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Dialog über die wahre Freundschaft

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Theorien zur Freundschaft sind im 21. Jahrhundert sehr wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs. Denn in Zeiten von Facebook-Freundschaften, wo jeder den anderen in wertloser Weise als seinen Freund bezeichnet, stellt sich doch die Frage, was wahre Freundschaft eigentlich wirklich charakterisiert. Woran erkenne ich, dass jemand mein Freund ist? Was macht einen guten Freund aus?

In einer vorherigen Arbeit, die ich im Mai 2019 veröffentlicht habe, wurde der antike Ansatz von Aristoteles dem zeitgenössischen Ansatz von Hurka gegenübergestellt. Dabei kam ich zum Ergebnis, dass Aristoteles drei Formen der Freundschaft kennt, nämlich die Nutzenfreundschaft, die Lustfreundschaft und die Tugendfreundschaft. Während die Nutzenfreundschaft nur darauf ausgelegt ist, dass beide Parteien einen gemeinsamen Nutzen voneinander haben, steht bei der Lustfreundschaft der gegenseitige Lustgewinn im Vordergrund. Sie sind nicht sehr beständig und Reziprozität und Wohlwollen dem anderen gegenüber reichen bereits als Freundschaftskriterium aus. 1 Dabei sind diese beiden Formen jedoch unvollkommen und lediglich die Tugendfreundschaft ist eine vollkommene Form der Freundschaft. In der Tugendfreundschaft stehen der Freund und seine Qualitäten im Vordergrund und man liebt ihn um seinetwillen. Dies ist es, was diese Freundschaft so besonders tugendhaft macht. 2 Dementsprechend möchte man für den Anderen auch stets das Gute und setzt sich für ihn, ungeachtet seiner eigenen Interessen, ein. 3 Bei Hurka sind Freundschaft und Liebe eng verbunden. Dabei ist Freundschaft für Hurka ein mit Tugend verbundenes Wort, sodass der reine Nutzen oder die reine Erotik keine Form der Freundschaft im eigentlichen Sinne für ihn darstellen. 4 Hurka geht davon aus, dass Liebe stets ein angenehmes Gefühl ist, und dass man verschiedene Formen der Liebe annehmen kann 5, wovon eines, die freundschaftliche Liebe ist. Die erotische Liebe, zum Beispiel, umfasst vor allem das Gut der Lust, während Liebe im allgemeinen Sinne dagegen auch Wissen und Erfolg voraussetzt. 6 Mit Wissen meint Hurka, Wissen um die andere Person und die Fähigkeit, den anderen verstehen zu können. Die Person, die man am meisten liebt, sollte man daher auch am besten verstehen können, da man einen gemeinsamen Weg teilt und Alltagssituationen zusammen meistern können muss. 7 Hurka meint, dass Tugend im Alltag zwar auch wichtig sei, aber innerhalb einer Freundschaft noch wichtiger sei und in der Partnerschaft an höchster Stelle stehe. 8 Denn bei einem untugendhaften Verhalten dem Partner gegenüber ist nicht nur der untugendhafte Akt an sich verwerflich. Vielmehr ergibt sich daraus auch noch eine persönliche Konnotation, da man von seinem Partner Loyalität erwartet und sich auf ihn verlassen können muss. Wenn man dem anderen nicht mehr vertrauen kann, geht die Beziehung kaputt. Ein untugendhaftes Verhalten dem Partner gegenüber zeugt zudem von Respektlosigkeit 9. Damit lässt sich festhalten, dass auch bei Hurka eine Freundschaft auf Tugend basiert und man den Freund um seiner selbst willen liebt. Man liebt ihn so, wie er ist und man liebt ihn für das, was er darstellt. 10

