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Singer und das Töten von Lebewesen – Welche Argumente bringt er in Bezug auf Tiere und menschliche Föten wirklich hervor?

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Einleitung

Das 1979 erschienene Hauptwerk Practical Ethics von Peter Singer ist im deutschsprachigen Raum heftig kritisiert wurden. Immer wieder wurden Seminare an Universitäten gestört, in denen Peter Singer besprochen werden sollte und Veranstaltungen mit ihm wurden von starken Protesten begleitet. Die Kritik gegen ihn richtet sich vor allem gegen sein Verständnis der Tötung von Lebewesen. Die starke emotionale Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern ist auch heute noch aktuell. Auch in einem Universitätsseminar zum Thema Tierethik, welches ich besucht habe, haben Singers Positionen starke Kontroversen ausgelöst. Dabei haben Befürworter Singers den Kritikern vorgeworfen, sich mit den Positionen nicht wirklich beschäftigt zu haben. Sie sehen es als ungerechtfertigt an, Singer aufgrund einzelnen, aus dem Werk gerissenen, Positionen festzunageln und zu stigmatisieren. Auch scheint die Kontroverse durch Meinungen aus der Sekundärliteratur stark beeinflusst zu sein, was Singer dabei wirklich sagt, geht dadurch natürlich unter, da sich nur noch auf ein Momentum fokussiert wird. Aus diesem Grund habe ich die vorliegende Arbeit geschrieben, mit dem Ziel, die Argumente Singers herausarbeiten, um den Weg für faire Diskussionen über Singer zu ebnen, die Singer wirklich aufgreifen und frei von Vorurteilen sind. Auf Grund des Umfanges des zu analysierenden Werkes, soll in dieser Arbeit rein textimmanent vorgegangen werden und sich lediglich auf sein Verständnis des Tötens von nicht-rationalem aber bewussten Leben und ganz speziell auf seine Argumente zu Abtreibungen fokussiert werden. Da textimmanent gearbeitet wird bedeutet dies, dass bewusst keine Sekundärliteratur herangezogen wird. Für diese Vorgehensweise spricht die Tatsache, dass es eine reiche Sekundärliteratur gibt, in der die Legitimität Singers besprochen wird, was dann dazu führt, dass Singer selbst und seine Positionen in der Textanalyse untergehen würden. Zudem wird sich hier auf die englische Ausgabe beschränkt, um so Singers Originalterminologie beizubehalten und Verständnisfehler durch Übersetzungen zu vermeiden. Alle Seitenzahlen beziehen sich – wenn nicht anders angegeben – auf die zweite Auflage aus dem Jahre 1993.

Interessen als Ausgangspunkt bei Singer

Singer richtet sich aktiv gegen einen Speziesismus: also gegen die Unterscheidung von Rechten und Pflichten aufgrund der Attribution „Mensch“ und „Tier“. Vielmehr spricht er von einer equal consideration of interests1, d.h. dass alle Interessen gleich zu behandeln sind, egal wer primär dieser Interessenträger ist. Damit stehen bei Singer die Interessen im Vordergrund, weswegen man von einem Interessen- oder Präferenzutilitarismus sprechen kann. Durch die Übertretung der Grenze zwischen Mensch und Tier, wird Ethik im Allgemeinen universell, da jeder Interessenträger gleich behandelt wird, ganz egal „wer er ist“. Wichtig ist nur, „dass“ er ein solcher Träger von Interessen ist. Dabei stellt Singer ausdrücklich eine säkulare Ethik auf, die „Heiligkeit“ des menschlichen Lebens lässt er also nicht gelten.2


