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Von der Theologie zur Psychologie

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Rogers hatte das „Union Theological Seminary“ in New York ausgewählt, weil es zu dieser Zeit „das liberalste im ganzen Land war und eine intellektuelle Führerschaft in der religiösen Bewegung innehatte“, schreibt er (Rogers 1961 / 1976, S. 23).

Die Flitterwochen waren sehr schön. Carl hatte Helen ein Handbuch über Sex geschenkt, „um zu demonstrieren, wie avantgardistisch ich in meinem Denken war“, wie er später in einem Beitrag über ihre Ehe schreibt. Dort schildert er, wie naiv beide in sexuellen Dingen waren, als sie ihre Ehe begannen, und wie sie dann in der ersten Krise langsam lernen mussten, über diese Dinge zu sprechen (Rogers 1972 / 1975, S. 29). Wie auch immer, das Paar kam sehr verliebt in New York an und wusste, dass es sich das Geld einteilen mussten, wenn es für drei Jahre reichen sollte. Sie hatten sich in einem kleinen Apartment im Westen in der 123. Straße eingemietet, das praktischerweise dem Union Seminary gegenüber und nicht weit weg von der Columbia University lag. Helen besuchte eine Künstler-Klasse in der Stadt und hörte ebenfalls einige Vorlesungen am „Union Theological Seminary“. Beide genossen ihr Zusammensein, das Großstadtleben von New York mit seinen Theatern, Museen, Galerien, dem „bohemian life“ im Greenwich Park und den vielen sozialen und kulturellen Veranstaltungen in vollen Zügen.

Das liberale und intellektuell anregende Lehrangebot am „Union Theological Seminary“ präsentierte ihnen mit Harry Emerson Fosdick die Sicht einer neuen, modernen, liberalen und diesseitsbezogenen Religion, die bereit war, von der Psychologie, der Philosophie und der modernen Pädagogik zu lernen. Die bevorzugten Themen von Fosdick waren die Gefahren, die von einer zu strengen und anspruchsvollen religiösen Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen ausgehen konnte. In diesen Veranstaltungen war Carl genau richtig! Fosdick hat später ein Buch veröffentlicht, dessen Titel auch von dem späten Carl Rogers hätte stammen können: ›On Being a Real Person‹ (1943). Er nahm darin viele Wertorientierungen und Ziele der humanistischen Psychologie vorweg, die sich erst 20 Jahre später artikulierten. Fosdicks Auffassung war, Menschen müssten zuerst lernen, sich selbst zu akzeptieren, und sollten ihr Leben nicht unerfüllbaren Idealen opfern. Die christliche Moral könne Menschen verkrüppeln. Diese Ansichten gefielen Rogers sehr gut!