Freundschaft ist ein so wichtiger Begriff, dass mein Freund Max Haas sich dem Thema über drei Jahre gewidmet hat. Wir haben viel gemeinsam über das Thema philosophiert und er hat mir gestattet, seine Gedanken zum Thema zu veröffentlichen und zu kommentieren. Als Grundlage dient sein Manuskript „Gedanken über Freundschaft“. Der erste Abschnitt trägt die Überschrift: „Beantwortung des Gedankens: Was ist Freundschaft?“. Haas ist der Meinung, dass alle menschlichen Wesen nach dem Guten streben, sodass das Gute die Wurzel all unserer Handlungen ist. Dabei ist alles Gute, dass wir erreichen wollen, stets angenehm, denn niemals könnte das Gute unangenehm sein, „ doch wohl uns als solches erscheinen“. Dieser Grundgedanke ist logisch: Menschen streben nach lustvollem und wollen Schmerz vermeiden. Das Lustvolle ist stets auch angenehm. Aber ist auch alles, was angenehm ist automatisch gut? Haas verneint dies: Nicht alles was angenehm ist, ist auch gut und so kommt es vor, dass wir irrtümlicherweise den Fehlschluss begehen, dass angenehmes Ungutes uns besser scheint, als das im Vergleich dazu eher als unangenehm erscheinende Gute. Dabei sind Haas und ich uns einig, dass das Gute niemals ungut und damit objektiv betrachtet unangenehm sein kann. Aber Haas ist bewusst, dass Lust und Unlust subjektive Kategorien sind, sodass es ein objektiv-unangenehmes gar nicht geben kann. Dies widerspricht sich auf den ersten Blick damit, dass das Gute stets angenehm sei. Aber ich denke, dass Haas hier auf pragmatische Weise erkannt hat, dass man Lust und Unlust differenziert betrachten muss, und dass es Situationen gibt, die sich für uns angenehmer anfühlen, obwohl eine dazu im Vergleich unangenehmere Situation besser wäre. Dabei ist die unangenehmere Situation aber nicht automatisch unangenehm per se. Sie schneidet nur im Vergleich der Optionen schlechter ab. Ich verstehe daher Haas wie folgt: Uns kann das Angenehme auch täuschen, da das Gute nicht mit dem Angenehmen gleichzusetzen ist, obwohl das Gute nur Angenehmes hervorbringt. Dass diese subjektive Qualität (das Angenehme) aus dem objektiven Guten folgt, halte ich für problematisch, denn ich denke, dass das Gute in anderen Fallbeispielen auch unangenehm für uns sein kann – zum Beispiel beim Thema Verzicht auf Luxus zum Wohle des Klimaschutzes. Haas entgegnet mir darauf aber, dass es sich dabei nur um ein Scheinübel handelt. Denn es sollte ja in unser aller Interesse liegen, dass der Planet nicht kaputt geht. Vielleicht reden Herr Haas und ich an dieser Stelle auch einfach aneinander vorbei. Denn keiner von uns beiden bestreitet, dass die Rettung des Planeten für uns gut wäre, sondern vielmehr beziehe ich mich auf die subjektive Qualität. Ich sage, dass es unangenehm ist, für den Klimaschutz auf etwas zu verzichten. Es tut schlichtweg weh. Max Haas dagegen ist der Meinung, dass wir in dem Moment des Verzichts gar nicht merken, wie gut es uns tut (also das es angenehm ist), weil es für uns eben auf längere Dauer angenehm ist und wir nicht nur den kurzen Moment (und damit das kurzlebige Gefühl) in Betracht ziehen dürfen. Dies erinnert mich vor allem an die Haas’sche Unterscheidung von Nützlichkeit à long terme und à court terme aus dem Gerechtigkeitsdialog.

