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Syrien

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Durch die Eroberung Palästinas und Syriens durch Truppen Mehmed Alis 1831 kam ein Großteil der arabisch-sprachigen Christen des Osmanischen Reichs unter ägyptische Herrschaft. Der Sohn und Statthalter Mehmed Alis, Ibrahim Pascha, führte in Syrien nach dem Beispiel Ägyptens Reformen durch. So führte er die allgemeine Wehr- und Steuerpflicht ein, schuf die diskriminierenden Bestimmungen für Nicht-Muslime ab und erlaubte den Neubau von Kirchen. Außerdem zogen Christen in die neugebildeten Verwaltungsräte und konnten Positionen in der staatlichen Verwaltung einnehmen. Die Christen Syriens begrüßten zwar diese Neuerungen im Grundsatz, wehrten sich aber – genau wie die muslimische Bevölkerung – gegen die Wehrpflicht. Der reichen christlichen Stadtbevölkerung Aleppos gelang es schließlich, sich davon zu befreien, indem sie ein Kontingent aus der wehrhaften armenischen Bevölkerung des Musa Dağ zusammenstellte. Die Reformen des Ḫaṭṭ-ı šerīf von 1839 wurden der Bevölkerung Syriens seit dem Rückzug der Ägypter 1841 zuteil.49 Allerdings trafen sie auf die Vorbehalte großer Teile der muslimischen Bevölkerung, wie bereits oben erwähnt wurde. Gerade die Bevölkerung von Damaskus, wo eine Reihe einflussreicher islamischer Gelehrter wirkte, galt als besonders konservativ. So können die Ausschreitungen des Jahres 1860 auch als Reaktion auf die neue Rolle von Christen verstanden werden, die das Ḫaṭṭ-ı hümāyūn des Jahres 1856 gebracht hatte.

Zwischen 1850 und 1860 kam es in Syrien zu einer Reihe von gewaltsamen Übergriffen auf Christen, die das Selbstverständnis der orientalischen Christen bis heute prägen sollten. 1850 führte die Unzufriedenheit der Aleppiner Muslime mit der Wehrpflicht, zu der sie eingezogen werden sollten, zu Unruhen. Sie richteten sich schnell gegen die örtlichen Christen. Mit ihrer Emanzipation hatten die melkitische und die armenisch-katholischen Kirche mit dem Bau großer Kathedralen in Aleppo begonnen. Die Baustellen waren bereits 1849 von aufgebrachten Muslimen besetzt worden, so dass die Stimmung aufgeheizt war. Als 1850 ein Aufstand gegen die Rekrutierung für die osmanischen Truppen ausbrach, plünderte ein wütender Mob christliche Geschäfte, Häuser und Kirchen. Etwa 20 Christen wurden bei den Ereignissen getötet. Als Grund gaben die Vertreter der Aufständischen beim Gouverneur der Stadt an, Christen hätten durch das Läuten der Kirchenglocken und das Mitführen von Kreuzen bei öffentlichen Prozessionen ihre Grenzen überschritten; außerdem hielten sie sich missbräuchlich muslimische Sklaven (tatsächlich war es unter den Notablen der Stadt üblich, sich afrikanische Bedienstete zu halten, die zum Teil Muslime waren). Die Christen ihrerseits trugen beim Gouverneur vor, sie würden von Muslimen in der Ausübung ihrer vom Sultan gewährten Rechte zum Bau von Kirchen und der Ausübung ihres Glaubens behindert. Truppen des Gouverneurs nahmen schließlich die aufständischen Stadtviertel mit Gewalt ein und stellten Ruhe und Ordnung wieder her.50

Damaskus bekam 1860 die Auswirkungen der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen im Libanon zu spüren. Mehrere tausend Christen waren im Sommer von dort nach Damaskus geflohen, um Schutz vor den drusischen Übergriffen zu finden. Der Zulauf von Christen löste unter den Muslimen von Damaskus Unruhe aus. Unmut gab es bereits durch die Veränderung des Status der Christen aufgrund des Ḫaṭṭ-ı hümāyūn von 1856. Auslöser für die Massaker an Christen wurde aber schließlich ein scheinbar bedeutungsloses Ereignis. Nachdem einige muslimische Jugendliche im christlichen Viertel Hauseingänge mit Kreuzen beschmiert hatten, wurden sie von den Polizeibehörden gezwungen, diese zu entfernen. Das rief eine muslimische Menge auf den Plan, die forderte, die Jugendlichen freizulassen. Einige Heißsporne riefen zum Angriff auf die Christen auf und muslimische und drusische Dorfbewohner aus dem Umland strömten in Stadt, gierig nach Plünderung. Acht Tage zogen plündernde und mordende Banden durch das christliche Viertel von Damaskus, bevor angesichts einer drohenden französischen Intervention die osmanischen Truppen die Ordnung wiederherstellten. 5.500 Christen, manche Quellen behaupten bis zu 10.000, waren allerdings bei den Unruhen getötet worden. Bemerkenswert war die Hilfe, die die Christen der Stadt von Abd al-Qadir erfuhren, einst Anführer des algerischen Widerstands gegen die französische Besetzung und nach dem französischen Sieg im Exil in Damaskus. Mit einer Gruppe algerischer Getreuer rettete er zahlreiche Christen vor den Übergriffen und beherbergte mehrere europäische Konsuln.51