Mit dem „Teachers Training College“ der „Columbia University Graduate School“ gab es ein Dozenten-Austauschprogramm, so dass Rogers auch Veranstaltungen in Psychologie, Pädagogik und Psychiatrie hören konnte und auf diese Weise auch von anderen Fachdisziplinen erfuhr, mit welchen Methoden diese in ihrer speziellen Aufgabe der Menschenführung arbeiteten. Das „Teachers Training College“ war die Hochburg der „progressive education“. Der bedeutendste Schüler und Mitstreiter von John Dewey lehrte und arbeitete hier: William Heard Kilpatrick, bei dem Carl Rogers studierte. Der „one million dollar professor“, wie er in einigen Schriften genannt wurde, war ein hervorragender Lehrer, der in seinen Lehrveranstaltungen den Studenten das Gefühl geben konnte, dass sie das Problem selbst durchdacht hätten. Er lehrte, dass „Respect for Personality“ die Wurzel der Demokratie darstelle. Als Mitstreiter von John Dewey entwickelte er die Projektmethode des lebendigen, praxisnahen und erfahrungsbezogenen sozialen Lernens. Die Bezeichnung „one million dollar professor“ hat den Hintergrund, dass Kilpatrick mit seinen Vorlesungen extrem viele Studenten anzog und über entsprechende Einnahmen aus Hörergeldern verfügen konnte. Während seiner Laufbahn hat er auf diese Weise 35 000 Studenten erreicht und beeinflusst. Er setzte als einer der ersten die Kleingruppenarbeit ein, um die soziale Dimension des Lernens zu verstärken und den Aspekt der persönlichen Begegnung in den Lernprozess mit einzubeziehen. Kilpatrick war Sohn eines Baptistenpredigers. Auch er wollte, wie Rogers zuvor, ursprünglich Prediger werden und verstand seine pädagogische Arbeit als säkularisierten Glauben, der sich in nützlichen und sozialen Taten für die Menschheit zu bewähren hat. Seine missionarische Authentizitätsforderung ist auf den jungen Studenten Carl Rogers gewiss nicht ohne Eindruck geblieben: „Wir lernen, indem wir uns verhalten, d. h. durch innere Haltungen und äußeres Handeln. Und daraus folgt, dass die Schule ein Ort sein muss, an dem gelebt wird, was gelernt werden soll; denn jeder lernt, was er wirklich und wahrhaftig lebt. Mit einem Wort, unsere Philosophie erweist sich als das Korrelat unserer Philosophie des Lebens“ (Röhrs 1977, S. 63).

Wirkliches Lernen ist demnach nur dieses Lernen, das innerlich angenommen werden kann und über das eigenen Lebenskonzept als konkrete Taten in die Lebensplanung eingehen kann. Die Projektmethode betont diesen Zusammenhang von Lernen, Erfahrung und Handlung, ein Lernkonzept, für das Rogers für den Rest seines beruflichen Lebens immer wieder neu eintreten wird.

Harold Ordway Rugg, ein in Europa leider nicht rezipierter Kollege und ebenfalls führender Sprecher der „progressiv education“, vertrat das Konzept der kind-zentrierten Schule. Er hatte während des Ersten Weltkriegs zusammen mit dem berühmten Psychologen E. L. Thorndike statistische Untersuchungen im Komitee für Personalfragen durchgeführt und für die Armee Instrumente entwickelt, die er später für die Entwicklung von Schülerprofilen nutzen konnte. Damit versuchte er die weitere Entwicklung der Schüler messbar zu machen. Er kam 1920 als Professor an das „Teachers Training College“, als die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte. Neben seinen statistischen Arbeiten hat er sich mit den „social studies“ einen Namen gemacht, mit denen er die künstliche Trennung der Fächer Geschichte, Politik, Wirtschaftslehre, Politik zugunsten eines übergreifenden Problem- und Sinnzusammenhanges aufhob. Seine Arbeitshefte und Textbücher ›Man and His Changing Society‹ fanden in vielen Schulen im Unterricht Verwendung. Es wurden rund zwei Millionen Exemplare davon verkauft. In der kind-zentrierten Schule betonte Rugg den Stellenwert der ästhetischen Bildung: Künstlerisches Gestalten, Musizieren, Theaterspielen, Werken, Sport und Gruppenerlebnisse wurden von ihm zur Förderung des sozialen Verstehens und des individuellen Selbstausdrucks eingesetzt.

In seinen Studien stellten sich für Carl praktische Fragen des menschlichen Lebens und anwendungsbezogene Aufgaben der Menschenführung integrativ und interdisziplinär. An seinem akademischen Lebenslauf waren die Disziplinen Theologie, Pädagogik, Psychologie und Psychiatrie beteiligt. Wäre da nicht das starke religiöse Engagement und der anspruchsvolle und wohlhabende familiäre Hintergrund Carls, so hätte er mit seinen Interessen und Neigungen auch Social Worker oder Lehrer werden können – zwei Berufe, die in den USA seinerzeit allerdings keine akademische Karriere ermöglicht hätten.