Singer über das Töten an sich

Singer hebt hervor, dass in jeder heutigen Gesellschaft, irgendeine Form der Beendigung von Leben (taking life) strafbar sei, was er auf die Prämisse zurückführt, dass keine Gesellschaft überleben kann, wenn jeder Jeden töten kann und darf.3 Dabei hat der Mensch inzwischen Einengungen wie Rassen und Klassen überwunden, aber Singer stellt sich die Frage, ob die Klasse „Mensch“ als höchste schützenswerte Spezies nicht wiederum eine neue Einengung darstelle, die zugunsten aller Lebewesen überwunden werden müsse.4 Wer also dem Menschen den Vorrang gibt, weil er ein Mensch ist, handelt genauso wie ein Rassist der nur seine Rasse schützen möchte.5 Singer kommt daher zum Ergebnis: „The wrongness of inflicting pain on a being cannot depend on the being's species: nor can the wrongness of killing it.“6 Singer stellt die Behauptung auf, dass das Töten eines Neugeborenen keine Interessen des Trägers verletzt, da ein Neugeborenes noch keine wirklichen Wünsche oder Interessen besitze, anders als ein verdurstender Wanderer, der den Wunsch nach Wasser hegt. Wobei Singer auch klar macht, dass dieser Wunsch für den klassischen Utilitaristen keine Rolle spielt, sondern allein das Glück oder der Schmerz beachtet wird.7 Man könnte aus Singers Argument schließen, dass es aus Sicht des klassischen Utilitaristen vielleicht schmerzhaft sei zu Verdursten, das Interesse nicht zu verdursten jedoch keine Rolle spielt. Neben Glück und Schmerz spielt auch die Emotion der Selbstkonzeption eine Rolle: der Wanderer bekommt Angst zu verdursten – er hat um seiner selbst Angst, ist sich also seines Selbst bewusst. Singer überträgt das Argument auf die gesunde Gesellschaft: Wenn man um seiner Selbst-Existenz Angst haben muss und diese jederzeit ein Ende finden könnte, weil jeder Jeden töten dürfte, dann wäre man seines Lebens nicht mehr sicher und das gemeine Glück würde stark sinken.8 Dies bezeichnet Singer jedoch nur als indirekten Grund, weil es das getötete Opfer nicht betrifft, sondern lediglich auf die eigenen Sorgen der Anderen abzielt. Ein Wesen, welches sich seiner eigenen Existenz in der Zeit nicht bewusst ist, wird sich keine Sorgen machen, wenn seine oder ihre Zeit einer zukünftigen (Fort-)existenz verkürzt wird.9 Ebenfalls würde das indirekte Argument nicht greifen, wenn Menschen geheimerweise getötet werden.10 Das bedeutet, dass Singer zwei Fälle durchgehen lässt, in denen das indirekte Argument nicht greift. Zum einen, wer sich nicht bewusst ist, dass er noch länger leben könnte, wird keine Angst haben getötet zu werden, nur weil andere getötet werden. Zweitens, finden die Morde im Geheimen statt macht sich der Rest der Gesellschaft keine Sorgen und das Glück der Gesamtheit ist ebenfalls nicht bedroht.

Singer erklärt jedoch mit Berufung auf Hare, dass ein Gewohnheitsrecht, wie das Tötungsverbot, selbst aus säkularer Sicht Sinn machen kann ohne sich weiterer Kritik stellen zu müssen, wenn es in jedem Fall einer Betrachtung des Einzelfalles bedürfe. Würde man jeden Menschen, den man tötet, aus gewissen Gründen töten oder töten dürfen, um das allgemeine Glück der Gesellschaft zu erhöhen, so wäre diese Abwägung in jedem Falle zu komplex, da die Faktoren die berücksichtigt werden müssten zu vielfältig wären. Der Gewinn daraus dagegen wäre vermutlich zu gering. Aus dem Grund soll eine langbewährte Faustregel eine sinnvolle Grenze ziehen und eine Faustregel wäre, dass Menschen die weiterleben wollen, dies auch unbeschränkt tun dürfen.11 Interessant ist, dass Singer hier Hare übernimmt, Hare aber wiederum als altbewährte Faustregeln auf die Gebote zurückgreift. Singer wiederum erwähnte einige Seiten zuvor, dass religiöse Normen nicht haltbar seien, da sie sich allein auf die Religion und daher das Vertrauen der Gläubigen berufen, von Nicht-Gläubigen jedoch angefochten werden könnten. Daraus schloss er, dass auch die uneingeschränkte Gültigkeit in Frage gestellt werden müsse, gleichwohl diese Normen fest in der Gesellschaft etabliert seien. Dieser Widerspruch lässt sich nur auflösen, wenn man folglich annimmt, dass ein durch Religionen gestiftetes Normensystem einer zeitlichen Neubewertung unterzogen werden muss, wobei bei diesem Prozess der Sinn des Gewohnheitsrechtes nicht hinterfragt werden muss, wenn die Hinterfragung größere Kosten aufbringen würde als deren Nutzen. Im konkreten Beispiel sieht das dann wie folgt aus: Aufgrund des christlichen Hintergrundes ist es in westlichen Gesellschaften verboten zu töten. Dieses Verbot aufzuheben hätte indirekte Konsequenzen, da sich niemand mehr seines Lebens sicher wäre und direkte Konsequenzen, da eine Einzelfallbetrachtung unumgänglich wäre. Das ist jedoch mit einem hohen Aufwand verbunden und die Folgen sind zu schwer abzuschätzen. Das Tötungsverbot macht also weiterhin Sinn, unabhängig des ursprünglichen Zwecks und ist somit Teil eines überzeitlichen Gewohnheitsrechts. Singer gestattet jedoch eine Ausnahme von der Regel, wenn jede Handlung gegen die Regel für alle Beteiligten offensichtlich besser wäre.12