Während ich das Gute als idealistisches Prinzip in platonischer Tradition sehe, scheint Haas das idealistisch Gute an utilitaristische Qualitäten anzupassen, indem das Gute nicht nur objektiv gut ist, sondern auch dem Wohlbefinden der Gesellschaft dient. Damit objektiviert er indirekt das Angenehme, obwohl es eigentlich durch und durch subjektiv ist, wie Haas selbst erkannt hat. Der Punkt, den ich hier also kritisiere ist nicht der Schluss, dass das Gute angenehm ist. Stattdessen sehe ich das Ganze wie folgt: Das Gute ist eigentlich objektiv – es ist gut an sich. Das Angenehme dagegen ist eher subjektiv – kann es ein Angenehmes an sich geben? Dies ist aber nur ein „Nebenkriegsschauplatz“, denn ich denke, dass es Haas eigentlich um etwas anderes geht. Er hebt nämlich hervor, dass wir doch eigentlich alle das Gute wollen, aber bewusst oder unbewusst dann doch Ungutes tun. Damit bricht Haas mit der platonischen Tradition, die besagt, dass wer das Gute erkannt hat, wird auch nur gut handeln 11. Weil wir ja aber eigentlich das Schlechte nicht wollen, kann in Ablehnung an das Schlechte sich das schlechte Gewissen herausbilden. Max Haas sagt hierzu: „Das schlechte Gewissen ist eine Regulierung des Schlechten.“ Man kann sich durch Gewöhnung jedoch eine Resistenz gegen das schlechte Gewissen erarbeiten und dadurch skrupellos werden. Dieses Argument kann ich insofern mittragen, dass Menschen schlechte Dinge tun, zum Beispiel sich selbst psychisch schädigen oder verletzen, aber dies gar nicht merken. Sie merken nicht, dass sie sich wehtun. Man erinnere sich an Celine Dions „All by myself“, indem der Charakter sehr einsam und alleine ist, und feststellt, dass die Zeiten des ständigen Partnerwechsels – so aus Spaß – vorbei sind. Dabei hat der Charakter wohl damals nicht gemerkt, dass dieser körperliche Spaß nicht die totale Erfüllung bietet und hätte wohl nicht gedacht, dass dies zur Einsamkeit führt. Nur weil wir nicht spüren, dass wir nicht leiden, heißt dies nicht, dass wir nicht leiden. Ich gebe zu, dass ich hier in Konflikt mit meinem judäo-buddhistischen Prinzip der Reinheit komme. Demnach geht es dem am besten, der sich rein fühlt, da ihn nichts mehr belästigt. Dieses Problem lässt sich jedoch auflösen: Ich habe vorgeschlagen, dass man die Reinheit durch Reflektion erlangt. Dies bedeutet, dass man sich über etwas Gedanken macht und das Ereignis evaluiert. Dadurch kann man sein Verhalten überprüfen und für die Zukunft regulieren und fühlt sich so besser. Es gibt nie eine Garantie, dass objektiv Gute zu erreichen, aber durch Reappraisal-Prozesse kann man sich dem so stark annähern, dass man eine Erleuchtungserfahrung macht. Ich würde daher vorschlagen, dass das schlechte Gewissen ein innerer Schrei nach einer Neubewertung eines Ereignisses ist. Dabei stellt Max Haas fest: „Jedoch hören wir nie auf, nach dem Guten selbst zu streben, auch wenn wir vom Weg abgekommen scheinen.“ Dem stimme ich zu, weil das Gute aus meiner Sicht etwas Göttliches darstellt, und wir stets bemüht sind, in Kontakt mit dem Göttlichen zu bleiben.

Für Max Haas ist das Gute ein Idealtyp: ein Zustand der Perfektion. Wir Menschen sind von Natur aus unvollkommen. Im letzten Satz sind wir uns beide einig. Wir als Menschen sind nicht perfekt. Wenn wir selbst das Gute wären, dann wären wir Gott. Wir können also dieses Ideal nie einnehmen, sondern uns ihm immer nur annähern. Dabei sind wir beide der Ansicht, dass die Abweichung vom Guten ein Mangel am Guten ist und jeder kann in sich eine Abweichung vom Guten finden. Max Haas sagt weiterhin: „Unser Sein ist das Streben nach dem Guten, wir wollen das Gute erreichen. Es ist ein innerer Plan, den ein jeder von uns unbewusst erreichen will, doch unsere Natur, unser Wesen, lässt uns daran scheitern. Unser Sein kann nie von sich selbst aus das Gute, also das Streben nach dem Vollkommenen, erreichen.“ Damit kann ich davon ausgehen, dass er das Gute als rein utilitaristischen Begriff, wie er ihn im Gerechtigkeitsdialog definiert hat, aufgegeben und durch ein idealistisches Prinzip ersetzt hat. Ich darf jedoch anmerken, dass Herr Haas sich eher als idealistischer Utilitarist sieht, und Platon mit dem Utilitarismus verbinden möchte. Dagegen sehe ich mich eher als idealistischer Linker (pragmatischer Sozialismus), der den materialistisch-ausgerichteten Linken und dem ideologischen Sozialismus entgegensteht. Damit sehen wir beide das Gute als objektiv Höchstes an. Deren Erreichung ist lobenswert, aber unmöglich, da es die Vergöttlichung des Menschen bedeuten würde. Und trotzdem jagen wir immer dem Guten hinterher und wir begreifen Teile des Guten, aber dennoch kriegen wir es nie zu fassen.

