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Psychischer Automatismus am Beispiel von Max Ernst: „L‘évadé“

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Der Psychische Automatismus ist eine Form des Surrealismus, zu dessen Begründern u.a. Max Ernst gehörte. Ihm entgegengesetzt ist der Veristische Surrealismus, zu dem Salvador Dali, zählte. Max Ernst war ursprünglich ein Mitbegründer des Dadaismus und leitete die Dada-Gruppe in Köln. Dies ist aber nicht weiter verwunderlich, da der Surrealismus, ebenso wie der Realismus (Neue Sachlichkeit), aus dem Dadaismus hervorgegangen ist. Ernst war Autodidakt, was für die damalige Kunstszene sehr ungewöhnlich war, da viele Künstler und Kritiker den Anspruch auf akademische Hintergründe vertraten. Dabei entwickelte Max Ernst drei Techniken: 1) Die Frottage, 2) Die Grattage und 3) die Décalcomanie.

Die Frottage ist eine Abreib- bzw. Durchreibtechnik. Es wird eine Papierunterlage verwendet, wobei ein alltäglicher Gegenstand mit einem Grafitstift durch Abreiben der Oberflächenstruktur kopiert wird. Dafür wird geeignetes Papier über den Gegenstand gelegt. Besonders Tapeten oder Faserpapier eignen sich zum Frottagieren. Der Grafitstift ist dem Bleistift vorzuziehen, da das Blatt sonst wegen den Unebenen beschädigt werden kann. Während es sich bei Frottagen um Zeichnungen handelt, sind Grattagen Malereien, welche auf Leinwänden durchgeführt werden. Die Grattage ist folglich die Übertragung der Frottage auf die Malerei. Die von Max Ernst entwickelte Décalcomanie ist eine künstlerische Technik des Farbabzuges.

Der Psychische Automatismus ist – wie die surrealistische Bewegung selbst – durch die Psychologie beeinflusst, wobei Max Ernst zudem selbst Psychologie studiert hat. Er verwirklicht mit seinen Techniken eine Idee von Leonardo Da Vinci, der zu der Feststellung kam, dass ein in Farbe getränkter Schwamm, welcher auf eine Wand geworfen wird einen Fleck hinterlässt, der sich neu interpretieren lässt und in dem jeder Betrachter etwas anderes sehen kann. Surrealisten wie Max Ernst nutzten diesen Gedankengang, um die spontan erworbenen Strukturen künstlerisch auszuführen. Die Spontanität ist somit besonders auszeichnend für den psychischen Automatismus. Die abgeriebenen Strukturen werden genutzt, um aus ihnen Kunstwerke zu erschaffen. Dabei lässt man sich spontan leiten, und untersteht somit keiner Kontrolle. Dieses Element der Spontanität und die nicht-akademische Herangehensweise generell sind aus dem Dadaismus übernommen wurden, der die Kunst anarchisiert hat. Denn der Dadaismus hat aufgezeigt, dass selbst Intellektuelle den 1. Weltkrieg nicht aufhalten konnten, einige ihn gar unterstützten. Jede Formalität stand somit unter der alten Struktur, die der Dadaismus konsequent aufzuheben versuchte. In dieser Tradition steht auch der Surrealismus der traditionellen Hofmalerei entgegen und ist erst durch den radikal-konsequenten Dadaismus ermöglicht worden. Basis des psychischen Automatismus sind Halluzinationen, i.e. Trugwahrnehmungen, die mit Hilfe hypnagogischer Fähigkeiten hervorgerufen werden können. Der hypnagogische Zustand ist die Phase kurz vorm Einschlafen, also ein Zwischenstatus des Wach- oder Schlafzustandes, wobei jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, den hypnagogischen Zustand zu erreichen. Da in der Phase kurz vor dem Einschlafen die alltäglichen Sinnestäuschungen und der Realitätswahrnehmungsschwund besonders maximiert sind, kann man ohne zu Hilfenahme von Drogen oder sonstigen berauschenden oder betäubenden Mitteln seine Visionen jenseits der Realität entwickeln, obgleich die Realität, so wie wir sie wahrnehmen, auch nicht wirklich der objektiven Realität entspricht, was ich in verschiedenen philosophischen Abhandlungen detailliert dargelegt habe. Max Ernst selbst beschreibt die Frottage als „Halluzination und Methode“. Ernst verneinte Drogen, da er Psychosen (darunter Verfolgungswahn) vermeiden wollte. Der Abrieb der Frottage allein reicht jedoch nicht aus, um das Kunstwerk zu schaffen. Mit den Strukturen, die durch den Abrieb gewonnen werden, muss auch etwas angefangen werden können, damit aus ihnen etwas Neues erschaffen werden kann. Es kann daraus gefolgert werden, dass es sich bei den Strukturen, um ein Experimentierfeld der Spontanität handelt. Der psychische Automatismus ist demnach, die Erschaffung eines Kunstwerkes durch spontane Strukturen, die man während des hypnagogischen Zustandes ebenso spontan ausformt, womit man sich spontan-automatisch, ergo unbewusst, leiten lässt. Ob es sich dabei wirklich um eine echte Spontanität handelt muss jedoch hinterfragt werden, da eine gewollte (vielleicht sogar forcierte) Spontanität wiederum ein sehr kontrolliertes Verhalten aufzeigen würde und damit dem eigenen Anspruch des Künstlers zuwiderlaufen würde.