Perhaps very occasionally we will find ourselves in circumstances in which it is absolutely plain that departing from the principles will produce a much better result than we will obtain by sticking to them, and then we may be justified in making the departure. 13

Ein Mensch hat somit kein Recht auf Leben, nur weil es für die Spezies „Mensch“ ein besonderes Recht gäbe. Dies wäre nämlich speziesistisch, was Singer ja vermeiden möchte. Aber: Der Mensch darf im Allgemeinen nicht getötet werden, da man ihn seiner Interessen und Zukunftsplänen berauben würde. Somit ist nicht die Spezies, sondern das Interesse ausschlaggebend. Allerdings kann die Tötung eines Menschen auch die Unzufriedenheit anderer Menschen vergrößern, was für ein allgemeines Tötungsverbot sprechen würde. Ein Wesen – und dazu können natürlich auch einige Menschen gehören – die sich ihrer Existenz nicht wirklich bewusst sind, da sie keine Vorstellung von Zeit, Zukunft oder Interessen besitzen, fallen nicht unter das Tötungsverbot, da ihnen nichts genommen wird, wonach sie streben könnten.14 Daher lässt Singer, im Gegensatz zu klassischen Utilitaristen, auch das Recht auf Autonomie und demnach der Selbstbestimmung zu. Dies gilt aber nur für Wesen, die rational handeln können.15 Der Gedanke Singers, die Autonomie als Recht zuzulassen rührt vermutlich daher, dass die Selbstbestimmung eines Wesens zwangsweise auch bedeutet Entscheidungen zu treffen und diese sind wiederum Ausdruck von Interessen. Wer rationale Entscheidungen treffen kann, kann sich Gedanken über die Zukunft machen und somit einen Willen über die Zukunft und Zukunftspräferenzen artikulieren.

Singer über das Töten von Bewusstem Leben (Conscious Life)