Als Rogers seine Studien am „Union Theological Seminary“ begann, wollte er Pfarrer werden. Um Geld zu verdienen, nahm er während des ersten Sommers eine Stelle als Leiter eines Programms für religiöse Erziehung (Religionspädagoge) an der protestantischen Kirchengemeinde in Vernon an und organisierte die „Sunday School Classes“ (Kindergottesdienst) und die Diskussionsgruppen für Jugendliche. Rogers war angesteckt von Deweys demokratischen und pragmatischen Auffassungen vom Lernen. Kinder sollten auch in der religiösen Erziehung der Kirche stärker durch praktische Aktivitäten und durch konkretes Tun und Handeln lernen als durch passives Zuhören in langen Predigten. Die reformpädagogischen Ideen von Dewey wollte er auch auf die Durchführung des Gottesdienstes angewendet wissen. Die Pfarrkinder sollten sich frei fühlen können, ihre Probleme und Nöte der Gemeinde darzulegen. „Wenn ihre wirklichen Probleme mit Sex zu tun haben, dann können wir sie nicht mit einigen religiösen Problemen über Gott abspeisen, nur weil das ‚religiös‘“ ist, so argumentierte er kämpferisch (Kirschenbaum 1979).

In dieser Zeit versuchte er auch seine idealistische Seite mit seinen wissenschaftlichen Neigungen, die noch immer aus seiner Zeit als Jungfarmer vorhanden waren, zusammen zu bringen. In Amerika lag zu dieser Zeit eine neue Wissenschaftsgläubigkeit in der Luft. Die Wirtschaft war aufgeblüht und hatte die Wissenschaften sozusagen mitgenommen. Von der bevorstehenden Weltwirtschaftskrise 1929 – 1931 war noch nichts zu spüren.

„War es, wissenschaftlich betrachtet, richtig, Babys Nähe und Hautkontakt zu geben, sie lange auf dem Arm zu halten, sie lange zu stillen? – Und wenn, wie lange genau?“; „Konnte die moderne Wissenschaft Gott beweisen?“; „Wie sollte die Erziehung der Kinder in diesen Zeiten besser organisiert werden?“ – überall tauchten solche Fragen in den Tageszeitungen auf und wurden von Experten beantwortet. Auch Rogers versuchte sich als ein schreibender Experte und Ratgeber. Schließlich gab es hier auch etwas zu verdienen, und er brauchte das Geld. Für 30 Dollar Honorar im „Journal of Home Economics“ schrieb er über religiöse und praktische Fragen des Alltags und versuchte sich als wissenschaftlich gebildeter Aufklärer.

Er hatte durch die Dozenten am „Union Theological Seminary“ und am „Teachers Training College“ jede Menge idealistische Unterstützung und Anregung. Deutlicher noch als in Deutschland und auf dem übrigen europäischen Festland, wo, bedingt durch Faschismus und durch den Zweiten Weltkrieg, die kulturellen Reformbewegungen erstickt wurden und abrissen, kann man in den USA an den Themen und an der Art, wie sie von diesen Dozenten damals vorgetragen und gelebt wurden, eine Kontinuität von der Reformpädagogik (vom Anfang des Jahrhunderts) bis zur Bewegung der humanistischen Psychologie und Pädagogik (in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren) erkennen.

Als ein eindrucksvolles Beispiel für diese Kontinuität mag hier, neben den bereits genannten Vertretern der „progressiv education“, Professor McGiffert von der Theologie genannt werden. Er war Mitte bis Ende der 1920er Jahre Rektor am „Union Theological Seminary“ und gab, nach Carls Berichten, in seinen Vorlesungen mitreißende Überblicke über die Geschichte der Philosophie und wusste zugleich auch, dass seine Studenten später in ihrer seelsorgerischen Praxis als Pfarrer mit den zentralen Themen des Lebens konfrontiert sein würden: dem Tod, der Geburt, der Ehe und der Partnerschaft, der Kindererziehung, der Verzweiflung in Familienkrisen, Krankheiten usw. Er empfahl deshalb, für diese Situationen auch die Schriften von Freud zu studieren und sich mit allen modernen psychologischen Kenntnissen und Methoden vertraut zu machen, um in solchen Situationen der Bedrängnis als Helfer und Seelsorger über ein breites Hilfeangebot verfügen und nicht nur Kirchenlieder anstimmen zu können.