Max Haas kommt daher zu folgendem Ergebnis: „Der Erreichung unseres inneren Plans durch uns selbst beraubt, suchen wir nach einer Hilfe. Eine Stütze, um unseren Mangel, durch einen anderen auszugleichen. Dies ist die Geburtsstunde der Freundschaft. Freundschaft entsteht aus einem Mangel an Vollkommenheit. Jenes, das wir brauchen, um das Gute zu erreichen, suchen wir in einem anderen, selbst aber dient das, an dem uns nichts mangelt, als Ausgleich für den Mangel des Anderen. Das kann von Banalitäten bis hin zu Komplexitäten reichen. Hier ein banaleres Beispiel: Zwei Männer sitzen in einer Wirtschaft. Beiden ist langweilig. Die Langeweile ist hier ein Mangel zum perfekten Zustand. Um diesen dann zu erreichen, beginnen die beiden Männer miteinander zu reden, sie schließen (auch wenn noch sehr schwach) eine Beziehung zueinander, die wir vereinfachungshalber jetzt schon Freundschaft nennen. Und auch wenn der Mangel bei beiden gleich ist, und sie somit das Gleiche verbindet, gleichen sie miteinander diesen Mangel aus. Der Zustand der Perfektion ist zwar nicht erreicht, doch sind sie ihm näher als zuvor.“ Diese Ansicht teile ich, sodass ich mir Haas hier zu Eigen mache. Dabei zeigt Haas nicht nur, dass ein Mangel bei dem anderen gefunden wird (Ungleichheitsprinzip), sondern auch gleiche Mängel als Ausgangspunkt gelten (Gleichheitsprinzip). In beiden Fällen gilt aber das von Hurka zuvor postulierte, dass man den Freund seinetweillen liebt – I love you for who you are! Man nutzt die Beziehung nicht, weil man bewusst den Mangel sieht, sondern durch den Mangel, geht man eine Freundschaft ein, und schätzt den anderen um seinetwillen, nämlich so wie er ist. Dies ist der Beginn der Tugendfreundschaft. Haas und ich sind uns einig, dass der reine Nutzen oder Lustgewinn keine wirkliche Freundschaft ausmacht. Ferner noch sehen wir jene als falsche Freunde an, da sie nur bei uns sind, solange sie uns nutzen, aber niemals zu uns halten würden.

Dabei sieht Haas im Grund zur Freundschaft immer die Behebung des Mangels. Zwar kann man Gleiches durch Gleiches beheben, aber bei komplexeren Mängel reicht das Gleiche nicht aus. Herr Haas fügt dabei das folgende Beispiel an: „Zum Beispiel sucht die extrovertierte Berta nach einem guten Zuhörer, den sie in dem introvertierten Hans eher findet, als in dem extrovertierten Exzentriker Peter. Potentiell ist der bestmöglichste Freund der Unähnliche, ohne aber das komplette Gegenteil von uns selbst zu sein. Dazu möchte ich aber später ins Detail gehen. Wir begehen häufig den Fehler zu glauben, den Ähnlichsten als Freund zu suchen. Können diese auch Freunde sein, so enden sie schneller, da deren Zweck, eher schwinden könnte. Je ähnlicher ein Freund ist, umso langweiliger werden sie für uns, haben sie doch das, was wir selbst ohne sie bereits haben.“ Wenn Menschen also zu ähnlich sind, so mögen sie einem zwar nutzen, aber es kann keine Freundschaft im Sinne einer Tugendfreundschaft entstehen. Haas begründet dies mit der daraus resultierenden Langeweile. Ich selbst stimme dem nicht vollkommen zu. So habe ich auch bedenken, dass zu gleiche Menschen Freunde sein können, jedoch nicht aus Langeweile, sondern aufgrund von Konkurrenz. Der andere ist so ähnlich, dass man stets der Bessere von Beiden sein möchte. Ausnahme bilden Beziehungen unter Gleichen, da hier der Mangel an geteilter Sexualität beglichen werden kann. Gleichzeitig ist man in Gesprächen und im Alltag auf einer Wellenlänge und muss sich nicht immer mit dem Ungleichen herumschlagen. Die Gefahr ist aber auch hier, dass dies auf Dauer als Langeweile wahrgenommen werden kann, wenn die Herausforderung fehlt. Jedoch gibt es auch Paare, denen diese eingespielte Routine eine Sicherheit im Alltag gibt. Haas wendet auf mein Beispiel der Konkurrenzfreundschaft ein, dass es sich hierbei gar nicht um eine Tugendfreundschaft handelt, da man hier dem anderen kein Wohlwollen entgegenbringt und ihm das Seinige nicht gönnt. Wenn also zwei scheinbar beste Freundinnen sich immer gleichen wollen und die eine die Frisur der anderen übernimmt, die andere wiederum die gleiche Handtasche kauft, so gönnt man dem anderen gar nicht seine Einzigartigkeit. Dem stimme ich zu, da hier Neid die treibende Kraft ist – man ist neidisch auf das, was die andere hat und möchte es selber auch haben. Damit handelt es sich hierbei nur um eine Scheinfreundschaft.

