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4.2 Picos Begründung der Menschenwürde

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Die Wahrheit, von der sich unterschiedliche Aspekte in den verschiedenen Traditionen offenbaren, sei identisch mit dem Sein und somit auch mit Gott. Miller betont, dass bei Pico, wie bei Thomas, Gott das Sein selbst ist.18 Aber auch bei anderen neuplatonischen Denkern, wie etwa Plotin, lässt sich eine vergleichbare Konzeption finden.

Gott stelle somit das Sein selbst oder die Ureinheit dar. Unter Gott seien, wie in der neuplatonischen Tradition üblich19, hierarchisch drei Hauptseinsbereiche angeordnet. Jeder der drei Seinsbereiche sei bei Pico wiederum in neun Sphären geteilt.20 In der obersten Ordnung befänden sich neun Sphären Engel, die sich, ohne sich zu bewegen, auf Gott zu bewegen.21 In der mittleren Welt seien neun himmlische Sphären, die sich allesamt in einer steten Bewegung befinden, jedoch als Nachahmung Gottes auch unbewegt sind.22 Die dritte Seinsebene sei die elementare Welt, die auf der Basis der Urmaterie beruht und in neun Sphären, die aus veränderlichen Formen bestehen, unterteilt werden könne. Diese neun Sphären unterteilt Pico erneut in drei mal drei Bereiche. Der unterste Bereich umfasse drei Arten von leblosen Körpern, die aus den grundlegenden Elementen und Mischungen dieser Elemente bestehen (z.B. Sturm). Die nächsthöhere Ebene sei die pflanzliche, die in drei Arten von Gräsern und Bäumen unterteilt ist. Die höchste Ebene sei die der fühlenden Wesen mit entweder unvollkommenen Seelen wie bei Pflanzentieren, vollkommenen, aber in den Grenzen der irrationalen Fantasie behafteten Seelen und den höchsten Tieren, die sogar von Menschen unterrichtet werden können.23 Der Mensch gehöre nicht in die elementare Seinsebene.

Wie Manetti und viele andere Denker, so geht auch Pico davon aus, dass der Mensch aus einem sterblichen Leib und einer immateriellen Seele besteht.24 Der Geist wiederum sei dafür verantwortlich, zwischen Leib und Seele zu vermitteln.25 Wie im Neuplatonismus üblich steht die Seele für das Leben. Nur Dinge mit Seele leben. In der Seele sei jedoch ebenso der Geist, nous, enthalten.26 Im Neuplatonismus, etwa bei Plotin, ist der Geist, nous, durch Emanation direkt aus dem Einen, hen, entstanden. Durch das Überfliesen des Einen entstehen die verschiedenen Seinsbereiche der Welt, die eine Seinshierarchie mit unterschiedlichen Entfernungen zum wahren Sein, dem Einen, mit sich bringt. Nach der Ebene des Geistes folge die Ebene der Seelen, psyche, und die der geformten Materie, physis, die Welt, die unseren Sinnesorganen zugängig ist. Die ungeformte Urmaterie bilde den Gegenpol zum Einen. Ob sie als Gegenkraft zum Einen zu verstehen ist oder bloß als maximale Abwesenheit vom Sein, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Generelle Probleme einer solchen Stufenmetaphysik wurden bereits im Abschnitt über Manetti bei der Erörterung des Monismus-Dualismus-Problems angesprochen.

Die Vernunftseele hat Zugang zum Geist und die Seele steht auch für das Leben, was bedeutet, dass die Seele dafür verantwortlich ist, dass Dinge leben und sich bewegen. Das Phänomen der Bewegung beruhe somit letztendlich auf etwas Unkörperlichem.27 Der Teil der Seele, der für die Bewegung zuständig ist, sei ein anderer als der, der für die Erkenntnis verantwortlich ist.28 Pico ordnet den Menschen als Ganzen keiner der drei Seinsbereiche alleine zu, sondern er betont, dass er allen dreien angehört.29 Er erklärt das Vorgehen Gottes bei der Schöpfung des Menschen in Analogie zu den Handlungen der weltlichen Herrscher. Nachdem weltliche Herrscher eine Stadt gegründet hatten, platzierten sie in deren Zentrum eine Statue von sich, um ihr Handeln zu verdeutlichen. Gott, als Schöpfer der Welt, habe statt einer Statue den Menschen als Abbild seiner selbst, jedoch ihm ähnlich, in die Mitte seiner Schöpfung gestellt.30 Somit spielt die Gottebenbildlichkeit bei Picos Beschreibung der Würde des Menschen durchaus eine Rolle.31 Jedoch sei die menschliche Seele nicht selbst ein Gott, auch wenn sie verantwortlich für die Bewegung ist.32 Entscheidend für die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott und damit für seine Würde sei primär, dass der Mensch „einen freien Willen als innersten Kern seiner Persönlichkeit hat“ (Reinhardt 1989, 128). Dieser freie Wille wird an der zentralen Stelle der „Oratio“ thematisiert:

