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Die Reise nach China und die Missionstätigkeiten im Fernen Osten

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Eine Reise nach China, die Carl für ein halbes Jahr unterwegs sein ließ, wurde zu einem Wendepunkt in seinem Leben und besonders im Verhältnis zu seiner Herkunftsfamilie. Carl hatte bereits 1921 an den YMCA geschrieben, als er hörte, dass eine kleine Gruppe im nächsten Jahr nach China geschickt werden sollte, um an einer internationalen Konferenz der „World Student Christian Federation“ (WSCF) teilzunehmen. Er war sehr interessiert, machte sich aber keine großen Hoffnungen. Er wusste, es würden insgesamt nur 10 Studenten die Chance erhalten, auf dieser Konferenz die USA als Delegierte zu vertreten. Die Konferenz sollte im März 1922 in Peking stattfinden. Dass er eine positive Antwort erhielt und an der Reise teilnehmen konnte, überraschte ihn sehr; er weinte vor Freude und konnte es zunächst gar nicht glauben. Noch Jahre später vermutet er, dass er den Platz nur deshalb erhalten hat, weil seine Eltern sehr wohlhabend waren und der YMCA mit einer entsprechenden Spende rechnete. Wie dem auch sei, er freute sich sehr auf dieses Erlebnis und auf die Perspektive, für sechs Monate unterwegs in fremden Ländern zu sein. Aber er wollte natürlich dadurch seine ersten Freundschaftsbande zu Helen nicht verlieren. Sie hatten sich in der Zwischenzeit öfters getroffen und Carl, der „Einsame“, lernte ihre Nähe und Freundschaft immer mehr zu schätzen. Zwar sei er nicht in sie verliebt, so erklärte er ihr, aber je länger er sie kenne, umso besser könne er sie leiden. Kurz vor seiner Abreise nach China verabredeten sie, eine feste Beziehung einzugehen.

Carl führte gewissenhaft ein Reisetagebuch und schrieb seinen Eltern und „seinem Mädchen“ Helen detailliert von den neuen Eindrücken und Erfahrungen, die er fernab von zu Hause machen konnte. Für die Entwicklung seiner persönlichen Autonomie war das Erlebnis der Reise eine wichtige Initialzündung: Da waren zum einen die Anregungen durch die sehr fremde Kultur und zum anderen die Eingebundenheit in eine internationalen Gruppe hochintelligenter und kreativer junger Menschen. Dies war in gewissem Sinne eine Steigerung und Intensivierung der Campus-Aktivitäten, in denen Rogers zuvor schon so intensiv aufgeblüht war und in der sich seine neuen Ziele und Motive entwickelt hatten. Während der China-Reise konnte Carl seine religiösen und philosophischen Auffassungen noch einmal vertieft mit ganz anderen Menschen teilen, diskutieren und verändern. Auch erlebte er die Auswirkungen nationalistischer Gefühle und wurde mit den Aggressionen konfrontiert, die wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges unter den Menschen herrschten, die von dem Krieg direkt betroffen waren.

Die zentrale Einsicht aus dieser Reise muss für ihn aber die Erfahrung gewesen sein, die er in der Gruppe machen konnte: Dass ehrliche und aufrichtige Menschen durchaus unterschiedliche religiöse Auffassungen und Überzeugungen haben konnten und dass man diese intellektuell und emotional wertschätzen und achten konnte, ohne dass die persönlichen Beziehungen darunter litten. Im Gegenteil: Das geachtete Fremde weckte Interesse. So konnte Carl auch seine eigenen religiösen Überzeugungen und seine „geerbten“ Dogmen mit den Mitgliedern dieser Reisegesellschaft erörtern und solchen zentralen theologischen Fragen nachgehen wie: „Kann man sich nur dann als Christ bezeichnen, wenn man an die Auferstehung Jesu glaubt?“

„Es war ein gutes Stück nachträgliche Bildung für einen engen und provinziellen Mittelwestler, wie ich einer bin, herauszufinden, was für wunderbare Menschen sich hinter den verschiedenen Etiketten unterschiedlicher Nationen oder unterschiedlicher Hautfarbe verbargen“, schrieb er seinen Eltern. Und es waren auch sehr schwärmerische und weitgehend sozialrevolutionäre Aussagen in seinen Briefen zu finden: Hier wurde er Teil einer anderen, alternativen und kritischen christlichen Gemeinschaft, die sich als junge Generation sendungsbewusst berufen fühlte, die sozialen und politischen Verhältnisse, die zum Ersten Weltkrieg geführt hatten, grundlegend zu verändern. Dies klingt revolutionär, und so war es wohl auch gemeint. Schließlich schrieb Rogers: „Die Welt steht am Rande einer gewaltigen Veränderung, die unsere Generation hervorbringen wird.“ Und: „Die Konferenz ist der Überzeugung, dass das gegenwärtige Industriesystem nicht nur voller Fehler ist, sondern grundlegend falsch. Sie beginnen einzusehen, dass ein System, das vorwiegend von den eigennützigen Instinkten der Menschen angetrieben wird, nicht von Christenmenschen aufrechterhalten werden kann.“ Diese jungen, verschworenen Christenmenschen wollten, nach der Reformierung des kapitalistischen Industriesystems auch das Militär abschaffen und alles daran setzen, weitere Kriege zu verhindern.