Doch wie steht Herr Haas zu potentiellen Freunden, die das Gegenteil von uns verkörpern? Dazu schreibt er: „Der Gegenteilige ist uns fremd. Er kommt uns bedrohlich vor. Die Furcht entstammt aus der Ungewissheit und so meiden wir ihn. Doch der Unähnliche ist spannend und nicht zu fremd, um ihn meiden zu wollen.“ Haas unterscheidet hier also zwischen jenem, der lediglich uns unähnlich ist und jenem, der das Gegenteil von uns verkörpert. Dabei haben laut Haas Personen, mit denen wir Freundschaften schließen eigene verschiedene Eigenschaften, wovon uns manche als angenehm und andere wiederum als unangenehm erscheinen. Entscheiden wir uns für die Person als Freund und schließen eine Freundschaft mit ihr, „so nehmen wir den Freund mit all seinen Eigenschaften in Kauf“. Haas unterstützt also hier ebenfalls die Position Hurkas, die auch ich präferiere: den Freund lieben wir seinetwillen, und zwar so wie er ist. Wir lieben den Freund, für den Menschen den er ist und akzeptieren, dass er als Mensch niemals vollkommen sein kann, da nur das Gute (welches ich mit Gott identifiziere) vollkommen ist. Auch zeigt Haas hier, dass die Reziprozität der Freundschaft, wie schon Aristoteles sie voraussetzte, auch für ihn ein unabdingbares Charakteristikum bildet. Es gibt also keine einseitige Freundschaft.

Aber warum nehmen wir die unangenehmen Eigenschaften in Kauf? Während Aristoteles dies mit der besonderem Bindung zum Freund erklärt (weswegen es ja auch solange dauert eine Tugendfreundschaft aufzubauen), erklärt Hurka dies mit der Liebe zum Freund und der gegenseitigen Anerkennung (Respekt gegenüber dem Freund). 12 Haas dagegen führt als Argument an, dass wir die unangenehmen Eigenschaften akzeptieren, „da wir uns erhoffen, dass die angenehmen Eigenschaften wert genug sind, das Ideale so gut wie möglich zu erreichen, ohne aber zu sehr unter dem Unangenehmen zu leiden. Wir tolerieren das Unangenehme aufgrund dessen, was uns als angenehm erscheint. Durch Zeit und Intensivierung können wir angenehme Eigenschaften, die wir nicht selbst besitzen, innerhalb dieser Freundschaft erlangen. Die Eigenschaften färben auf uns ab und wir besitzen sie in dieser Freundschaft“. Schließlich treten diese Eigenschaften auch außerhalb der Freundschaft in abgeschwächter Form auf. Dass der Umgang mit anderen auf uns abfärbt, sehe ich aber nicht nur in einer Freundschaft. Auch nicht-freundschaftliche schlechte Umgänge färben auf uns ab. Insofern sehe ich den Freund als Möglichkeit, dass seine guten Gewohnheiten auch auf uns abfärben. Dies hilft uns laut Haas übrigens, dem Guten innerhalb der Freundschaft näher zu kommen. Insofern ist die Freundschaft meiner Meinung nach auch eine Reflektion. Der Freund hilft bei der Selbstreflektion, ähnlich der meditativen Eigenreflektion in meinem jüdischen Buddhismus, indem die meditative Reflektion eine Form der Reinigung ist. Haas betont aber: „Außerhalb der Freundschaft ändern wir uns leicht, können aber nicht dieselbe Intensivität erreichen wie in der Freundschaft.“ Der Freund wäre somit kein Ersatz zur eigenen Selbstreflektion, sondern nur eine Ergänzung zu ihm.