Max Ernst hat sehr viele Frottagen produziert, wobei er sich auf die Naturgeschichte beruft. Man muss zwei Formen der Naturgeschichte unterscheiden, die unter der französischen Begriffsübersetzung histoire naturelle bekannt geworden ist. Zum einen die wissenschaftliche Naturgeschichte bei der man wissen möchte, wie Flora und Fauna wirklich ausgesehen haben und bei der man versucht, diese exakt zu rekonstruieren und zum anderen Max Ernsts fantastische Naturgeschichte. Das Interesse Ernsts beschränkt sich auf die Fauna. Er möchte dabei keine Tiere rekonstruieren, sondern neue Geschöpfe schaffen, da ihm die geschichtliche Darstellung nicht zusagt. Seine Losung lautete: „Wieso soll man Tiere rekonstruieren, wenn man selbst neue erschaffen kann?“ Er lässt sich dabei von seinen Vorstellungen leiten, die er konkretisiert. Dabei wird in zwei Phasen vorgegangen. Erstens, das experimentelle Vorgehen, indem passendes Material ausgewählt wird. Sodann werden die Strukturen geschaffen, wobei diese noch unbestimmend sind. Zweitens, die Konkretisierung und Ausarbeitung, in welcher der Künstler sein Motiv sinngebend deuten und ausarbeiten muss. In dieser Phase legt er sich auf seine Thematik fest.

Die vermutlich bekannteste Frottage von Max Ernst ist L’évadé aus dem Jahre 1925. Die Frottage kann auf zwei Ebenen gedeutet werden, da man sowohl einen Fisch, als auch einen Vogel in ihr sehen kann. Typisch für das Merkmal des Fisches ist die Schwanzflosse. Zudem besitzt das Wesen eine Seitenflosse. Seine Form und Beschaffenheit der Haut ist schuppenartig, wie dies bei Fischen zu erwarten ist. Der Fisch ist flunder- oder kugelfisch-artig, der Kopf hat leichte Ähnlichkeiten zu einem Pottwal. Typisch für einen Vogel dagegen ist der nachtigallenähnliche Schropf und Bauchübergang, während der Schnabel eher an einen Uhu erinnert. Es könnte als Übergang zwischen Vogel- und Fischaussehen auch der Papageienfisch oder Hecht in die Frottage interpretiert werden.

Auffällig in der Frottage ist das besonders große Auge, welches jedoch nur eine kleine Pupille besitzt. Es wirkt turbinenartig und mechanisch. Das Auge kann zugleich als Kopf eines Storches gesehen werden, wobei die Fischflosse in diesem Fall die Flügel und die Hinterflossen als Storchenfüße ausgelegt werden könnten. Dreht man das Bild dagegen um 180°, so erinnert der Fisch eher an einen Piranha.

Dieses Spiel zwischen Vogel und Fisch ist ein Elementenspiel, d.h. dass das Objekt nicht genau definiert und daher keine Interpretation als die einzig richtige angesehen werden kann. Je nachdem, wie man das Objekt definiert, kann man auch die Landschaft verschiedenartig definieren.

Geht man davon aus, dass das Objekt ein Fisch ist, so kann der Boden entweder als Meeresgrund (und der Fisch schwimmt innerhalb des Wassers) oder als Meeresoberfläche gesehen werden. Letztere Interpretation ist jedoch in Zusammenhang mit dem Bildtitel schlüssiger, da der Fisch aus seinem Element ausbricht. Im Hintergrund ist ein Dampfer zu sehen. Der Mensch wirkt auf die Natur ein, wobei der Fisch sich bedroht sieht und daher aus dem Wasser zu fliehen versucht.

Geht man davon aus, dass es sich bei dem Objekt, um einen Vogel handelt, so könnte der Untergrund als Landschaft (mit Feldern) definiert werden. Der Vogel fliegt demnach in der Luft. Das kleine Objekt im Hintergrund, welches zuvor als Dampfer definiert wurde, kann in diesem Fall als Fabrik interpretiert werden. Der Vogel versucht demnach aus der Landschaft und der durch den Mensch ausgehenden Bedrohung zu fliehen. Die Schwierigkeit und Komplexität den Hintergrund zusammen mit dem Vordergrundobjekt definieren und interpretieren zu müssen ist eine Spielerei mit technischen Mitteln.

Ebenso gut könnte der Untergrund ein Netz darstellen, indem sich der Vogel verfangen hat. Gerade in mediterranen Ländern werden Vögel mit Netzen gefangen, da sie dort als delikate Speise gehandelt werden. Wie man die Frottage nun letztendlich deutet ist dem Betrachter überlassen. Max Ernst ist die Phantasie wichtiger, weswegen er keine realen Tiere darstellt. Er möchte damit aus der Logik entfliehen.

Die Kritiker seiner Zeit waren darüber empört. Der Stil war für das damalige Publikum irritierend, denn der Stellenwert lag auf dem Kreativen und vor allem auf der akademischen Kunst. Oftmals wurden nur studierte und angelernte Künstler angesehen und beachtet. Die Zeichnungen – vor allem Frottagen – Max Ernsts wurden dagegen abgelehnt. Sie galten als unkreativ und unkünstlerisch, da jeder sich im Frottagieren versuchen kann ohne darin speziell ausgebildet zu sein.

Schließlich lässt sich herausstellen, dass seine Kunst unkonventionell, jedoch zugleich einzigartig und maßgebend war. Dabei lässt sich darin seine dadaistische Vergangenheit widerspiegeln, denn er löst sich bewusst von Zwängen und lässt Laienkunst gelten. Ernst zeichnet sich durch die Nutzung des Zufallsprinzips aus, wobei er sich durch die Natur inspirieren lässt. Dabei verzichtet er auf betäubende Mittel, sondern greift zu psychologischen Methoden, um das Zufällig-Automatische hervorzurufen, weswegen sein Genre als Psychischer Automatismus bekannt geworden ist.

Veröffentlicht am 21. August 2019

Politische und Philosophische Analysen

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