Freud hatte 1909 zusammen mit Carl Gustav Jung und Sandor Ferenczi Amerika besucht und dort eine Vortragsreise unternommen, die seine Arbeit etwas bekannter gemacht hatte. Aber Freud in den 1920er Jahren bereits für die praktische seelsorgerische Arbeit zu empfehlen, war ungewöhnlich fortschrittlich. Erst durch die Immigration vieler Analytiker aus Nazi-Deutschland wurde die Psychoanalyse in den 1930er Jahren in den Vereinigten Staaten bekannt. Jedoch war die Psychologie als junge wissenschaftliche Disziplin in diesen Jahren bereits im Aufwind. Sie entwickelte Testverfahren, mit denen man menschliche Fähigkeiten und Motive messen konnte, und versuchte, menschliche Eignungen und späteres Verhalten prognostisch vorauszusagen. Die amerikanische Armee hatte solche Tests in ihren Rekrutierungsverfahren im Ersten Weltkrieg eingesetzt, die Industrie beauftragte 1921 die amerikanische Psychologenvereinigung, solche Tests auch für die Einstellungsverfahren von Bewerbern um Führungspositionen in der freien Wirtschaft zu entwickeln, es gab eine Reihe von interessanten Laborexperimenten mit Ratten und anderen Tieren, deren Lernverhalten beobachtet wurde usw. Kurzum, neben der Medizin, der Pädagogik und der Theologie meldete sich eine neue Wissenschaft mit interessanten Perspektiven und neuen Alternativen zu Wort.

Goodwin Watson, ein anderer Lehrer in Psychologie, bei dem Rogers studierte, war fasziniert von der Werbepsychologie und von der sich entwickelnden Marktforschung, die das Konsumverhalten der Menschen studieren und voraussagen wollten. Sein berühmter Namensvetter, der Psychologe John B. Watson, hatte die akademische Welt bereits verlassen und arbeitete für eine Werbeagentur. Er hielt abends Vorträge an der Columbia University und empfahl den Studenten, in einem Selbsttest ihre Stärken und Schwächen herauszufinden. Er verbreitete die Vorstellung, dass Psychologen, bevor sie anderen Menschen einen Rat geben könnten, zunächst ihre eigenen Probleme weitgehend aufgearbeitet haben sollten. Diese Vorstellung aus der Psychologie hatte sein Namensvetter Goodwin Watson am Union Seminary für die Gestaltung der seelsorgerischen Praktika übernommen. Die Arbeit dort bestand darin, dass Studierende vor allem an ihren persönlichen Problemen arbeiten sollten. Viele Studenten wohnten alleine, weit weg von zu Hause und hatten in der Tat Probleme. Schon lange bevor die Selbsterfahrungsbewegung in den 1960er und 1970er Jahren dann vehement über das Land hereinbrach, wurden hier bereits in den 1920er Jahren diese Ideen ausgesät und auch praktisch bearbeitet.

