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Irak

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In den osmanischen Provinzen Bagdad und Basra lebte im 19. Jahrhundert nur eine sehr kleine Zahl von Christen. Die meisten waren ab dem 17. Jahrhundert durch persische Einfälle vertrieben worden. Vor allem der Kriegszug Nadir Schahs 1743 führte zu Zerstörungen in Bagdad, aber auch in den christlichen Dörfern der Niniveh-Ebene bei Mossul. In Bagdad und Basra gab es jedoch eine Zahl armenischer Händler, die meist ihrerseits aus Persien dorthin gekommen waren und die im Handel mit Indien und Südostasien aktiv waren. Bagdad hatte darüber hinaus eine bedeutende jüdische Bevölkerung.

Die Reformen der Tanzimat-Zeit erreichten den Irak in den 1840er Jahren. In Bagdad wurde 1844 mit der Umsetzung begonnen, in Kirkuk (osmanisch: Shahrizor) 1847 und in Mossul 1848. Das Ziel war in erster Linie, Willkür bei der Erhebung von Steuern und illegalen Abgaben abzuschaffen. Außerdem wurden Beratungs- und Verwaltungsräte auf verschiedenen Ebenen eingesetzt. Der Status der Nicht-Muslime soll, so die Einschätzung eines europäischen Reisenden aus dem Jahr 1850, in Bagdad deutlich besser gewesen sein als in anderen Teilen des Osmanischen Reichs. Ab 1856 wurde per Ferman des Sultans der Bau mehrerer Kirchen erlaubt.71 In der Stadt Bagdad machten Juden einen bedeutenden Teil der Bevölkerung aus. Für das Jahr 1869 wurde die Zahl der Muslime dort von offizieller osmanischer Seite auf 52.689, die der Juden auf 9.325 und die der Christen auf 1.258 geschätzt; hinzu kamen 2.411 Ausländer, zum größten Teil Perser.72 1841 richtete der osmanische Gouverneur der Provinz Bagdad gemäß den Vorgaben aus Istanbul einen Advisory Council (šūrā meğlis) ein. Er bestand aus dem ständigen Rat und zwei speziellen Kommissionen: einer für militärische Aufgaben und einer für Religions-, Verwaltungs- und Rechtsfragen. Der letzteren gehörten auch Vertreter der religiösen Minderheiten an: zwei Christen (beides Kaufleute) und ein Jude. Mitte der 1840er Jahre ging der Advisory Council in einen Verwaltungsrat der Provinz (eyālet idāre meğlis) über. Unter den 23 Mitgliedern waren vier Christen – je ein Vertreter der syrisch-orthodoxen (oder katholischen? süryānī), der armenisch-katholischen, der chaldäischen und der armenisch-orthodoxen Gemeinschaft – und ein Jude. Mit der Reform der osmanischen Provinzen von 1870 wurde die Zusammensetzung des Rates geändert. Nun fanden sich keine Vertreter der religiösen Minderheiten mehr darin, dafür die Scheichs der großen Stammesföderationen.73

