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Kapitel 26

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Die Nacht, in der sie floh, folgte einem stürmischen Tag mit vielen Schauern.

Der Lärm der im Wind klappernden Fensterläden machte es schwierig zu schlafen. Sie hatten sich in seinem Gemach geliebt. Maksim war eingeschlafen, doch Rodica blieb wach. Gedanken jagten ihr durch den Kopf. Sie wollte nicht fortgehen, aber sie musste. Sie wollte ihn nicht hintergehen, doch es blieb ihr nichts anderes übrig.

Sie betrachtete ihn lange und unverwandt, prägte sich seine Gesichtslinien ein, die kurzen Haare, die dunklen Augenbrauen und den muskulösen Körper. Ihre Finger fuhren zärtlich über seine Stirn und Wangen, hinunter zu seinem Hals und seinen kräftigen Armen.

Maksim seufzte im Schlaf und zog sie fester an sich. Sie legte den Kopf an seine Schulter. Es fiel ihr schwer, das Zittern und ihre Tränen zu unterdrücken. Vielleicht war dies die letzte Nacht, die sie jemals miteinander verbringen würden. Vielleicht würde sie in den Bergen umkommen oder Sklavenjägern in die Hände fallen und nie wieder zurückkehren. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Sie befahl sich, nicht in Wahnvorstellungen zu verfallen. Sie würde zum Haus des Bundes der Ewigen gelangen und zu Maksim zurückkommen, wenn sein Kind nicht mehr in Gefahr war, getötet zu werden!

Irgendwann verfiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie kurz vor Sonnenuntergang abrupt und mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust erwachte. Morgen um diese Zeit würde sie nicht mehr da sein und Maksim sich fragen, was mit ihr war. Sich Sorgen machen.

Ihr Herz wurde schwer. Ich liebe dich, Maksim, und ich werde dich immer lieben, sagte sie in Gedanken zu ihm und strich ihm wieder sanft über die Stirn.

Er seufzte und murmelte etwas.

Sie musste los. Die Feldarbeiter verließen die Festung mit Sonnenuntergang. Leise erhob sie sich.

»Was ist?«, hörte sie ihn schlaftrunken fragen.

»Schlaf weiter, Liebster. Die Sonne geht gleich unter, die anderen werden schon auf mich warten.«

Sie beugte sich über ihn, küsste ihn sacht. Er griff nach ihr, der Kuss wurde besitzergreifend. »Ich liebe dich«, flüsterte sie, als sie sich von ihm löste. Sie befahl sich, für ihr Kind stark zu sein, und wagte es nicht, lauter zu sprechen, denn ihre Stimme klang vor Leid heiser. »Vergiss nie, dass ich dich liebe.«

»Wie könnte ich das vergessen?« Er beobachtete, wie sie sich anzog, das Kleid, den Umhang, die schweren Stiefel. »Am liebsten würde ich dich gleich wieder ausziehen.«

Sie küsste ihn ein letztes Mal und sagte: »Schlaf noch ein wenig, Liebster.« Gehorsam schloss er die Augen, ein leises Lächeln auf dem Gesicht. Mit einem tränenverhangenen Blick auf Maksim wandte sie sich ab, zog die Tür auf und verließ ihren Geliebten, die Hand auf den Leib gelegt, in dem sein Kind heranwuchs.

In der zweiten Nachthälfte begann es in Strömen zu regnen. Rodica, der das Herz bis zum Hals klopfte, deutete den Regen als Zeichen der Götter, dass sie ihrer Flucht wohlgesonnen waren.

Am frühen Morgen brachte sie den Haufen Unkraut, den sie ausgerissen hatte, zum Feldrand. Sie hatte sich am äußersten Ende der langen Arbeiterkette postiert. Die Krieger befanden sich auf der anderen Seite des Feldes und waren in der Dunkelheit und dem Regen kaum zu erkennen.