Als conscious life bezeichnet Singer jene Wesen, die nicht rational Denken können und kein Selbstbewusstsein haben, jedoch Gefühle wie Lust oder Schmerz empfinden.16 Wesen, die nicht rational denken können, können primär keine Rechte im Sinne von „Recht“ erfahren, da sie kein Rechtsbewusstsein haben (Kantisches Argument). Dazu zählen nach Singer neben den meisten Tieren auch Neugeborene und einige Menschen mit geistiger Behinderung.17 Nur weil diese Gruppierung selbst keine Rechte haben kann, bedeutet dies nicht, dass es moralisch gut sei, sie zu töten. Denn ebenso wie auch rationale Wesen neben ihrer Rationalität Emotionen besitzen sind auch nicht-rationale Wesen, die jedoch conscious life sind, dazu in der Lage Lust oder Schmerz zu empfinden. Und ebenso wie ein rationales Wesen nicht unnötig leiden möchte, kann davon ausgegangen werden, dass auch jegliches conscious life ein Interesse daran hat Schmerzen abzuwenden. Die Möglichkeit, dass ein Wesen in der Zukunft noch Lust verspüren kann, ist ein Grund dafür dieses Wesen nicht zu töten, denn „we should not cut short a pleasant life“.18 Auch hält sich Singer bedeckt, Leben einen unterschiedlichen Wert zuzuordnen, denn das Klassifizieren und Hierarchisieren von Leben geht von anthropozentrischen Weltbildern aus, indem der Mensch über anderen leidensfähigen Wesen steht, was wieder speziesistisch und damit für Singer nicht vereinbar wäre.19 Auch wendet sich Singer gegen Mills Argument, dass höher entwickelte Wesen automatisch ein höheres Lustvermögen besitzen.20 Somit scheint jedes Leben, ob rational oder „nur“ bewusstseinsempfindend (conscious), gleich viel wert zu sein, da beide Formen Interessen besitzen können, die ihr Maß an Glück erhöhen und das Empfinden von Schmerz lindern, wobei jedes lustvolle Leben (pleasant life) nicht unnötig verkürzt werden sollte. Damit haben auch Neugeborene und geistig behinderte Menschen eventuell ein Interesse daran weiterzuleben.

Singer explizit über das Töten von Tieren

In dem vorherigen Abschnitt wurde aufgezeigt, dass es falsch ist, Lebewesen zu töten, die sich zwar ihres eigenen Lebens nicht durch rationales Denken bewusst sind, sondern ihr Bewusstsein aus emotionalem Erleben ableiten und damit „Bewusstes Leben“ darstellen. Es wurde auch schon salopp hinzugefügt, dass die meisten Tiere in diese Kategorie fallen ohne weitere Spezifizierungen vorzunehmen. Dies soll an dieser Stelle nachgeholt werden. In seinem Kapitel darüber, ob das Töten von Tieren legitim sein kann, unterscheidet er wie zuvor zwischen self-conscious beings (dem selbstbewussten, rationalen Leben) und dem „nur“ bewussten Leben.21 Er zeigt auf, dass einige Affenarten rational Denken können und daher auf einer Ebene mit den Menschen stehen müssten, würde man Hierarchien einführen. Das zeigt also, dass Tiere durchaus rationale Wesen sein können, die einen menschlichen Speziesismus deutlich delegitimieren. Somit müssen die Interessen von Menschen mit denen von (anderem) selbstbewusstem Leben gleichgewichtet werden. Das heißt: Tiere, die rationale Wesen sind, sollen den gleichen Schutz wie Menschen genießen, weil ihre Interessenqualität die selbige ist, da wir davon ausgehen können, dass ihre Präferenzen ähnlich komplex sind.22 Doch wie sieht es mit Tieren aus, die lediglich bewusstes Leben sind? Um zu überprüfen, ob diese Tiere Interessen besitzen, untersucht Singer die sprachlichen Fähigkeiten. Er geht davon aus, dass Tiere, die in der Lage sind eine Form der Sprache (seien es Töne, Geräusche, etc.) zu verwenden, auch in der Lage sein müssten, über etwas nachzudenken. Die Fähigkeit durch Laute zu kommunizieren ist eine Form der Sprache und Sprache wurde in der Vergangenheit oft als Notwendigkeit angesehen, um Denken zu können.23 Singer geht nun weiter und nimmt an, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass es Tierarten geben könnte, die keine Laute von sich geben, aber durchaus denken können. Wenn Tiere über etwas denken können, muss es auch Formen von Interessen geben. Das heißt, dass Tiere ein Bewusstsein über ihre Interessen haben können, selbst wenn sie nicht-rationale Wesen, sondern nur conscious life sind, da sie ihrer Existenz durch Gefühle bewusst sind. Tiere, die nur conscious life sind, haben also ebenfalls Präferenzen, nämlich negative Gefühle zu vermeiden – sie sind sich bewusst, dass sie leiden können.24 Das Töten von leidensfähigen Wesen ohne Narkose ist also problematisch, da damit ihr Interesse, nicht leiden zu wollen, verletzt wird. Auch werden die Interessen dieser Lebewesen verletzt, wenn sie Artgenossen sterben sehen, da einige Lebewesen sich dieses Prozesses bewusst sind und Leid für das Leid des anderen empfinden.25 Es mag jedoch Gründe für die schmerzfreie Tötung von nicht-rationalen leidensfähigen Lebewesen geben.26 Lebewesen, die kein Bewusstsein über ihre Existenz verfügen (und höchstwahrscheinlich keine Leidensfähigkeit besitzen), dürfen getötet werden, da sie keine Interessenträger sind.27