„So traf der beste Bildner schließlich die Entscheidung, dass der, dem gar nichts Eigenes gegeben werden konnte, zugleich an allem Anteil habe, was jedem einzelnen Geschöpf nur für sich selbst zuteil geworden war. Also nahm er den Menschen hin als Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart, stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und redete ihn so an: ‚Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich Dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche‘.“ (Pico della Mirandola 1997, 7ff)

Die Ambivalenz der Würde wird gerade an dem Faktum der menschlichen Freiheit deutlich. Einerseits ist der Mensch frei, andererseits ergeben sich aus seiner exponierten Stellung im Kosmos Aufgaben, weshalb Trinkaus durchaus Recht hat, wenn er schreibt: „Man’s dignity derives therefore both from his origin and from his restoration by the coming of the divine-human exemplar“ (1970, 509).33 Bevor ich auf diese Spannung innerhalb der Philosophie Picos genauer eingehe, muss Picos Freiheitskonzept behandelt werden. Von der Gönna fasst Picos allgemeine Freiheitskonzeption treffend zusammen:

„Anders als im Traktat Manettis, mit welchem Picos ‚Oratio‘ häufig verglichen wird, ist bei Pico die Würde des Menschen philosophisch in seiner Stellung innerhalb des Kosmos begründet. Nach seiner Erschaffung wird der Mensch von Gott in den Mittelpunkt des Kosmos gestellt. Er ist fortan dessen Band und Knoten (‚caelestium et terrestrium vinculum et nodus‘), wie in Picos Schrift ‚Heptaplus‘ zu lesen steht. Der Mensch ‚ist die Synthese des Universums. Darin gründet die ihm eigene Würde.‘ Als ein geschlossenes Ganzes, als eigenständiger Mikrokosmos, in dem sich die ganze Schöpfung wiederholt, steht er dem Makrokosmos gegenüber und kann seine Stellung im Kosmos in einem Akt freier Entscheidung selbst bestimmen.“ (Von der Gönna 1997, 1113f)

Auf ähnliche Art hat auch Miller Picos Position des Menschen in der Welt beschrieben.34 Der Mensch sei also ein eigenständiger Mikrokosmos und habe die Freiheit, zu allem zu werden, was es in der Welt gibt. Dies bedeutet, dass dem Menschen von Gott Samen von „jeder Form von Leben“ gegeben wurde:

„Die, die jeder pflegt, werden sich entwickeln und ihre Früchte an ihm tragen: Sind sie pflanzlicher Natur, wird er zur Pflanze werden. Sind es Keime der Sinnlichkeit, so wird er zum Tier werden. Sind es Keime der Vernunft, so wird er zum himmlischen Lebewesen werden. Sind es Keime des Geistes, wird er ein Engel sein und Gottes Sohn. Und wenn er unzufrieden ist mit jedem Lose der Geschöpfe und sich zurückzieht in den Mittelpunkt des eigenen einheitlichen Wesens, wird er mit Gott zu einem Geist vereint im einsamen Dunkel des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, alle Geschöpfe übertreffen.“ (Pico della Mirandola 1997, 9ff)