Sie ließ das Grünzeug fallen. Wasser rann über ihr Gesicht. Die Arbeiter kümmerten sich nicht um sie. Sie waren bemüht, so schnell wie möglich fertig zu werden, um in die trockene Festung zurückzukommen.

Sie holte tief Luft. Noch konnte sie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Zu Maksim zurückkehren. Nein, sie musste gehen, um das Leben ihres Kindes willen! Zögernd tat sie einen Schritt zum Wald, dann noch einen und noch einen, ein Schritt folgte dem nächsten, schneller und schneller, bis sie rannte. Der Spurt zu dem hohlen Baum schien ewig zu dauern. Dann hatte sie ihn erreicht, und zerrte hastig den Reisebeutel mit den Nahrungsmitteln und dem Lederschlauch heraus, stopfte das frische Brot hinein, das sie vor dem Verlassen der Festung aus der Küche geholt und in ihrer Kitteltasche versteckt hatte. Ein zögernder Blick zum Feld. Noch konnte sie zurückkehren, sagen, sie hätte sich im Wald nur erleichtert.

Nein! Weiter! Sie rannte los und brach plötzlich aus dem Wald, war am Seeufer angelangt, lief um die Landspitze. Dort, der Bach! Sie hielt keuchend inne und lauschte. Außer dem Rauschen des Regens war nichts zu hören.

Entschlossen sprang sie in den Bach, überrascht, wie tief er war. Das eisige Wasser schwappte in ihre Stiefel. Die Strömung, unerwartet stark, zog an den Beinen. Schwankend watete sie den Wasserlauf hinunter, rutschte auf den glatten Kieseln im Bachbett aus, hielt sich aber aufrecht. Ab und zu blieb sie stehen und lauschte, hörte aber nur den Regen und das Gurgeln des Baches. Ihr Herz raste und ihr Atem ging vor Aufregung und Anstrengung keuchend.

Nun gab es keine Ausrede mehr, falls man sie stellte. Sie war auf der Flucht.

Sie hatte aus gutem Grund bis zum frühen Morgen gewartet, konnten die Vampire sie doch bei Tageslicht nicht verfolgen. Falls sie ihre Flucht schon bemerkt hatten, mussten sie die Verfolgung bald abbrechen.

Hektisch stapfte sie voran. Ihre Füße waren im kalten Wasser taub geworden. Sie war durchnässt, denn ihr schwerer Umhang hatte den Regen nicht abgehalten. Aber sie beachtete diese Unannehmlichkeiten nicht, sie wollte nur weiter, wollte so viel Entfernung zwischen sich und die Festung bringen wie möglich.

Als der Regen endlich nachließ, hörte sie in der Ferne das befürchtete Gebell der Hunde und die Rufe der Jäger. Ihre Flucht war entdeckt! Panisch sah sie sich um. Sie musste sich verstecken!

Die alte Eiche kam wie gerufen. Hastig ergriff sie einen der dicken Äste, die über dem Bach hingen, und kletterte über ihn nach oben in die Krone des Baumes, wo sie sich an den nassen Stamm klammerte. Über den Berggipfeln sah sie zu ihrer großen Erleichterung die erste Morgenröte, ein intensives gelbes Licht, das durch die Regenwolken brach und sie rot färbte. Sie flehte die Götter an, den Sonnenaufgang zu beschleunigen.

Wieder hörte sie Gebell, aber es erschien ihr leiser als vorher. Jemand rief und pfiff. Auch das klang gedämpfter. Sie stieß erleichtert die Luft aus, die sie angehalten hatte. Die Jäger kehrten zur Festung zurück.

Erst als die Sonne hoch am Himmel stand, wagte sie sich vom Baum hinunter in den Bach und öffnete den Umhang, damit die warmen Strahlen ihre Kleidung trockneten. Sie hielt jedoch nicht inne, watete eilig im Bachbett entlang. Bis zur Nacht musste sie weit weg sein!