Eine solche weltliche Begeisterung war nicht nur in einem allgemein-religiösen Sinne bedrohlich für die konservative Familie der Rogers, sondern auch sehr konkret. Schließlich arbeitete die Firma seines Vaters, Bates & Rogers Construction Company, unter anderem auch für das Militär. In dem strengen Protestantismus, den sie lebten, stand weltlicher Reichtum und harte Arbeit als sichtbarer Beweis dafür, ein Gott gefälliges Leben zu führen. So lässt sich leicht erahnen, welchen Wirbel diese Briefe zu Hause auslösten. Aber egal, wie die Reaktionen zu Hause auch waren: Carl war weit weg von seinen Eltern, und sein religiöser und intellektueller Horizont weitete sich von Tag zu Tag, wie er schrieb. Die Diskussionen und Debatten waren intellektuell auf hohem Niveau, nie verletzend oder dogmatisch und gaben ein gutes Beispiel für eine neue und tolerante Zeit.

Rogers nutzte die drei Monate nach dem Ende der Konferenz, um zusammen mit anderen Studenten, Missionaren und China-Experten intensive Reisen zu weit verstreuten regionalen YMCA-Missionsstützpunkten im Landesinneren zu unternehmen. Es ist erstaunlich, davon zu lesen, dass der junge und „schüchterne“ Carl in diesem Kontext sehr souverän viele Reden und Ansprachen hielt und zahllose informelle Gruppentreffs mit Studenten und anderen erwachsenen Personen in China, Korea, Hongkong, Japan, den Philippinen und Hawaii durchführte. In einer gewissen Weise schien Carl als „Speaker“ mit diesen christlichen Missionstätigkeiten in seinem Element zu sein.

Bis zum Ende nutzte Rogers die Reise für intensive Eindrücke und Erlebnisse: In der letzten Nacht in Japan, unmittelbar vor der Abreise, während sich seine Reisegefährten längst zur Nachtruhe gelegt hatten, bestieg er den Fujiyama, um früh morgens atemlos auf dem Gipfel alleine mit sich und der Stille der Natur den gewaltigen Sonnenaufgang zu erleben. Ein wirkliches „Gipfelerlebnis“ in vielerlei Hinsicht.

Rückblickend beschrieb Rogers diese Reise als den idealen Kontext, um aus dem engen religiösen Glauben seiner Eltern auszubrechen und eine eigene spirituelle, intellektuelle und emotionale Unabhängigkeit zu erlangen. Es ist bemerkenswert, dass er während dieser Reise seinen Eltern treu und brav seine neuen Ideen und Gefühle in ausführlichen Briefen beschrieb. Darin kommt die offensichtlich noch immer enge Familienbindung Carls zum Ausdruck. Vermutlich kam darin aber auch ein religiöses Ehrlichkeitsdogma zum Tragen, das ihn eifrig darauf bedacht sein ließ, den Eltern nichts zu verschweigen. Der Biograph Brian Thorne spekuliert darüber, ob ihn diese innere Pflicht kurzfristig blind machte vor der Wirkung, die solche Briefe auf seine Eltern zwangsläufig haben mussten, oder ob er die Distanz und die zeitliche Verzögerung wissentlich nutzte, um sozusagen von einem sicheren Ort aus einen Konflikt zu riskieren (Thorne 1992: 4). Jedenfalls waren seine Eltern verstört und entsetzt darüber, dass ihr Sohn im Begriff war, sich für die moderne Theologie zu entscheiden, die sie für gefährlich und pervers hielten. Zu allem Übel konnten sie nicht gleich etwas dagegen unternehmen, und als ihre negativen Reaktionen schließlich Carl in China erreichten, war dieser in seinen neuen Überzeugungen schon zu gefestigt. Er gab später zu, dass dieser Prozess es ihm ermöglichte, so schmerzlos wie möglich mit den alten religiösen und intellektuellen Bindungen zu brechen, die sich auch als ausgesprochen stark hätten erweisen können. So aber fühlte sich Carl stark genug, seine eigene Anschauung und Begeisterung in der Studentenzeitschrift des YMCA im Juni 1922 zu veröffentlichen. Es ist seine erste öffentlich publizierte Schrift.

Die dramatische Erweiterung seines Erfahrungshorizontes durch die Gruppenreise in den Osten halfen Carl, sich von den Werten seiner fundamentalistischen protestantischen Herkunft zu emanzipieren. Die unterschiedlichen Reaktionen auf seine Briefe, die aufgebrachten und strafenden seiner Eltern und die verständnisvollen und unterstützenden von Helen, zeigten ihm klar die inhaltliche Richtung an, in die er sich verändern wollte. Er schreibt 1965 in einem autobiographischen Text dazu: „… vom Zeitpunkt dieser Reise an waren meine Ziele, Werte und Überzeugungen, ebenso wie meine Philosophie meine eigene“ (Kirschenbaum 1995: 5).

Carl Rogers

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