Rogers bedauerte nie seinen zweijährigen Aufenthalt am Union Seminary. Er lernte dort einige außergewöhnliche Lehrer kennen und nahm voll und ganz am Leben der Institution teil. Das Seminar war bewundernswert fortschrittlich in seinen Auffassungen vom Menschen und vom Lernen und kam auch den progressiven Erwartungen und Ambitionen der Studenten weit entgegen. Trotzdem: Rogers und einige Kommilitonen wurden zunehmend unzufriedener mit der Art und Weise, wie der Lehrstoff im Unterricht „ex cathedra“ angeboten wurde, und eine Gruppe von Studierenden reichte eine ungewöhnliche Anfrage bei McGiffert, dem Leiter des Union Seminary, ein. Neben Carl Rogers gehörte auch Theodore Newcomb, der später als Sozialpsychologe Karriere machte, zu dieser Delegation engagierter Studenten. Und auch für ihn muss das dann folgende hochschuldidaktische „Experiment“ von großem Einfluss gewesen sein. Der Antrag lief darauf hinaus, eine Seminargruppe ins Leben rufen zu dürfen, die ganz ohne Lehrer und ohne Unterweisung arbeiten sollte. Die Gruppe sollte sich ausschließlich mit den eigenen Fragen der Studenten beschäftigen können. Erstaunlicher war es, dass diese Bitte von der Collegeleitung tatsächlich gewährt wurde, wenn auch unter der Bedingung, dass ein junger Lehrerassistent während der Stunden anwesend sein und eine formale Aufsicht führen sollte. Es war aber klar geregelt, dass dieser nur sprechen durfte, wenn er von den Studierenden gefragt wurde. Von ihm sollte kein aktiver Beitrag und vor allem keine Beeinflussung oder gar Kontrolle ausgehen. Für Rogers und seine Mitstreiter brachte dieses führungslose, nicht-direktive Seminar viel Klarheit und neue Erkenntnisse. Vor allem die kontroversen und unzensierten, aber ehrlichen und authentischen Diskussionen der Studierenden untereinander hatten augenscheinlich eine befreiende und euphorisierende Wirkung. Ähnlich wie die Erfahrungen, die Carl auf seiner China-Reise sammeln konnte, wurden auch diese Gruppenerlebnisse am Union Seminary prägend für seine spätere nicht-direktive Arbeitsweise als Berater, Therapeut, Gruppenleiter und als Lehrer.

Die Teilnehmer an diesem besagten Seminar nutzten die gewährten Freiheiten jedenfalls intensiv. In ihrem Bestreben, alle Fragen wirklich offen und ehrlich zu erörtern, diskutierten sich einige aus dem normativen Bezugsrahmen, den die Theologie vorgab, für immer hinaus. Wieder wurde Rogers in ein kreatives Durcheinander geworfen. Später schrieb er, dass er sich damals allmählich bewusst wurde, dass seine Verpflichtung, sich für ein besseres Leben des Individuums und der Gesellschaft einzusetzen, sich nicht mit dem Bekenntnis zu einer spezifischen theologischen Doktrin vereinbaren ließ. „Es schien mir eine grässliche Vorstellung, sich zu einem Gefüge von Glaubensinhalten bekennen zu müssen, um im eigenen Beruf bleiben zu können. Deshalb wollte ich einen Arbeitsbereich finden, der mir die Freiheit der Gedanken ließ“ (Rogers 1961: 8).

Diese Beschreibung ist sicherlich nicht falsch. Sie zeigt aber nur die intellektuelle und abgeklärte Zusammenfassung eines natürlich viel komplizierteren und persönlich durchaus krisenhaften Suchprozesses, in dem Carl damals steckte. Die Entscheidung, die Studien- und Berufsrichtung zu wechseln, fällte er ja nicht einfach so, weil es vernünftiger schien. Vielmehr gab es eine ganz Reihe von konkreten Ereignissen, Erlebnissen und Konflikten, die seine Entscheidung, Psychologie zu studieren, stark beeinflussten und die ihn schließlich zwangen, eine berufliche Perspektive in der Kirche aufzugeben.