Um die Mittagszeit setzte sie sich auf einen Felsen in der Bachmitte, trank etwas Wasser und aß einige Nüsse. Sie legte eine Hand auf den Bauch. »Wir schaffen das, wir zwei«, flüsterte sie. »Wir gehen zum Haus des Bundes der Ewigen, du und ich.«

Sie rastete noch ein wenig, dann stapfte sie weiter. Die Sonne wanderte über den Himmel und senkte sich schließlich über den Gipfeln zur Erde.

Sie musste ein Versteck für die Nacht finden. Am Ufer sah sie eine Buche, deren Äste tief hingen. Sie stapfte hin, ergriff einen Ast und zog sich auf ihn. Der Ast knackte, aber er hielt. Sie balancierte zum Stamm und kletterte nach oben, wo sie einen breiten Ast fand, auf dem man sie vom Boden aus nicht sehen konnte. Aufatmend lehnte sie den Rücken an den Stamm, trank aus dem Lederschlauch und aß ein wenig Trockenfleisch und Käse. Ihr war übel und so zwang sie nur das Notwendigste an Nahrung in sich hinein.

Nach dem Essen schloss sie die Augen und versuchte, sich etwas auszuruhen. Das schlug gründlich fehl. Sie war angespannt, dachte an die Hunde und die Jäger, zuckte bei jedem Geräusch, das aus dem Wald kam, zusammen. Der Schrei eines Uhus. Ein Tier, das durch Gebüsch brach. Aber keine Rufe, kein Gebell und kein Hufschlag.

Am nächsten Morgen weckten sie die warmen Strahlen der Sonne. Sie lauschte nach Verfolgern, hörte aber außer dem Gesang der Vögel nichts. Nach einem Mahl aus Nüssen, Wasser und Brot watete sie weiter.

Jetzt, wo die Angst vor ihrer Gefangennahme nachließ, wanderten ihre Gedanken zu Maksim. Ihre Hand berührte die silberne Kette. Wie es ihm wohl erging? Was hatte er gedacht, als er von ihrer Flucht erfuhr? Ihr Herz verkrampfte sich. Er würde es nicht verstehen, wusste er doch nicht, dass sie guter Hoffnung war. Er würde vielleicht sogar denken, dass sie ihn ausgenutzt hatte, dass ihre Liebe nur vorgespielt gewesen war!

Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. »Oh, Maksim!«, schluchzte sie. »Ich liebe dich doch!« Wieso hatte sie ihm keine Erklärung auf einem Stück Pergament hinterlassen? Würde sie ihn jemals wiedersehen? Falls ja, würde er ihr verzeihen? Sollte sie nicht doch zurückgehen? Die Strafe für die Flucht auf sich nehmen, damit sie bei ihm sein konnte? Sollte sie wirklich weitermachen? Es war der Gedanke an ihr Kind, der die Tränen versiegen ließ. Ja, wäre sie nicht guter Hoffnung gewesen, hätte sie kehrtgemacht. Aber das konnte sie nicht, nicht, wenn man Maksims Kind töten würde! Schließlich spritzte sie sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und konzentrierte sich auf ihre lange Reise durch die Berge, die gerade erst begonnen hatte.

In der nächsten Nacht hörte sie in weiter Ferne Gebell und Rufe. Sie betete zu den Göttern, dass ihre Verfolger nicht näherkamen. Die Geräusche vergingen. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie ihre Verfolger hören sollte. Am Tag darauf setzte sie ihren Weg am Ufer anstatt im Bach fort, da das Wasser zu tief geworden war, um darin zu waten. Nun kam sie schneller voran und stand am späten Nachmittag auf einem Bergrücken, unter sich ein Tal, in das der Bach als Wasserfall stürzte und sich dort weiter schlängelte. Es gab im Tal keinen Wald und sie beschloss, auf einem der Bäume hier oben zu nächtigen.

Nicht weit von ihr wuchs eine knorrige Eiche, die sie erkletterte. In der Baumkrone fand sie zwei nebeneinander wachsende Äste, auf denen sie leidlich bequem saß. Durch die Blätter sah sie den Himmel und nach Sonnenuntergang die Sterne. Nach einem Essen aus dem langsam hart werdenden Brot und Käse döste sie ein.