Die zweite Teilüberschrift in Haas‘ Fragment lautet „Beantwortung des Gedankens: Der beste Freund“. In diesem Abschnitt erklärt Haas, dass wir in seltenen Fällen eine Freundschaft eingehen, welche durch viel Mühe und Zeit sich so intensiv entwickelt, „dass wir nicht nur die angenehmen Eigenschaften des anderen für uns selbst entwickeln können. Wir fangen an die unangenehmen Eigenschaften des anderen als angenehm zu empfinden und an diesen teilzuhaben. Man entwickelt selbst diese Eigenschaft in sich innerhalb der Freundschaft und erkennt, dass diese, vorerst als unangenehm geglaubten Eigenschaften, diejenigen sind, die uns gefehlt haben um das Ideal zu erreichen.“ Damit ist der beste Freund ein seltenes Phänomen, ebenso wie bei Aristoteles die vollkommene Freundschaft äußerst selten ist (1156b) 13. Daher kommt nach Haas „nur innerhalb dieser selten vorkommenden Freundschaft die nächstmöglichste Nähe zum Guten“ zustande, und „so gilt es diese auch so oft zu pflegen wie nur möglich, denn außerhalb ihr bleiben wir weiterhin mangelhaft.“

Der dritte Abschnitt trägt die Überschrift „Beantwortung der Frage: Was ist wichtiger? Liebe oder Freundschaft?“. Max Haas schreibt dazu: „Oftmals hörte ich bereits das Streitgespräch über die Frage, was wichtiger sei: Freundschaft oder Liebe? Die einen meinen, Freundschaft sei wichtiger, da sie beständiger sei als die Liebe und die meisten Partnerschaften sich nach der Verliebtheitsphase wieder trennen würden. Die anderen hingegen meinen wiederum, die Liebe zum Partner sei das Wichtigste, da sich Geist und Triebbefriedigung vereinen. Um ehrlich zu sein glaube ich, dass es sich bei diesem Streit um einen Streit um nichts handelt. Zu fragen ob Freundschaft oder Liebe wichtiger sei, ist so als ob man fragen würde ob Erdäpfel oder Kartoffeln besser sind. Wahre Freundschaft ist Liebe. Eine emotionale Beziehung begründet sich auf dem Streben nach dem Guten. Ob und wie sehr einer wichtig ist, erkennt man daran, wie nah man mit ihm die Vollkommenheit erreichen kann. Die Triebbefriedigung ist eine Festigung der emotionalen Bindung und ist keine Mangelbehebung des Seins. Sie ist angenehm und schadet nicht, aber ist nicht nötig um dem vollkommenen näher zu sein.“ Zum einen habe ich oben gezeigt, dass geteilte Sexualität unter Gleichen durchaus eine Mangelbehebung sein kann und dadurch eine Partnerschaft durch die mangelnde Triebbefriedigung zu einer Vollkommenheit führt. Sexualität ist durchaus eine Form der Vollkommenheit: „Through the sexual act, the two lovers want to reach a unification. Therefore, love and sex are two interacting forces. Together, they can reach a strongness in which people can go beyond their body and thus it becomes an out-of-body experience, a divine unification. It is a kind of communication without any words, and without any thoughts. Therefore, it is a communication beyond our thoughts. We understand divinity in this moment because we understand the purest Good of the other person in us, and as such, it is a spiritual act”. 14 Dabei sehe ich Liebe als eine Kraft an, die Grenzen überwinden kann. „Love overcomes hate, overcomes the aesthetic beauty and thus beauty and ugliness become the same, as we love them equally. Beauty is what the lover strives for.“ 15 Haas wendet dagegen ein, dass Liebe auch besitzergreifend werden kann, während dies in der Freundschaft nicht der Fall sei. Ich halte wiederum dagegen, dass auch Freunde – vor allem langjährige Freunde – besitzergreifend werden können, aus Angst, die Freundschaft zu verlieren oder ausgetauscht zu werden. Haas kontert, dass dies der Punkt sei, wo die Freundschaft aufhört. Dies bedeutet, dass das Ergreifen von Besitztum immer dazu führt, dass das ideale Gute nicht mehr durchscheint und die Beziehung vergiftet wird bzw. zu ihrem Ende führt. Schließlich kommentiert Haas: „Würde man die höchstmöglichste Freundschaftsliebe mit der höchstmöglichsten Partnerliebe vergleichen, so würde man erkennen, dass sich beide der geistigen Vollkommenheit, das Gute selbst, in idealster Weise auf gleicher Stufe angenähert haben.“