Wir seien so geboren worden, dass wir das werden, was wir sein wollen.35 Daraus ergibt sich ein philosophisches Problem: Wir sind frei zu werden, was wir sein wollen, und haben die Anlage, zu jeder Lebensform zu werden, die es in der Welt gibt. Ein ähnliches Freiheitskonzept ist bei Sartre anzutreffen. Aus einer solchen Konzeption ergibt sich die Frage, auf der Basis welchen Kriteriums man die Entscheidung für die eigene Lebensform trifft. Es stehen die Lebensformen X, Y und Z zur Wahl. Man selbst muss sich einer zuwenden. Um sich jedoch einer zuwenden zu können, benötigt man eine Hierarchie von Präferenzen, die man berücksichtigen muss, sodass man entscheiden kann, welcher Lebensform man sich zuwendet. Wenn ein Charakter vorgegeben ist, dann besteht nicht die Möglichkeit, dass sich jeder Samen ausprägen kann, sondern es ist bereits im Charakter vorgegeben, welchen Samen man fördert und welchen nicht. Eine Möglichkeit, nicht von dem vorgegebenen Charakter bestimmt zu sein, bestünde auf der Basis einer indeterminierten Handlung. Eine indeterminierte Handlung wäre eine Handlung, die keinen Grund hat. Eine grundlose Handlung aber als eine freie anzusehen stimmt nicht mit unserem üblichen Freiheitsverständnis überein und wäre sicherlich nicht von uns gewünscht. Wenn kein Charakter vorgegeben ist, dann ist auch keine Hierarchie von Präferenzen vorhanden, auf deren Basis man eine Entscheidung treffen kann. Aus den angeführten Überlegungen ergibt sich, dass der intellektuelle Nachvollzug von Picos Freiheitskonzeption nicht unmittelbar möglich ist.36 Von der Gönna erläutert Picos Freiheitskonzeption weiter wie folgt:

„[I]n diesen Sätzen wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass diese Freiheit zum einen in der Unbestimmtheit bestehe, da der Mensch zwar sein Dasein Gott verdanke, sein Wesen aber mit seiner Erschaffung noch nicht festgelegt sei.“ (Von der Gönna 1997, 114)

Wenn man jedoch von der Indeterminiertheit des menschlichen Wesens ausgeht, ergibt sich daraus das gerade angesprochene Problem. Ein indeterminiertes Wesen besitzt kein Kriterium für irgendeine Entscheidung. Eine Entscheidung setzt jeweils ein Kriterium voraus. Ohne Entscheidungskriterium kann höchstens gesagt werden, dass es reiner Zufall ist, wer man wird. Auf die Zufallsthematik soll jedoch hier nicht separat eingegangen werden, da die Deutung einer freien Entscheidung als einer zufälligen nicht meinem Verständnis einer freien Entscheidung entspricht. Eine ähnliche Darstellung von Picos Freiheitskonzeption ist bei Miller zu finden:

„The most remarkable contribution he makes is his notion that the root of man’s excellence and dignity lies in the fact that man is the maker of his own nature. Man may be what he wishes to be; he makes himself what he chooses.“ (Miller 1965, xiv)

Wenn der Mensch der „maker of his own nature“ sein will, benötigt man eine Basis, um zu entscheiden, was das eigene Wesen sein soll. Wenn man keine Basis hat, ist die eigene Natur letztlich indeterminiert, zufällig oder willkürlich.

Die starke Betonung des Aspektes der Freiheit ist bei Pico hervorzuheben, schließlich ist damit die Ablösung der mittelalterlichen Ordnung verbunden. Der Mensch wird stärker zum schöpferischen Menschen, zum „homo faber“. Bei Manetti soll der schöpferisch tätige Aspekt in der diesseitigen Tätigkeit deutlich werden, wohingegen nach Pico das Schöpferische stärker in der Selbstschöpfung anzutreffen sei. Hier befinde sich der Mensch außerhalb der Hierarchie des Seienden und seine Subjektivität tritt als eigener Kosmos der Welt gegenüber. Trotz der Betonung der Subjektivität ist bei Pico noch ein anderer Aspekt zu beachten, auf den von der Gönna auf treffende Weise hinweist, wenn er schreibt, dass Pico keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, „dass der rechte Gebrauch, den der Mensch von seiner Freiheit machen solle, in einer Entscheidung zu Gott hin bestehe“ (1997, 114f). Dieser bislang noch nicht berücksichtigte Aspekt soll im folgenden Abschnitt thematisiert werden.37

Menschenwürde nach Nietzsche

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