun erneut armenische Fedayi und leisteten Widerstand gegen aus ihrer Sicht illegal erhobene Steuern und Abgaben. Der Aufstand wurde von türkischen Einheiten blutig niedergeschlagen. 1908 wurden die Hamidiye-Einheiten aufgelöst, dies stieß aber auf heftigen Widerstand, so dass die Entwaffnung der Einheiten schon 1909 aufgegeben wurde. Allerdings hatten die türkischen Behörden als Reaktion auf den kurdischen Widerstand Land, das früher konfisziert und an Angehörige der Hamidiye übertragen worden war, an seine früheren armenischen Besitzer zurückgegeben. Dies rief den Hass vieler Kurden hervor. Außerdem empfanden sie die 1909 auch für Armenier eingeführte Wehrpflicht als Gefahr, weil ihre bisherigen Untergebenen nun bewaffnet und trainiert wurden.28

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