Rogers hatte im Sommer 1925 wiederum die Gelegenheit ergriffen, Geld zu verdienen und dabei konkrete praktische Erfahrungen zu sammeln. Er konnte in einer kleinen Stadt in Vermont eine Vertretung als Pastor übernehmen, was für ihn im Alter von 23 Jahren eine aufregende Erfahrung war. Er hielt elf Predigten in East Dorset und behandelte darin religiöse Fragen der Genesis im Lichte der Wissenschaft und der Evolutionstheorie Darwins. Bei allem missionarischen Engagement stellten sich auch erste praktische Zweifel ein: So fand er es schier unmöglich, eine Predigt zu halten, die länger als 20 Minuten dauerte. Üblicherweise dauerte zu dieser Zeit eine Predigt 40 – 60 Minuten. Infiziert vom Projektlernen und vom „learning by doing“ spürte er, dass die Menschen so lange nicht passiv zuhören konnten und wollten. Auch fühlte er sich nicht wohl dabei, anderen Menschen seine religiöse Überzeugung aufzudrängen. So war seine Situation zwiespältig. Die missionierende Arbeit in der Menschenführung erfüllte ihn allerdings trotzdem mit tiefer Befriedigung.

Die anderen Probleme kamen eher aus der praktischen seelsorgerischen Arbeit: Während seiner Besuche in den Familien kam er intensiv mit den sozialen Problemen und Nöten der Familien seiner Gemeinde in Berührung, die er als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener in seiner „religiösen und pädagogischen Provinz“ in Oak Park oder auf der „gentlemens farm“ seines Vaters nie zuvor erlebt hatte. Da gab es eine Alkoholikerfamilie, in der der Ehemann viele verschiedene Frauen mit nach Hause brachte. In einer anderen Familie wiederum lebte eine psychotische Frau, die sich und ihre Umwelt chaotisierte. In einer weiteren Familie war zuvor ein Familienmitglied an Krebs gestorben, und der Sohn tanzte im Raum neben der Leiche hysterisch lachend auf dem Tisch. Rogers war verstört und gestresst in seiner Rolle als Pfarrer und hatte keine Idee, wie er sich in solchen Situationen verhalten sollte. Schließlich musste ein Kollege aus der Nachbargemeinde einspringen, um das Begräbnis durchzuführen und der Familie in angemessener und würdiger Weise christlichen Trost zu spenden. Rogers war paralysiert. Um solchen Situationen gewachsen zu sein, musste er noch viel lernen.

Sein psychologisches Interesse wuchs. Auch hier taten sich zwiespältige Gefühle auf. Er fühlte sich unzulänglich und zugleich herausgefordert. Die Arbeit der praktisch helfenden Seelsorge erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung, wenn sie gelang. Es gab aber zu viele und zu ernste Situationen des Scheiterns und der Hilflosigkeit.

Als diese Zeit vorüber war, diskutierte er mit Helen auf der Rückreise nach New York die Frage, ob er immer noch eine Berufung für das Kirchenamt spüre. Carl hatte bereits starke Zweifel. Darüber hinaus war Helen schwanger und beide machten sich Sorgen über die weitere Zukunft. So kam er zu Beginn seines zweiten Jahres am Seminar mit erheblichen Unsicherheiten in das bereits geschilderte nicht-direktive Gruppenexperiment bei McGiffert.

Rogers’ Unzufriedenheit mit seinen theologischen Studien manifestierte sich schon während seines zweiten Jahres, und er fand einen Ausgleich, indem er zunächst am benachbarten Teachers College einige Kurse belegte und einen Spagat zwischen diesen beiden Welten probierte. Gleichzeitig hielt er noch immer seine Sonntagsschule ab und war in vielen praktischen Initiativen involviert.