Stimmen rissen sie wenig später aus ihrem erschöpften Schlummer. Ihr Herz klopfte. Sie war nicht mehr allein! Vorsichtig lugte sie nach unten. Es waren Menschen, keine Vampire, die nahe der Eiche haltmachten. Ein Mann und eine Frau. Sie trugen einfache verschmutzte Kleidung und Reisebündel.

»Keine Höhle, um uns zu verstecken!«, keifte die Frau. »Du und deine Pläne! Von wegen ›ich kenn’ mich hier aus‹! Wir haben uns verlaufen und wir haben kein Versteck!«

»Jetzt kreisch’ nicht so rum!«, knurrte der Mann. »Deswegen sind wir doch aus dem Tal hier hochgeklettert! Damit wir Gefahren von Weitem erkennen können!«

»Ach ja? Aber auf die Idee, dass die Gefahr hier im Wald lauert, kommst du nicht, oder?«

Der Mann warf sein Bündel auf die Erde. »Blödsinn«, sagte er. »Hier ist es einsam. Es gibt keine Vampire hier.«

»Woher willst du das wissen? Aber egal, wir verhungern ja sowieso! Weil du den Rest unseres Proviants vertilgt hast!«

»Stell dich nicht so an! Dann essen wir eben Beeren oder so was.«

Rodica zog vorsichtig den Kopf zurück. Sie würde sich nicht zu erkennen geben. Der Mann und die Frau hatten sich verirrt und nichts Besseres zu tun, als nachts im Gebiet der Stämme lauthals zu streiten. Sie hielt still, versuchte, sich nicht zu bewegen, damit die beiden nicht auf sie aufmerksam wurden. Doch die waren viel zu beschäftigt mit ihrem Streit. Rodica erfuhr, dass sie nach Insan, einer der Städte nördlich des Qanicengebirges, wollten. Dass der Mann ein Versager und Säufer war. Dass ihre Mutter sie vor ihm gewarnt hatte. Die Frau wiederum, so der Mann, sei nur hinter seinem Gold her gewesen. Könne nicht haushalten, weswegen sie ebendieses Gold und ihr kleines Feld verloren hätten.

Die Frau schnaubte verächtlich. »Du hast das Feld versoffen, gib es doch zu! Und welches Gold willst du denn gehabt haben?« Sie lachte schrill auf. »Glaube mir, wenn es in unserem Weiler einen Kerl mit Gold gegeben hätte, würde ich jetzt nicht hier mit dir sitzen!«

»Ach ja?! Aber sich wie eine Klette an mich zu hängen, um nach Insan zu gelangen, dazu bin ich gut genug!«

»Du bist doch nur auf die Idee mit Insan gekommen, weil meine Schwester da wohnt! Mal abgesehen davon, dass du keinen blassen Schimmer hast, wo wir sind. Einfach dem Fluss folgen. So ein Blödsinn! Sieht das Rinnsal da wie ein Fluss aus?«

»Das hat der Fährtensucher aus der wandernden Siedlung gesagt! Fährtensucher kennen sich aus!«

»Fährtensucher schon. Du nicht.«

Der Mann knurrte etwas Unflätiges und nahm sein Bündel wieder auf. »Los, lass uns weiter in den Wald hineingehen. Da suchen wir uns ein Versteck.«

Die Frau schimpfte vor sich hin, als sie ihm folgte und aus Rodicas Blickfeld verschwand.

Rodica starrte den beiden hinterher, bis der Wald sie verschluckte. Bäche und Flüsse waren natürliche Wegweiser. Sie war nicht die Einzige, die diese Wegweiser nutzte, das ging ihr jetzt auf. Sie musste vorsichtig sein. Diese beiden hätten ihr vielleicht ohne Gewissensbisse ihre Vorräte abgenommen.