Singer über das Töten von Embryonen und Föten

Aus traditioneller Sichtweise beginnt das Leben eines Menschen ab der Befruchtung der Eizelle. Ein klassischer Syllogismus besagt, dass es falsch ist, einen unschuldigen Menschen zu töten (1. Prämisse), und das Föten bereits unschuldige Menschen sind (2.Prämisse). Daraus ergibt sich auch die Konklusion, dass ein Fötus nicht einfach getötet werden darf.28 Für besonders Liberale dagegen, ist die Schnittstelle der Moment der Geburt, was aber nicht weniger problematisch ist, da das Baby auch vor der Geburt dieselbe Entität darstellt, und die Entwicklung dahin ein kontinuierlicher Prozess ist.29 Diverse Gerichte u.a. das höchste Gericht der USA haben die Grenze zwischen Leben an dem Punkt gezogen, ab wo das potentielle Baby von alleine überleben könnte (Roe vs. Wade).30 Singer hält jedoch dagegen, dass die Überlebensfähigkeit nicht universell festgelegt werden kann, und je nachdem, welche Technologien vor Ort herrschen, kann bereits ein sechsmonatiger Fötus außerhalb der Mutter überleben, was vor 30 Jahren unmöglich gewesen wäre und heutzutage immernoch in vielen Teilen der Welt unmöglich ist.31

A six-month-old fetus might have a fair chance of survival if born in a city where the latest medical techniques are used, but no chance at all if born in a remote village in Chad or New Guinea. Suppose that for some reason a woman, six months pregnant, was to fly from New York to a New Guinea village and that, once she had arrived in the village, there was no way she could return quickly to a city with modern medical facilities. Are we to say that it would have been wrong for her to have an abortion before she left New York, but now that she is in the village she may go ahead? The trip does not change the nature of the fetus, so why should it remove its claim to life?32

Liberale dagegen vertreten die Position, dass das Baby selbst kein Anrecht auf Leben hat, sondern die Mutter, als Trägerin des Fötus, den Wunsch hegen dürfen soll, das Baby auszutragen oder eben nicht auszutragen.33 Zudem sei es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, vorzuschreiben, wo die persönliche Moral zu beginnen hat. Die Idee geht zurück auf Mill, der ein Bild der „opferlosen Gewalttat“ zeichnet. Als typische Beispiele werden eine konsentuale homosexuelle Beziehung, der Gebrauch von leichten Drogen oder die freiwillige Prostitution genommen, in der die jeweils Betroffenen das Recht haben sollen, selbst über ihr Glück zu entscheiden und ihre Privatsphäre zu ziehen.34 Abtreibungsbefürworter übernehmen dieses Argument und fügen hinzu, dass das Austragen eines Kindes eine so persönliche Entscheidung sei, dass Frauen, die definitiv einen Abbruch wünschen, notfalls in den illegalen Untergrund gehen würden, und dieser für das Leben der Schwangeren viel riskanter sei, als ein offener Zugang zum gewünschten Abbruch.35 Gegen die Tötung von Föten spricht definitiv, dass die Schmerzempfindlichkeit des Fötus vermutlich schon nach wenigen Wochen in der Schwangerschaft ausgeprägt ist und das ungeborene Kind somit schon ein Bewusstsein im Sinne von conscious life darstellt. Aber Singer zeigt, dass sich auch hier noch keine eindeutige Trennlinie zeigen lässt, ab wo genau dies beginnt.36 Auch das feministische Argument, dass eine Frau über ihren Körper selbst entscheiden dürfen soll, zieht hier nicht, da die Frau zuvor eine Verbindung eingegangen ist, die zu diesem Zustand führt und sie niemanden moralisch dazu verpflichten kann, die aus dieser Verbindung mit ihrem Körper entstandene Verbindung abzubrechen.37

