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Leben in einer religiösen pädagogischen Provinz

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Als Sechsjähriger hatte Carl die Verantwortung für den Hühnerstall hinter dem Hof zu tragen; er fütterte und versorgte die Hühner und verkaufte die Eier an die Nachbarschaft. Ernsthaft mit Pflichten und Verantwortungen in Anspruch genommen zu werden war Ausfluss des religiösen Glaubens seiner Eltern, der von ihnen mit viel Aufmerksamkeit und Anstrengung in der alltäglichen Erziehungspraxis umgesetzt wurde.

Die Geschäfte in Vaters Firma entwickelten sich hervorragend. Walter Rogers war viel unterwegs, weil die Firma versuchte, nun auch Aufträge weiter im Norden zu bewältigen. Durch die Abwesenheit des Vaters entwickelte sich die Familie zu Hause unter Mutter Julias Führung immer stärker in religiös-fundamentalistischer Richtung.4 Sie kultivierte die Wagenburgmentalität: „Wir sind die Auserwählten!“, „Wir halten die Gebote ein!“, „Wir führen ein vorbildliches und gottgefälliges Leben!“, „Wir bekämpfen die und widerstehen den Sünden dieser Welt!“. So etwa muss das Selbstverständnis der Familie Julia Rogers gelautet haben, mit dem sie Kurs gegen die unchristliche Welt „da draußen“ zu halten suchte.

Die ersten offenen Konflikte mit den Eltern entwickelten sich über die Bücher, die Carl lesen wollte. Im Alter von acht Jahren interessierten ihn die Geschichten aus der Kinderbibel nicht mehr. Er war von Western- und Kriegsgeschichten fasziniert, von Abenteuergeschichten, von Cowboys und Indianern und ähnlich „sündigem“ Lesestoff. Walter und Julia versuchten ihn mit allen pädagogischen und religiösen Mitteln davon fern zu halten: Vergeblich! Carl schnappte sich die jeweils jüngste Ausgabe von „Billy the Kid“ und verschwand damit in seine Phantasiewelten. Streitereien dieser Art nahmen in den letzten Jahren, in denen die Familie in Oak Park wohnte, zu. Am Wochenende, wenn Vater Walter zu Hause war, fuhr die Familie aufs Land zur etwa 30 km entfernten Farm bei Wheaton, die der Vater 1911 gekauft hatte, um vier Jahre später den Wohnsitz der Familie ganz dorthin zu verlegen.

Rückblickend sah Rogers zwei Motive seiner Eltern für diesen Umzug. Zum einen wollte Vater Walter, nicht nur ein ambitionierter Ingenieur, sondern inzwischen ein erfolgreicher Geschäftsmann, als Ausgleich zu seinen geschäftlichen Reisetätigkeiten Hobbyfarmer werden. Zum anderen spielte für die Umsiedelung der Familie der Wunsch beider Eltern eine wichtige Rolle, die heranwachsenden Kinder während der Pubertätszeit von den sündigen Versuchungen der Großstadt fern zu halten (Rogers 1961 / 1976, S. 6).

Als „Fahrschüler“ setzte sich für Carl die soziale Isolation von seinen gleichaltrigen Mitschülern auch während des Besuchs der höheren Schule fort. Auch verlor er den Kontakt zu seiner Schulfreundin Helen. Er konnte nun nur mit seinen beiden jüngeren Brüdern spielen. In seinen späteren autobiographischen Berichten über seine Partnerschaft und Ehe mit Helen schreibt er rückblickend: „Als ich dreizehn war, zogen wir fort, und ich kann mich nicht erinnern, dass mich die Trennung von ihr geschmerzt hätte. Wir schrieben uns auch nicht“ (Rogers 1972 / 1975, S. 27).

In vielerlei Hinsicht wurde ihm mit diesem Umzug der Boden zu den „peers“ unter den Füßen weggezogen. Er musste nun zwei Stunden täglich mit der Bahn zur Schule fahren und sollte nach wie vor unverzüglich nach Schulende nach Hause kommen, um auf der Farm seine Pflichten zu erledigen. Carl stellte später mit Bedauern fest, dass er während seiner gesamten Schulzeit nur zwei Verabredungen mit Mädchen hatte.

Stattdessen musste er ein hartes Arbeitsprogramm absolvieren. Seine Aufgabe war es, früh morgens um fünf Uhr etwa zwölf Kühe zu melken, was dazu führte, dass er in der Schule oft „eingeschlafene“ Arme hatte, die, wie er berichtete, „immer lästig prickelten“. Carl musste auch die Schweine versorgen und sich um den Traktor kümmern bzw. diesen in Stand halten. Von seinem Vater hatte er ein Getreidefeld am Ende der Ranch für eigene Projekte und Experimente zugewiesen bekommen.

Als Kind und erst recht als heranwachsender Jüngling erlebte Carl diese täglichen Mühen als Zeichen dafür, dass er von seinen Eltern nicht geliebt wurde. So wurde sein Verhältnis zu beiden zunehmend schwieriger, und er zog sich immer weiter in seine Fantasiewelten und in die Welt der Abenteuerbücher zurück. Eine Zeitung, die er als Elfjähriger produzierte, mag etwas Auskunft darüber geben, was ihn in seiner Innenwelt beschäftigte: Die „Chickville News“, die er als Kind gemalt und geschrieben hatte, berichtet mit einem grausamen Titelbild und spöttischen Titelüberschriften von dem, was Carl im Hühnerstall erlebte: Ein Mann mit einer Axt in der Hand köpft gerade ein Huhn, Hennen wollen aus dem Käfig flüchten und ein schwarzer Hahn sitzt im Arrest u. Ä. Die Wirkung, die diese Zeitung in der Familie hatte, ist unbekannt. Aber die Eltern müssen schon vage gespürt haben, dass mit Carl irgendetwas nicht stimmt: „Carl entwickelte sich nicht genau so gut wie Lester, Ross und Margret. Lester war ein Bilderbuchsohn und hatte seine Berufsentscheidung zum Ingenieur schon getroffen, Ross war erfolgreich in der Schule, Margret pflichtbewusst und anpassungsfähig. Aber Carl war ein Problem“ (Cohen 1997: 29).

So beschlossen die Eltern, Carl aus seinen Träumereien herauszuholen und unternahmen den Versuch, das Verhältnis zum Vater zu verbessern. Walter Rogers nahm Carl auf eine dreiwöchige Geschäftsreise mit. Carl wurde dazu mit viel Aufwand vom Schulbesuch befreit und musste über diese Reise einen Bericht schreiben, der heute, zusammen mit der Ausgabe der „Chickville Times“, in seinem Nachlass zu finden ist.

Danach nahmen Vater und Sohn am 10. Dezember 1914 den Zug nach New Orleans, und Carl hielt minutiös und pflichtbewusst alle Stationen der Reise genau fest; auch was er unterwegs sehen und lernen konnte. Die Kriegsschiffe im Hafen von New Orleans müssen ihn sehr beeindruckt haben, ebenso ein frühmorgendlicher Spaziergang an den Dünen von Virginia oder auf wie viele verschiedenen Arten in Billups Restaurant in Norfolk Austern zubereitet wurden. Schließlich waren Vater und Sohn in diesen drei Wochen durch 16 Staaten gereist und hatten gemeinsam etwa 3200 Meilen zurückgelegt. Der Ertrag der Reise für die Beziehung zwischen dem zwölfjährigen Carl und Vater Walter war jedoch gleich null. Carl blieb in den Augen der Familie das „Problemkind“, das er zuvor bereits war (Cohen 1997: 30).

Carl Rogers

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