In Mossul wurde 1848 ein Rat eingerichtet. Chaldäer, Syrisch-Orthodoxe und Syrisch-Katholische entsandten jeweils in Mitglied.74 Ansonsten lebten Christen in der Provinz Mossul weitgehend ihr bäuerliches Leben weiter. Die Reformen der Tanzimat betrafen sie nur am Rande. Ihr Alltag war stärker vom Zusammenleben mit kurdischen Bauern und Viehzüchtern geprägt als von staatlichen Regelungen. In der Provinzhauptstadt Mossul ließen sich aber immer mehr europäische Missionare, Katholiken und Protestanten, nieder. Vor allem katholische Missionare gründeten zahlreiche Schulen und unterstützten die chaldäische Kirche bei der Ausbildung ihres Klerus. Ein bedeutender Teil der Christen in der Niniveh-Ebene schloss sich in dieser Zeit der chaldäischen bzw. syrisch-katholischen Kirche an. 1843 kehrten die Dominikaner nach Mossul zurück (sie hatten die Stadt 1815 verlassen) und eröffneten 1878 ein Priesterseminar (bereits 1866 war ein chaldäisches Seminar eröffnet worden). Als führender katholischer Orden in der Region trugen die Dominikaner entscheidend zu den Bildungsaktivitäten in den christlichen Dörfern und zur Verbesserung des Bildungsstands beim einheimischen katholischen Klerus bei. Außerdem bemühten sie sich, die Anhänger der orientalischen Kirchen für die chaldäische bzw. syrisch-katholische Kirche zu gewinnen.75 Zwischen der syrisch-orthodoxen und syrisch-katholischen Kirche gab es im gesamten 19. Jahrhundert eine heftige Rivalität. Immer mehr Gemeinden traten von der orthodoxen zur unierten Kirche über. Streit entflammte immer wieder darum, wem die Kirchengebäude gehören sollten. Der Mufti von Mossul hatte 1837 verordnet, dass Syrisch-Orthodoxe und Katholiken bestimmte Kirchen gemeinsam zu nutzen hätten und jeweils eine Trennmauer darin zu errichten sei. Obwohl die Katholiken 1862 und 1863 zwei eigene Kirchen bauten, kam es im gesamten 19. Jahrhundert immer wieder zu Streit und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gemeinschaften. Sie mussten bisweilen von türkischen Soldaten beendet werden, so 1876 als 47 Verwundete gezählt wurden.76 Die von J. M. Fiey dokumentierte rege Bautätigkeit von Kirchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (fünf neue Kirchen) mag ein Hinweis darauf sein, dass die Bestimmungen des Ḫaṭṭ-ı hümāyūn auch in Mossul Anwendung fanden, zumindest was den Bau von Kirchen angeht. Ansonsten liegen jedoch kaum Informationen über die Aufnahme der osmanischen Reformen in der Provinz Mossul vor. Da der Arm der Regierung aber ohnehin kaum über die Stadtgrenzen von Mossul und die Sicherung der Post- und Militärstraßen hinausreichte – abseits herrschten arabische und kurdische Stämme –, haben die Reformen dort wohl kaum Auswirkungen gehabt.

Mossul galt trotz der Präsenz zahlreicher Christen und unterschiedlicher Kirchen als islamisch-konservative Stadt. Die Reformen der Tanzimat-Periode werden dort kaum mit großer Begeisterung aufgenommen worden sein. Die britische Orient-Reisende und spätere Gesandtschaftsmitarbeiterin Gertrude Bell berichtet, dass die Ankündigung der verfassungsmäßigen Reformen des Komitees Einheit und Fortschritt von den Muslimen Mossuls mit Ablehnung quittiert wurde. „In ihren Ohren klangen die Worte wie eine Totenglocke. Universale Freiheit ist kein Geschenk, das Tyrannen wertschätzen, und Gleichheit stinkt in den Nasenlöchern derjenigen, die daran gewöhnt sind, dass ihre christlichen Mitbürger in den nächsten Hauseingang kauern, wenn sie durch die Straße reiten.“77 Im Umfeld des muslimischen Opferfestes kam es am 1. und 2. Januar 1909 zu Unruhen zwischen Kurden und Arabern. „Môṣul war in einem Zustand völliger Anarchie“, berichtet Gertrude Bell, „Christen wurden in den Straßen offen beschimpft, die zivilen und militärischen Behörden waren machtlos und nicht weniger machtlos war das lokale Komitee Einheit und Fortschritt. Als die Truppen kamen, wurde ein gewisses Maß an Ordnung wiederhergestellt, aber die reaktionäre Bewegung wurde nicht gestoppt. Die Bildung einer Liga Mohammads, die als Gegengewicht zum Komitee Einheit und Fortschritt angelegt war, schritt voran. Sie zog die Muslime alter Schule an, die eine tiefsitzende Furcht vor den Auswirkungen des neuen Geistes auf die Beachtung der Gesetze des Islâm hatten; sie zog die Ungebildeten an, für die das Konzept der Gleichheit zwischen Christen und Muslimen unverständlich ist; und sie wurde ebenso begrüßt von all denjenigen, die sich dem konstitutionellen Regierungssystem aus mehr oder weniger persönlichen Gründen entgegensetzten.“ Der Gouverneur trat den Aktivitäten der Liga aber entschieden entgegen. „Er ließ eine Anzahl von Personen verhaften und ins Gefängnis werfen und er erteilte den führenden Muslimen ernsthaften Tadel, verbunden mit der Versicherung, dass die Regierung die Rechte der Christen verteidigen würde.“78 Von den Christen rund um Mossul wurde die Nachricht vom Sturz Sultan Abdülhamids dagegen mit Erleichterung aufgenommen.79 Die Erinnerung an die Massaker in Ostanatolien, nicht weit entfernt vom nördlichen Mesopotamien, saß offenbar tief.

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