Singer selbst kommt zu dem Ergebnis, dass der Fötus genauso zu betrachten ist, wie jedes andere faktisch geborene Leben. Da der Fötus noch kein Selbstbewusstsein besitzt, hat es nicht die gleichen Rechte wie ein selbstbewusster Mensch. Sobald der Fötus nachweislich schmerzempfindlich ist, ist er zumindest conscious life. Davor besitzt er kein intrinsisches Interesse am Leben. Singer geht sogar noch weiter und sagt, dass die Interessen der Schwangeren, die des Fötus überwiegen und kommt zu dem Ergebnis, dass in diesem Fall nichts gegen die schmerzfreie Tötung spreche.38 Dabei lässt Singer auch nicht das Argument zu, dass ein potentielles selbst-bewusstes Leben dem selbstbewussten Leben gleichzusetzen sei, da die tatsächlich vorliegende Entität schlichtweg keinen Anspruch auf etwas hat, was sie (noch) nicht ist.39 Der Embryo, als Vorstadium, kann daher erst recht nicht die Rechte eines selbstbewussten Lebens genießen, nicht mal als bewusstes Leben qualifiziert es sich. Jedoch gibt Singer zu, dass es rechtlich nicht unproblematisch ist, da die Entwicklung des Menschen ein gradueller Prozess ist und wenn die Tötung eines Erwachsenen einen Mord darstellt, so müsste das bereits für den Embryo gelten, da es, wie oben bereits aufgezeigt, keine klaren objektiv-einnehmbaren Trennlinien der Entwicklung gibt.40 Was den Infantizid betrifft, so haben Babies keine besonderen Rechte, etwa weil sie hilflos, schutzbedürftig oder süß erscheinen, sodass auch Neugeborene strenggenommen nicht den Schutz des selbstbewussten Lebens genießen.41 Dies berechtigt aber laut Singer nicht dazu, wahllos Neugeborene zu töten, sodass er strenge Richtlinien für legitime Infantizide zur Bedingung macht.42

Eigene Position

Auch wenn Singers Position einer säkularen Ethik auf den ersten Blick einleuchtend und auf den zweiten Blick auch logisch-schlüssig aufgebaut ist, habe ich sehr große Bedenken, was legitime Abtreibungen betrifft. Singer hat Recht, wenn er sagt, dass das menschliche Leben ein gradueller Prozess darstellt, sodass der Mord an einem Erwachsenen genauso zu gewichten ist, wie der Mord an einem Embryo. Anders als Singer würde ich aber bereits die Potentialität gelten lassen, da der Fötus sich zu selbstbewusstem Leben entwickeln kann und aus dieser Fähigkeit meiner Meinung nach eine unantastbare Würde entsteht.

Auch die feministische Position, dass der Körper der Frau als selbstbewusstes Leben generell über dem Recht auf Leben des Embryos steht, teile ich nicht, da die Befruchtung ein Prozess einer körpereigenen Zelle mit einer körperfremden Zelle darstellt. Das bedeutet, dass letztlich nur ein Teil des Embryos dem weiblichen Körper entspringt, der andere Teil „gehört“ ihr gar nicht. Eine Schwangerschaft ist nämlich meines Erachtens nach eine Verbindung von männlichem Saatgut mit weiblichem, welche eine gemeinsame Verbindung eingehen. Das Argument „my body, my choice“, indem der Embryo sozusagen als körperliches Eigentum der Frau angesehen wird, ist absurd. Die Frau trägt zwar diese Verbindung aus, der Vater als gleichberechtigter Lebensstifter besitzt jedoch ebenso Eigentum an dem Baby, da es nur durch sein Zutun entstehen konnte. Ein einseitiger Schwangerschaftsabbruch ist somit die Zerstörung fremden Eigentums, da auch der Vater eine Bindung zu dem ungeborenen Kind entwickelt, und die Tötung damit dem emotionalen Verlust eines Neugeborenen gleichkommt. Damit dürfte die Frau zumindest nicht alleine über einen Abbruch entscheiden. Dabei sehe ich aber generell schon die Betrachtung von Körpern als Eigentum als höchst problematisch an. Denn weder ist das Baby das Eigentum der Eltern, noch ist der Körper das Eigentum einer Person. Wenn man aber das feministische Prinzip des körpereigenen Besitzes („ich bin Eigentümerin meines Körpers“) durchexerziert, zeigt sich, wie oben beschrieben, dass sie nur eine Teilhaberin, aber nicht die Eigentümerin, der Verbindung ist.

