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„Vermittlungsprobleme“

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Als der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den ersten wissenschaftlichen Analysen seiner Reform des Sozialsystems konfrontiert wurde, reagierte er auf die Kritik der Fachleute mit der Bemerkung, da gebe es ein „Vermittlungsproblem“. Dabei hatten viele eher ein Problem mit den Fakten: Von einem Tag auf den anderen waren auf Betriebsrenten die vollen Beiträge zur Krankenversicherung aus eigener Tasche zu zahlen. Viele Leistungen der Krankenversicherungen wurden gestrichen. Die Zuzahlungen für Medikamente stiegen immer weiter.

Langzeitarbeitslose bekamen wie Sozialhilfeempfänger „Hartz vier“ und fühlten sich fortan wie Bittsteller. Die Arbeitsämter nannten sich „Agenturen für Arbeit“, die aber auch nicht mehr Arbeit zu vermitteln hatten als vorher. Stattdessen gab das neue Gesetz den Behörden erheblich mehr Möglichkeiten für Zwangsmaßnahmen als bis dahin. Um den Missbrauch des Systems durch wenige zu unterbinden, wurden viele drangsaliert – und werden es noch heute. Das war für Gerhard Schröder aber nur ein PR-Defizit, also ein Problem der Überzeugungsarbeit.

Es folgten ein Wahlkampf und ein Regierungswechsel. Jetzt wurden „handwerkliche Fehler“ eingeräumt, und viele kluge Köpfe arbeiten seitdem an der Ausbesserung dieser Fehler. Trotzdem ist seit damals das an sich gute Wort „Reform“ gleichbedeutend geworden mit „Verschlechterung“. Und wenn das Wort „Eigenverantwortung“ fällt, denken viele Menschen leider inzwischen nicht mehr an all das Gute, das zu diesem Begriff gehört – hier schwingt ja auch so etwas wie „Selbstbestimmung“ mit – sondern sie hören nur noch: „Ich soll jetzt alles selber zahlen“. Leider war es ja auch genau so gemeint. Das ist fatal – auch unter dem Gesichtspunkt von PR- und Überzeugungsarbeit. Da ist etwas gründlich schief gelaufen.

Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt, Autor eines viel diskutierten Buches mit dem Titel „Bullshit“, beschrieb in seinem Essay „Über die Wahrheit“ jene Schwindler und Blender, die versuchen, mit dem, was sie sagen, die Meinungen und Einstellungen ihrer Mitmenschen zu manipulieren. „In erster Linie“, so Frankfurt, „interessiert sie daher die Frage, ob das, was sie sagen, die Wirkung hat, diese Manipulation herbeizuführen. Dementsprechend ist es ihnen mehr oder weniger gleichgültig, ob das, was sie sagen, wahr oder falsch ist.“

Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit ist für ein zivilisiertes Leben heimtückischer und gefährlicher als das direkte Lügen. Denn Leute mit dieser Einstellung bestreiten grundsätzlich, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben kann. Sie haben ein Problem mit der objektiven Realität, mit der Anerkennung von Tatsachen, mit der sinnvollen Unterscheidung von Wahr und Falsch ganz allgemein. Ihnen fehlt eine wesentliche Orientierung fürs Leben. Und je größer der Einfluss solcher öffentlichen Redner ist, desto mehr Menschen ziehen sie mit in den Strudel ihrer ganz persönlichen Unsicherheit.

Ich weiß nicht, ob Musiker dafür eine besondere Antenne haben. Aber ich finde es schon interessant, dass sich 1977 eine österreichische Rockband „Erste allgemeine Verunsicherung“ nannte. Könnte es sein, dass diese Band bis heute zu den Erfolgreichsten im deutschen Sprachraum gehört, weil sie sich mit Millionen von Verunsicherten solidarisiert hat? Weil sie das verbreitete Gefühl aufgreift, die Menschen würden ganz allgemein immer mehr belogen, getäuscht, verunsichert und abgezockt?

Dabei gibt es unbestrittene Wahrheiten, auch wenn man an keine göttliche Offenbarung glaubt und der Wissenschaft misstraut. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass sein Name und seine Adresse richtig sind und dass er die Wahrheit sagt, wenn er sie nennt. Falschaussagen bei so simplen Dingen vor Gericht oder vor der Polizei sind sogar strafbar. Selbst diejenigen, die eine objektive Wirklichkeit oder Wahrheit leugnen und bestreiten, man könne gültig zwischen Wahr und Falsch unterscheiden, beteuern, dies sei die Wahrheit. Sie behaupten, sie sagen die Wahrheit, wenn sie sagen, es gebe keine.

Es liegt im Trend, Wünsche als Tatsachen zu verkaufen und Vermutungen als wissenschaftliche Erkenntnis. Aber ohne Glaubwürdigkeit bleibt auch die beste Darstellung und Selbstdarstellung ein „Vermittlungsproblem“. Wer so redet, darf sich aber über die Folgen nicht wundern: Die Bürger sind nicht dumm und werden eben bockig, wenn man ihnen Ungerechtigkeiten als Reformen verkaufen will.


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