Als Fazit lässt sich sagen, dass Haas und ich uns einig sind, dass jeder Mensch stets nach dem Guten strebt. Auch wenn er Schlechtes tut, und dies auch wissentlich tut, so hat jeder Mensch doch eigentlich von Natur aus ein gutes Herz. Das schlechte Gewissen ist demnach eine eigene Reflektion zur Regulation des Schlechten. Wenn wir Gutes tun, dann erscheint dies uns immer angenehm, zumindest auf lange Dauer, selbst wenn es uns anfangs vielleicht schmerzlich erscheint (z.B. Verzicht, der auf Dauer doch für alle nützlich ist). Da alle Menschen unvollkommen sind, gleicht der Freund einen Mangel aus. Seine Ideen, Werte und Einstellungen färben auf uns ab und führen dazu, dass wir zu tiefergehenden Reflektionen angeregt werden. Vor allem in intensiven Freundschaften, in denen Respekt und Ehrlichkeit wichtig sind, kann die eigene persönliche Entwicklung dadurch beeinflusst werden. Eine gute Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass man positiv beeinflusst wird und somit dem Ideal näherkommt. Konkurrenzfreundschaften dagegen sind keine wirklichen Freundschaften, da man stets vom Neid getrieben wird. Der Antrieb zu einer guten Freundschaft wiederum ist die Liebe. Kann die Liebe zudem den gegenseitigen Trieb der sexuellen Erfüllung vervollkommnen entsteht eine Partnerschaft, die aber über das Körperliche hinausgehen muss, um beständig zu bleiben. Der körperliche Kontakt dient lediglich der ersehnten Vereinigung und der damit einhergehenden Verschmelzung, die für einen Moment eine höhere Einheit bilden. Haas hat aber durchaus Recht, dass die bestmöglichste Freundschaft ebenso wie die bestmöglichste Partnerschaft, dem Ideal, am nächsten kommen können. Damit ist die Freundschaft eine Form der Vervollkommnung, indem wir unsere Mängel beheben. Zwar werden wir dies nie vollkommen schaffen, jedoch können wir uns dadurch weiterentwickeln. Gleiches gilt für die Partnerschaft, die meiner Meinung nach vor allem eine Vervollkommnung in der Tiefe ist, und zwei Liebende können gemeinsam Grenzen überwinden und Neues erschaffen.

Literatur:

[1] Timo Schmitz: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Aristoteles‘ und Hurkas Grundverständnis von Freundschaft. 19. Mai 2019.

[2] ebda.

[3] ebda.

[4] ebda.

[5] Thomas Hurka: The Best Things In Life – A Guide to What Really Matters. New York/ Oxford: Oxford University Press, 2016, p. 143.

[6] ebda.

[7] Schmitz, 19. Mai 2019.

[8] vgl. Hurka, 2016: 145.

[9] vgl. Hurka, 2016: 145 f.

[10] Schmitz, 19. Mai 2019.

[11] siehe hierzu Platons Gorgias.

[12] siehe hierzu Schmitz, 19. Mai 2019.

[13] Aristoteles: Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Eugen Rolfes. Köln: Anaconda Verlag, 2009.

[14] Timo Schmitz: Short Introduction Into My Judeo-Buddhism - XIX. Sexuality as unity. 10 August 2019.

[15] Timo Schmitz: Short Introduction Into My Judeo-Buddhism - XVII. Love and Sexuality as forces. 10 August 2019.

Veröffentlicht am 2. September 2019

Politische und Philosophische Analysen

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