Sie wollte sich gerade schlafen legen, als ein Schrei sie hochfahren ließ. Er war aus der Richtung gekommen, in die der Mann und die Frau verschwunden waren. Angestrengt versuchte sie, durch das düstere Dickicht der Blätter zu sehen, konnte aber nichts erkennen. Dann, zu Rodicas Entsetzen, ertönten Rufe und Hufschlag, die sich rasch näherten. Jemand brüllte: »Halt sie fest!«

»Nein, bitte! Bitte nicht!« Der Aufschrei einer Frau. Höhnisches Gelächter war die Antwort. Die Frau schrie wieder. Dann brachen die Schreie ab. Sie hörte abgehacktes Schluchzen.

Rodica klammerte sich verängstigt an den Stamm der Eiche, versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Nach einiger Zeit, in der nur das Wimmern der Frau und lustvolles Stöhnen zu hören waren, johlten Männer. Jemand befahl, man solle die beiden festbinden. Dann hörte sie Hufschlag, der sich entfernte. Es wurde still.

Sie lehnte zitternd die Stirn an die kühle Rinde des Baums, schloss die Augen, konnte aber nicht mehr schlafen. So lauschte sie auf die Geräusche der Nacht, ohne, dass sie noch etwas hörte, was auf die Anwesenheit von Vampiren oder Menschen schließen ließ. Als die Sonne die Welt um sie endlich erhellte, kletterte sie hastig vom Baum und lief im Schutz von Büschen und Bäumen ins Tal hinunter. Dort verfiel sie in Laufschritt, um die freie Fläche im Talgrund so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie musste in der Nähe des Baches und später des Flusses bleiben, aber sich gleichzeitig vor anderen Reisenden verstecken. Hätte sie sich dem Mann und der Frau zu erkennen gegeben, wären ihr nicht nur die Vorräte abgenommen worden, nein, schlimmer, ihr hätte das Schicksal der Frau geblüht. Sie würde auf dieser Reise niemandem außer sich selbst vertrauen.

Sie erlangte rasch Reiseroutine. Wann immer sie konnte, nächtigte sie auf Bäumen oder in Dornendickichten, aber niemals in Höhlen, denn die wurden, wie sie von Maksim wusste, von reisenden Vampiren genutzt, um Schutz vor der Sonne zu finden. Sie hatte es sich angewöhnt, regelmäßig stehen zu bleiben und zu lauschen, um sicherzustellen, dass sie nicht unvermutet auf andere Reisende traf. So umging sie zwei Gruppen von Menschen, Gestalten in abgerissenen Kleidern und mit eingefallenen Gesichtern, die sich nordwärts quälten.

Als der Bach in den Fluss mündete, traf sie auf einen schlammigen Weg mit unzähligen Stiefel- und Hufabdrücken. Es war mühselig, ihn zu umgehen, ohne den Fluss zu verlieren. Einmal bewegte sie sich auf der Kante einer Hochebene, in die der Strom eine tiefe Schlucht gegraben hatte. Der Weg hatte sich zu einem schmalen Streifen zwischen dem Wasser und den mit Efeu und Moosen bewachsenen Felswänden verjüngt. Wäre sie ihm gefolgt, hätte sie anderen Reisenden nicht ausweichen können. Also war sie nach oben geklettert. Die Hochebene erwies sich als felsiges Plateau mit vielen Spalten, aus denen vom Wind gebeutelte Sträucher wuchsen, und über die man sich zwar vorsichtig zu Fuß, aber nicht zu Pferd bewegen konnte. Sie bezweifelte, dass jemand hier unterwegs war. Trotzdem war sie froh, als sich die Schlucht kurz vor Sonnenuntergang zu einer bewaldeten Ebene zwischen den Bergen weitete, denn das Klettern über die vielen Spalten war anstrengend. Sie stieg nach unten, wo sie sich für die Nacht ein Versteck im Wald suchen wollte.