Der griechisch-orthodoxe Patriarch erhielt nach den Ereignissen aus der Staatskasse in Istanbul eine große Entschädigung. Einen Teil davon setzte er für den Unterhalt von Schulen in Damaskus ein.52 Allerdings gingen die meisten Schulen ab 1895 in die Verantwortung der russischen Kaiserlich-orthodoxen Palästina-Gesellschaft über. Um 1910 betrug die Zahl dieser Schulen in Syrien und dem Libanon 75. Die meisten waren allerdings nur einfache Pfarrschulen mit sehr niedrigem Niveau.53 Eine große Zahl von Schulen nach westlichem Vorbild hatten die europäischen Missionare in Syrien seit dem 17. Jahrhundert aufgebaut.54 Mit der Rückkehr der Jesuiten in den Libanon (ab 1831) und nach Syrien (Damaskus 1872, Aleppo 1874 und Homs 1882) und der Ankunft neuer Missionsorden in Syrien ab den 1840er Jahren nahm das katholische Schulwesen einen weiteren Auftrieb. Französisch ersetzte das Italienische als die hauptsächliche Fremdsprache der katholischen Schulen.55 Für die christliche Bevölkerung bedeutete der Zugang zu den Missionsschulen einen Bildungsvorsprung vor den Muslimen, der ihnen ermöglichte – zusammen mit den vergleichsweise wenigen Abgängern der neuen osmanischen Staatsschulen – eine westlich geprägte Elite zu bilden, die ein Gegengewicht zu den bisher herrschenden religiösen Eliten darstellte und ein säkulares Welt- und Gesellschaftsbild propagierte.

Die Ereignisse des Jahres 1860 führten bei einer Reihe gebildeter Christen zu der Einsicht, dass religiöse Zugehörigkeit keine Grundlage für das Gemeinwesen mehr sein konnte. Sie begannen die religiösen Grenzen, die über Jahrhunderte Schutz geboten hatten, als Einschränkung wahrzunehmen. Stattdessen suchten sie nach einer Möglichkeit der Kooperation mit den Muslimen. Dafür musste eine neue, gemeinsame Identität geschaffen werden. Arabische Christen und Muslime begannen, sich mehr und mehr in Abgrenzung zur türkischen Herrscherschicht des Osmanischen Reichs als Araber zu fühlen und einen eigenen Nationalismus auszubilden.56 Allerdings bildeten sich zwei unterschiedliche Richtungen heraus: die überwiegend von Christen getragene Nahḍa, Renaissance, und die islamische Salafiyya, Rückkehr zu den Gepflogenheiten der altvorderen Muslime (salaf). Die Vertreter der Nahḍa erhoben die nicht-religiöse klassische arabische Literatur zu ihrem Ideal und begannen sich hauptsächlich aufgrund ihrer Sprachgemeinschaft als Nation zu definieren. Die Salafiyya suchte die Errungenschaften der modernen Wissenschaften mit dem islamischen Erbe in Einklang zu bringen und den Vorrang des frühen, aus ihrer Sicht noch reinen, arabischen Islam unter Beweis zu stellen. Christliche Nahḍa und islamische Salafiyya trafen sich in ihrer Wertschätzung für die arabische Sprache und in der Ablehnung der türkischen Herrschaft. Allerdings definierte die Salafiyya die Identität der Araber als Religionsgemeinschaft und weniger als Sprachgemeinschaft.57 Es war vor allem orthodoxen Christen (manche von ihnen waren auch zum Protestantismus übergetreten), die an den protestantischen Schulen und dem Syrian Protestant College, der 1866 von amerikanischen Missionaren in Beirut gegründeten Hochschule, ausgebildet waren, zu verdanken, dass Christen über die Grenzen der eigenen millet hinauszuschauen und in größeren Kategorien, nämlich der arabischen Nation und Sprachgemeinschaft, zu denken begannen. Zu den Vorreitern gehörte Butrus al-Bustani (1819–1883) aus dem Libanon, geboren als Maronit, durch seine Kontakte zu englischen und amerikanischen Missionaren zum Protestantismus übergetreten. 1860 begann er seine Zeitung Nafīr Surīyya („Der Herold Syriens“) herauszugeben. Allein der Titel propagierte eine selbständige Region „Syrien“, die seiner Auffassung nach das gesamte geographische Gebiet zwischen der Mittelmeerküste und dem Euphrat, also inklusive Libanon, Palästina und dem Ostjordanland umfasste. Angelpunkt für die Einheit des Gebiets war die arabische Sprache. Ähnlich dachten andere Absolventen des Syrian Protestant College und der jesuitischen Université Saint-Joseph in Beirut (gegründet 1875). Sie lehnten sowohl eine Protektion durch westliche Mächte als auch die Interventionen Russlands zugunsten der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich ab.58