Damit steht die Elternliebe über dem egoistischen Akt eines einzigen Elternteils, der das Zutun des Anderen und damit seine Liebe zum Kind zerstören möchte. Hier ist jedoch anzumerken, dass mein Argument nicht funktioniert, wenn beide Elternteile einem Abbruch zustimmen würden, da dann womöglich gar keine Bindung und damit keine Elternliebe vorhanden ist. Der einzelne Aufwand, um festzustellen, ob wirklich beide Elternteile keinerlei Bezug zum Kind haben und es sich nicht um eine Kurzschlussreaktion handelt, ist nicht gerade gering. Noch größer ist das Problem, wenn die Mutter möglicherweise den Vater des Kindes gar nicht kennt, oder mehrere Sexualpartner als potentieller Kindsvater in Betracht kommen würden. Auch könnte die Mutter die Schwangerschaft vor dem Vater verheimlichen, um so einen einseitigen Abbruch vorzunehmen, mit der Begründung, dass die Elternliebe des Vaters nicht berührt wird, da er von seinem Vatersein zum Zeitpunkt der Schwangerschaft keine Kenntnis hatte. Noch komplizierter wird der Fall, wenn eine verheiratete Frau ein Kind von einem anderen Mann erwartet, der Ehemann aber eine Verbindung zum Kind aufbaut, entweder aus Unwissenheit der wahren Vaterschaft oder weil er sich schon immer ein Kind gewünscht hat, aber kein eigenes Kind bekommen kann. Hier könnte eine Ersatzelternliebe ähnlich wie bei adoptierten Kindern als Argument genommen werden, und somit entsteht ein berechtigtes Interesse, dass seine Ehefrau das Kind austrägt, selbst wenn der leibliche Vater keinen Bezug zu seinem ungeborenen Kind aufbaut. Aus der Fülle der Beispiele (und dabei sind andere Eventualitäten wie Vergewaltigungen noch gar nicht mitberücksichtigt) zeigt sich, dass eine Einzelfallbetrachtung zu komplex ist, und daher die Potentialität selbstbewussten Lebens ausreichen sollte, um eine unantastbare Würde zu begründen. Damit lässt sich die Abtreibung nur im medizinischen Notfall rechtfertigen, zum Beispiel, wenn der Fötus bereits im Mutterleib verstirbt oder der Fötus aufgrund von Missbildungen im Mutterleib qualvolle Schmerzen erleidet. Denn in solchen Fällen kann es vorkommen, dass die Elternliebe so groß ist, dass sie die Schmerzen des Fötus als unvereinbar mit ihrem elterlichen Gewissen ansehen und als Austragende selbst Schmerzen erleiden, da sie nicht ertragen können, dass ihr ungeborenes Kind starkes Leid erfährt (und möglicherweise nach der Geburt nicht lange überleben könnte). Hier kann als Argument angeführt werden, dass kein pleasant life entstehen kann (und ausgeschlossen ist, dass es jemals in irgendeiner Form entstehen kann, da dieser Mensch für immer starke Schmerzen erleiden wird), und es mir doch fraglich erscheint, ob ein ewig-qualvolles Leben wirklich würdevoll wäre. Auch das Leid der Eltern als Austragende muss in einer solchen Situation mitberücksichtigt werden. In diesem Fall soll der Fötus aber das Recht haben, würdevoll zu sterben. Er darf also nicht einfach über den Krankenhausmüll entsorgt werden. Auch wenn die Chance von auftretenden Komplikationen so hoch ist, dass die Mutter die Geburt nicht überleben würde, ist eine Abtreibung als medizinischer Notfall gerechtfertigt, da das aktuelle selbstbewusste Leben in einem solchen Fall höhere Interessen besitzt als das potentiell selbstbewusste Leben. „Freiwillige“ Abtreibungen dagegen sollten wie Mord geahndet werden.