Sie sprang von dem letzten Felsblock hinab auf den Weg, da hörte sie hinter sich einen Mann sagen: »Heute Nacht schaffen wir es bis zur Yarasa-Höhle. Dann noch sieben oder acht Tagesritte bis ins Niemandsland. Sattelt die Pferde, wir ‒.« Die Stimme verklang.

Rodica wirbelte herum. Ihr stockte der Atem. Sie war vor einer Höhle, einem düsteren Loch im Felsen, auf den Weg abgestiegen! Am Höhlenausgang, geschützt vor den Strahlen der Abendsonne, standen fünf Vampire, die sie genauso verdutzt anstarrten wie Rodica sie. Ihre Kleidung, aus Leder und Fellen, war verschmutzt, die Haare hingen ihnen lang in die Augen. Keine Krieger, sondern Wegelagerer. Oder Sklavenjäger.

Rodicas Schreckensstarre löste sich. Zum Wald, das war ihre einzige Chance! Solange die Sonne noch schien! Sie raste los.

»Hinterher! Los, macht schon!«, hörte sie einen der Vampire brüllen.

Sie schoss den Weg hinunter. Die Bäume kamen so unendlich langsam näher! Sie warf einen Blick über die Schulter und keuchte entsetzt auf.

Einer der Vampire hatte sich auf ein Pferd geschwungen und galoppierte ihr nach.

»Nein!« Die Verzweiflung ließ sie noch schneller rennen, doch da war das Pferd bereits neben ihr und eine kräftige Hand ergriff sie am Arm. »Hierher, Schätzchen!«

Rodica schrie auf und biss in die Hand. Sie schmeckte Dreck, Schweiß und Blut auf der Zunge. Ihr Magen revoltierte.

Der Vampir brüllte und ließ sie los.

Sie fiel zu Boden, rappelte sich auf und raste zum Wald. Das Pferd war weiter galoppiert. Der Vampir krümmte sich und schrie wieder gepeinigt auf.

Rodica rannte zwischen die Bäume, hielt an und sah hektisch zurück. Das Pferd lief in einem Bogen zur Höhle. Nur dieser eine Vampir war ihr gefolgt. Er schlug sich eine Hand vor die Augen und riss sich mit der anderen das Hemd vom Leib, als bereite es ihm Höllenqualen. Schreiend vor Schmerzen verschwand er in der Höhle. Rodica verstand. Die Sonne hatte ihren Verfolger verbrannt. Seine Kumpane hatten sich wegen ihr erst gar nicht hinausgetraut.

Mit wild schlagendem Herzen drang sie weiter in den Wald ein. Sobald die Sonne verschwunden war, würden die Vampire sie suchen. Wo sollte sie sich verstecken? Dort, wo ihr kein Pferd folgen konnte!

Sie preschte durch die Bäume und Büsche zu den Felsen, begann, sie emporzuklettern, zurück zu dem Hochplateau, auf dem sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war. Sie rutschte ab, krallte sich an einem Strauch fest. Sie musste weiter, nach oben! Die Sonne schien noch, als sie sich über die Felskante auf das Plateau zog und weiter hastete. Nachdem die letzten Sonnenstrahlen verschwunden waren, versteckte sie sich in einer Spalte und starrte in Richtung der Schlucht, darauf gefasst, dass sie hinter ihr herkommen würden.

Doch die Vampire kamen nicht. Rodica blieb allein. Nach einer langen Zeit, in der sie es nicht gewagt hatte, sich zu bewegen, lehnte sie sich mit einem zittrigen Seufzer an den Felsen. Sie würde die Nacht hier verbringen und erst weiterwandern, wenn die Sonne wieder hoch am Himmel stand. Nicht im Tal, sondern oben am Rand dieses Hochplateaus, ganz gleich, wie mühsam das war.

Sie legte die Hand auf ihren gerundeten Bauch und streichelte ihn. »Wir haben Glück gehabt«, flüsterte sie. »Warum steige ich auch direkt vor einer Höhle in das Tal hinab! Ich muss besser aufpassen!«

Unvergängliches Blut - Sammelband

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