Im Rahmen der literarischen Renaissance wurden auch Übersetzungen der Bibel ins Arabische vorgenommen. Für die protestantische Seite begann der amerikanische Missionar Eli Smith (1801–1857) Ende der 1840er eine Übersetzung. Nach seinem Tod wurde sie von Cornelius van Dyck (1818–1895), ebenfalls Amerikaner, fortgeführt und beendet. Diese Übersetzung, die von der American Bible Society herausgegeben wurde (1865 in Beirut erstmals als Gesamtausgabe gedruckt), erhielt wertvolle Unterstützung von Butrus al-Bustani und Nasif al-Yaziji, zwei führenden Figuren der literarischen Renaissance des Arabischen.59 Die Ausgabe wurde maßgeblich für die protestantischen Kirchen. Auch die syrisch-orthodoxe und die koptische Kirche übernahmen diesen Bibeltext. Für die Katholiken besorgten die Jesuiten im Libanon, unterstützt von Ibrahim al-Yaziji, ab den 1870er Jahren eine Übersetzung. Der gesamte Text erschien erstmals 1880.60 Unabhängig davon gaben die Dominikaner in Mossul in den Jahren 1875 bis 1878 eine auf Basis des hebräischen und griechischen Texts vorgenommene Revision der römischen Bibelübersetzung ins Arabische aus dem Jahr 1671 heraus.

Teil des arabischen Nationalismus war auch der Kampf der syrischen und palästinensischen orthodoxen Laien gegen die griechische Hierarchie ihrer Kirchen. In Palästina begann sie rund um die Absetzung des Jerusalemer Patriarchen Kyrillos II. 1872, verlief dort aber weitgehend erfolglos. In Syrien gelang es, 1899 mit Meletios II. Doumani erstmals seit mehreren hundert Jahren wieder einen arabischen Kandidaten zum Patriarchen von Antiochien zu wählen. Meletios machte sich daran, eine Konstitution für das Patriarchat auszuarbeiten, die die Wahlen der zukünftigen Patriarchen regeln sollte. Das Fehlen eines solchen Dokuments hatte vorher den Einfluss des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel sowie der beiden anderen griechischen Patriarchate von Alexandrien und Jerusalem und damit die Wahl ausschließlich griechischer Kandidaten ermöglicht. Anders als das Jerusalemer Patriarchat arbeitete das Patriarchat Antiochien seit den 1880er Jahren eng mit der russischen Palästina-Gesellschaft zusammen. Russland förderte sowohl über die Gesellschaft als auch über die russische kirchliche Mission in Jerusalem und seine Konsulate tatkräftig den arabischen Nationalismus der orthodoxen Gläubigen, der sich gegen die griechische Hierarchie und die türkische Herrschaft gleichermaßen richtete.61

1904 hatte der syrische Christ Nagib Azoury (es ist unklar, ob er Maronit oder Melkit war) in Paris die Ligue de la patrie arabe gegründet (es bleibt offen, ob sie wirklich existierte oder nur eine Fiktion Azourys war). Ein Jahr später legte er in seinem Buch Le Réveil de la nation arabe seine Ideen vor: Es gebe eine einzige arabische Nation, zu der sowohl Muslime als auch Christen gehörten. Religiöse Probleme zwischen den beiden seien allein politisch motiviert und von externen Faktoren gesteuert. Es müsse eine vereinigte Arabische Kirche anstelle der zahlreichen Riten und Konfessionen geben. In dieser Kirche habe der griechische Klerus keinen Platz mehr. Zur arabischen Nation gehörten nach Azourys Auffassung die arabisch-sprachigen Gebiete Asiens (also das geographische Syrien, Mesopotamien und die Arabische Halbinsel), nicht jedoch Ägypten und Nordafrika. Arabische Nationalisten hielten 1913 in Paris einen „Arabischen Kongress“ ab. Unter den circa 25 Abgeordneten hielten sich Muslime und Christen in etwa die Waage. Einen der Hauptvorträge hielt der syrische Christ Nadra Moutran. Die Abgeordneten hielten aber an ihrer Loyalität zum Osmanischen Reich fest.62

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