Auch das Verbot von Infantiziden kann mit der Elternliebe erklärt werden. Dürfte jedes Neugeborene (vor allem unter Zwang) ermordet werden, so wären Eltern ihres selbsterzeugten Lebens nicht mehr sicher, da sie ein akutes Interesse daran haben, das Leben ihrer Säuglinge zu schützen. Damit sind Infantizide generell abzulehnen, nicht zuletzt da hier bereits „berührbares“ eigenständiges und nicht mehr abstraktes von der Mutter abhängiges Leben vorliegt.

Was den Umgang mit Tieren angeht, gebe ich Singer jedoch uneingeschränkt Recht. Es gibt hochentwickelte Tiere, die ihrer Selbst bewusst sind und auch Interessen oder Präferenzen haben, womit deren Misshandlung oder Tötung der Misshandlung oder Tötung von Menschen gleichkäme, während Tiere, die lediglich bewusstes Leben sind, nur ein Interesse daran haben nicht qualvoll zu sterben. Andere nicht-bewusste Lebewesen haben dagegen überhaupt keine Interessen. Dies bedeutet also, dass auch Tieren, die selbst-bewusstes Leben darstellen, eine Würde zukommt, die mit der Menschenwürde gleichzusetzen ist.

Als Fazit lässt sich also sagen, dass ich zwar Singers Tierethik zustimme, jedoch die nicht-speziesistische Ethik problematisch finde, da die Spezies Mensch ein sehr komplexes Interessenwesen ist, welches aufgrund seiner vielfältigen Fähigkeiten von der Entwicklung komplexer Sprachsysteme bis zu riesigen architektonischen Werken anderen Lebewesen durchaus in den meisten Sachen (wenn auch nicht in allem) überlegen ist. Dabei ergibt sich meiner Meinung nach bereits aus der Potentialität eine Würde, sodass auch ungeborenes Leben und das Leben von Säuglingen wie das Leben selbst-bewusster Menschen zu bewerten ist und damit die gleichen Menschenrechte genießen.43 Zudem kommt bei ungeborenem Leben hinzu, dass das Interesse des Vaters ebenso sehr wie das der Mutter zu gewichten ist, sodass auch das feministische Argument des körpereigenen Eigentums nicht greift. Jenseits von Mitleid eines sich quälenden Fötus oder einer Gefährdung des Lebens der Mutter während der Geburt ist eine Abtreibung meiner Meinung nach nicht zulässig, da diese dem Mord eines Erwachsenen, aufgrund der graduellen Entwicklung von Menschen, gleichkommt.

Fußnoten

1 p. 83

2 p. 84

3 p. 85

4 ebd.

5 p. 88

6 ebd.

7 p. 89 f.

8 p. 91

9 p. 91 f.

10 p. 92

11 p. 93

12 p. 94

13 ebd.

14 vgl. hierzu p. 96

15 p. 99

16 p. 101

17 ebd.

18 p. 101 f.

19 s. hierzu p. 105

20 p. 108

21 p. 111

22 p. 117

23 p. 113 f.

24 p. 119 f.

25 vgl. hierzu p. 120

26 p. 132

27 p. 133

28 p. 138

29 p. 139

30 p. 140

31 ebd.

32 ebd.

33 ebd.

34 p. 145

35 p. 143 f.

36 vgl. hierzu p. 142

37 p. 146 ff.

38 p. 150 f.

39 p. 153

40 p.137

41 p. 171

42 p. 173

43 Auch hochentwickelten Tierarten könnte eine solche Würde parallel zur Menschenwürde zugesprochen werden, wie oben vorgeschlagen wurde.

Literatur

Singer, Peter: Practical Ethics, Second Edition. Cambridge: Cambridge University Press, 1999.

Veröffentlicht am 31. August 2018

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