Helen sah ihn in dieser Zeit wenig, und sie erlebten zum ersten Mal eine problematische Zeit in ihrer Ehe. Rogers bemerkte das zuerst daran, das Helen sich zunehmend zurückzog, wenn er mit ihr schlafen wollte. Sie gab vor, sich nicht wohl zu fühlen oder müde zu sein. Rogers war enttäuscht, fügte sich aber, weil die Lehrbücher der damaligen Zeit schrieben, dass Männer ein größeres Verlangen nach Sex haben als Frauen. Vor diesem Hintergrund meldete er sich als Proband für eine Untersuchung über sexuelles Verhalten bei G. V. Hamilton. Dieser brauchte für seine Studien noch Material von jungen Menschen, die bereit waren, über ihre Erfahrungen in Ehe und Partnerschaft zu sprechen, und er bezahlte dafür. Seine Arbeit über sexuelles Verhalten von Studierenden war natürlich auch für Rogers interessant, und durch die Befragungen wurde ihm selbst klar, dass er immer sehr selbstverständlich davon ausgegangen war, dass Sex für Helen genauso wichtig und befriedigend war wie für ihn selbst, und er erkannte plötzlich, dass er noch nicht einmal wusste, ob Helen Orgasmen bei ihrer Vereinigung erlebte oder ob sie diese nur vortäuschte. Diese Erkenntnis war ein Schock für Carl, der doch Helen so gerne seine aufgeklärten Ansichten über Sex zu Beginn ihrer Ehe demonstriert hatte. Rogers war traumatisiert und kam sich nun wie ein Versager vor. Schlimm genug empfand er es, dass er es nicht wusste, noch schlimmer aber, dass er nicht wusste, dass er es nicht wusste.

So begann er aufgeregt und ängstlich zu Hause ein klärendes Gespräch mit Helen. Er nannte es den „fightening process“, in dem er Helen alle Fragen stellte, die ihn beschäftigten, und alle Phantasien und Ängste aussprach, die er in der Beziehung zu Helen hatte. Auch Helen stieg mit ihren Fragen und Wünschen in dieses Gespräch ein, und sie nutzten die Krise, um alle Enttäuschungen, Leidenschaften, Tabus und Vorlieben voneinander zu erfahren. Die Offenheit und Vertrautheit, die diese Gespräche bewirkten, brachten beiden schließlich ihre Liebe und ihre Leidenschaft zurück.

Aber auch noch auf einer ganz anderen Ebene hatte diese Erfahrung bei Carl einen prägenden Eindruck hinterlassen: Psychologische Tests und solche Untersuchungen, so konnte er hier am eigenen Leib erfahren, waren augenscheinlich nicht „nur“ objektive wissenschaftliche Verfahren, die von den jeweiligen Testpersonen nur ein paar Daten „abgriffen“ und diese ansonsten aber unbeeinflusst zurückließen. Sie hatten durchaus auch einen Einfluss auf die Untersuchungsobjekte selbst. Carl hatte sich eigentlich „nur“ für eine wissenschaftliche Studie zur Verfügung gestellt und war dadurch innerlich in ein ziemliches Durcheinander geraten, was sich wiederum auch auf seine Beziehung zu Helen auswirkte.

So hatten sie ihre Krise mutig überstanden und fühlten sich durch ihre Gespräche näher und vertrauter als zuvor. Carl fand in der Bewältigung dieser Krise auch den Mut, seinen Eltern gegenüber den Konflikt einzugestehen, den er zunehmend mit seiner Berufsperspektive als Pfarrer und als Mann der Kirche spürte. Er wusste, dass sie mehr als enttäuscht sein würden, dass sie ihn wieder hänseln würden, dass er sich klein und nichtsnutzig vorkommen würde – und er hatte Angst davor. Sein Bruder Lester war inzwischen ein erfolgreicher Ingenieur in Vaters Firma. Er hingegen war nun 23 Jahre alt, verheiratet, seine Frau war schwanger, und er wusste immer noch nicht, was er beruflich anstreben wollte.

Schon hörte er die ganze Familie über ihn lästern: „Typisch Professor Moony!“ Allein die Vorstellung von dieser erneuten Familienauseinandersetzung ließen das Magengeschwür wieder aufbrechen. Und dies alles in der Zeit, als für Helen die Geburt ihres ersten Kindes anstand. Ihr Sohn David wurde am 17. März 1926 geboren. Das Ereignis war von Carls Krankheit überschattet. Trotzdem brachte er den Mut auf und schrieb seinen Eltern, dass er das Union Seminary verlassen und nicht in den Dienst der Kirche eintreten werde. Er rechnete zwar mit neuem Ärger in der Familie, war aber über die Dramatik der folgenden Ereignisse erschüttert.

