Читать книгу Einführung in die religiöse Erwachsenenbildung - Reinhold Boschki - Страница 20

FLÜCHTIGE GESELLSCHAFT, FLÜCHTIGE MODERNE

Оглавление

Zeit und Raum getrennt

Die Gesellschaft, in der wir leben, kann in Erweiterung des Theorems der sozialen Beschleunigung als „flüchtige Gesellschaft“, unsere Epoche als „flüchtige Moderne“ bezeichnet werden – Termini, die der Soziologe und Sozialanalytiker Zygmunt Bauman den Begriffen „Post-“, „Nach-“ oder „Spätmoderne“ vorzieht (Bauman 2011, 2008, 2003). Denn mit dem Adjektiv „flüchtig“ werden die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer zeitlichen Qualität charakterisiert und nicht nur in ihrer zeitlichen Zuordnung zu früheren Epochen („nach“, „spät“). Dabei überschattet ein bestimmtes Merkmal alle gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Jahrzehnte: „die veränderte Beziehung zwischen Zeit und Raum“ (Bauman 2003, S. 15). Seit den Anfängen der Moderne treten Zeit und Raum mehr und mehr auseinander (ebd., S. 131ff.). Durch die Erfindung der Geschwindigkeit und ihrer atemberaubend zunehmenden Beschleunigung werden zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Raum und Zeit zu unabhängigen Kategorien. War in der Vormoderne der Aktionsradius noch durch die Kapazität des Wanderers oder höchstens des Reiters begrenzt, wird Mobilität in der ausgehenden Moderne ein Grundthema. Die Eroberung des globalen Raums entgrenzt die Möglichkeiten, sich an vielen Orten fast gleichzeitig zu bewegen, wobei die grenzenlosen Kommunikationstechnologien diesen Prozess nachhaltig unterstützen. Zunächst treten Arbeit und Wohnort, Beruf und Familie auseinander. Mobilität und Flexibilität werden zu Grundstichworten des ökonomischen Systems der Nachmoderne (Sennett 2010, auf den sich Bauman explizit bezieht). Nicht mehr Territorialität oder Sesshaftigkeit kennzeichnen die menschliche Existenz der westlichen und zunehmend auch der asiatischen und lateinamerikanischen Industriegesellschaften, sondern das Heimatlose, das Nomadische. Der Nomade wird zur Urmetapher einer Moderne, die mehr und mehr als „flüchtig“ bezeichnet werden kann. Die Folge der Ökonomisierung der gesamten Alltagswelt (objektive, beschreibbare Lebensbedingungen), aber auch der Lebenswelt der Menschen (subjektive Deutung der umgebenden Welt und der eigenen Erfahrungen) ist eine radikale Demontage aller gewohnten sozialen Verhältnisse und Beziehungen. Die soziale, technische und wirtschaftliche Beschleunigung hat eine nie dagewesene Zeitdimension des neuen Kapitalismus zur Folge: Kurzfristigkeit! Nichts ist mehr auf Dauer angelegt. „Nichts Langfristiges“ wird zum Signum unserer Tage, die dem „Regime der kurzfristigen Zeit“ (ebd.) unterworfen sind. Arbeitsverträge werden möglichst nur noch auf (kurze) Zeit abgeschlossen, Konsumprodukte sollen rasch wieder durch neue ersetzt werden, Moden und Lebensstile sollen sich gegenseitig jagen, aber ja nicht länger verweilen. Der Markt diktiert den sich immer weiter beschleunigenden Lebensrhythmus.

Diese neue „Mentalität der kurzen Dauer“ (Bauman 2003, S. 173) und „gezielte Kurzfristigkeit“ (ebd., S. 15) macht Zygmunt Bauman als Ursache für tiefgreifende Veränderungen des sozialen Zusammenlebens aus, weshalb er das Stichwort der „flüchtigen Moderne“ (liquid modernity) als Grundsignatur bzw. Schlüsselmetapher unserer Zeit einführt. Die „flüchtige Moderne“ stellt alles Bisherige in der Kulturgeschichte der Menschheit in den Schatten; sie ist keine Leitperspektive für menschliches Handeln, sondern eine „negative Utopie“ (ebd., S. 23) zur Gegenwartsbeschreibung. Beispielsweise sind Kultur und kulturelle Güter im Grunde auf Dauer angelegt, sind sie doch die Boten der Vorfahren für ihre Nachwelt. Die heutige Kurzlebigkeit der flüchtigen Moderne indes hinterfragt unser Kulturverständnis, unterwirft Kultur dem ökonomischen System und lässt nur noch gelten, was kurzfristig von Nutzen ist.

Kurzlebigkeit der Lebensverhältnisse

Auch die Lebensverhältnisse passen sich der ökonomisch geforderten Kurzlebigkeit an und werden flüchtig. Die in allem geforderte kurze Dauer hat eminente Auswirkungen auf die Struktur menschlichen Zusammenlebens, das durch Zerfall und Abbau menschlicher Bindungen und Gemeinschaften gekennzeichnet ist. Beziehungen werden wie schnelllebige Konsumartikel gehandhabt (ebd., S. 193), Partnerschaften können als kurzfristige Bedürfnisbefriedigungen eingekauft werden. Für Beziehungen gibt es die Möglichkeit des Schnupperkaufs mit Rücknahmegarantie bei Nichtgefallen. Bauman malt in seiner Gesellschaftsanalyse ein erschreckendes Schattenbild an die Wand, nämlich dass „das Ende der Definition des Menschen als eines sozialen Wesens“ (ebd., S. 31) erreicht wurde. Alle sozialen Gewebe, die bislang natürlicherweise bestanden, sind dabei, sich aufzulösen und müssen von uns neu und in eigener Verantwortung („in Heimarbeit“) selbst hergestellt werden.

Das Auseinandertreten von Zeit und Raum bedeutet für das Individuum grundlegende Veränderungen des Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zur Welt, in der es lebt: Konsequenz dieser Prozesse sind Ungewissheit, Instabilität, Verletzlichkeit (ebd., S. 189ff.). Unsicherheit der sozialen Existenz (aufgrund ständiger ökonomischer Veränderungen) fördert Unsicherheit in persönlichen Beziehungen und sozialen Gemeinschaften. Unsicherheit wird zum Dauerzustand (ebd., S. 162), die Bodenhaftung (ebd., S. 21) geht verloren (vgl. Bauman 2008).

Einführung in die religiöse Erwachsenenbildung

Подняться наверх