Weil er eine Aussprache mit seinen Eltern wollte, um ihnen seine Situation zu erklären und um ihr Verständnis und ihre Zuneigung zurückzugewinnen, suchte er zur Behandlung seines Magengeschwürs nicht in New York eine Klinik auf, sondern fuhr mit Helen und dem Baby zur 2000 Meilen entfernten Mayo-Klinik in Minnesota, in der er früher schon einmal behandelt worden war und die nicht sehr weit von Chicago entfernt war. Er wollte, dass seine Eltern ihn, Helen und das Enkelkind David dort besuchen sollten. Helen mietete sich mit dem Säugling in einem Zimmer in der Stadt ein. Aber niemand von der Familie Walter und Julia Rogers erschien. Vater und Mutter konnten ihm seine Entscheidung, nicht Pfarrer zu werden, nicht verzeihen und reagierten abweisend und bestrafend. Sie hatten sogar Carls Geschwistern verboten, Helen, Carl und David zu besuchen.

Es ist für das Familienklima kennzeichnend, dass die Wagenburgmentalität aus der Zeit der Pioniersfamilien in der Tat auch in dieser Situation funktionierte und sich so Carls gesamte Familie seinen Bemühungen um eine Annäherung verweigerte. Für Carl war dies ein weiterer Beweis für die Unmenschlichkeit der christlichen Moral, die in seinem Elternhaus so hochgehalten wurde. Verbittert wie seine Eltern waren, ignorierten sie seine Krankheit, das neugeborene Enkelkind David und die erheblichen Anstrengungen, die Helen und Carl auf sich genommen hatten, um unter diesen schweren Bedingungen ein Familientreffen möglich zu machen.

Ein weiteres Ereignis später im Jahr machte die Entscheidung endgültig perfekt, das Berufsziel des Pfarrers aufzugeben: Direkt nach der zweiten Operation im August, in einem alles in allem sehr schweren Jahr, musste Carl wieder die Kasse auffüllen, und statt Urlaub veranstaltete er zusammen mit Helen einen Workshop über Ehe und Sexualität im Rahmen eines christlichen Sommer-Camps in Colorado. Sie hatten David bei Helens Eltern zurücklassen können und traten als Paar und Gruppenleiter auf. Das Thema des Workshops legte es nahe, dass sie auch die Fragen aus Hamiltons Untersuchung benutzen wollten, mit denen das Paar Helen und Carl in der eigenen Beziehung ja bereits positive Erfahrungen gemacht hatte. Aber weit gefehlt! Die anderen Helfer des Camps waren empört, dass solche „schmutzigen“ Fragen in diesem Kreis gestellt werden sollten und verweigerten die Mitarbeit. Für Carl und Helen war dies ein weiterer Beweis dafür, dass die Kirche und die organisierte Religion zu rigide waren, um in ihr lebenslänglich arbeiten zu können.

Wenn man sich vor Augen führt, dass diese Auseinandersetzung Mitte der 1920er Jahre in einem puritanisch und konservativ protestantisch geprägten Amerika und lange vor der Zeit der sexuellen Aufklärung in den 1960er Jahren stattfand, dann kann man etwas von dem progressiven Elan erfassen, der in dieser Zeit als Lebensreformbewegung viele Menschen bereits berührt hatte und der im 20. Jahrhundert zu verschiedenen Zeiten immer wieder durchbrach – am intensivsten in den 1960er Jahren, in denen Carl Rogers als Mitsechziger mit der Hippie- und Studentenbewegung plötzlich von ähnlichen Reform- und Aufbruchsstimmungen umgeben war.

Carl Rogers

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