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3.2. Das UnheimlicheUnheimliche, das als Fremdes und Vertrautes. Freuds Lektüre von E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.

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Inwiefern hat das Thema des UnheimlichenUnheimliche, das mit dem vielschichtigen Makro-PhänomenPhänomen des Alteritären zu tun? Der Terminus enthält, wenn auch scheinbar in negierter FormForm, den semantischen Kern ‚heim/Heim‘, auf den sich jene HeimatHeimat bezieht, die nicht selten als Gegenstück zur Fremde begriffen wird. Wer nicht zu Hause ist, der befindet sich in der Fremde. Aber wie verhält es sich nun mit dem Unheimlichen? Ganz offenkundig ist es mit dem Fremden nicht gleichzusetzen, hat aber mit dem Phänomenkomplex des Befremdlichen und der FremdheitFremdheit einiges gemein.1

Um das UnheimlicheUnheimliche, das in seiner schillernden Bedeutungsvielfalt zu erkunden, gibt es Sigmund FreudFreud, Sigmund, dem Begründer der PsychoanalysePsychoanalyse, zufolge zwei Möglichkeiten: Man kann sich etymologisch nach den verschiedenen Bedeutungen von unheimlichunheimlich aber auch heimlichheimlich umsehen, aber es ist auch denkbar, all jene Situationen zu ergründen, in denen jenes Unheimliche auftritt: „Ich will gleich verraten, daß beide Wege zum nämlichen Ergebnis führen, das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“2 Insofern gehört das Unheimliche nicht nur zum Komplex des Fremden, sondern auch zum Komplex des Vertrauten, das z.B. fremdfremd wird. In seiner kurzen Abhandlung Das Unheimliche (1919) wird Freud, wie er selbst schreibt, beide Wege beschreiten, den etymologischen und den ‚phänomenalen‘.

Freud bezeichnet das „UnheimlicheUnheimliche, das“ als eine Kategorie, die ein Randgebiet der ÄsthetikÄsthetik darstellt, aber für die PsychologiePsychologie von enormem Interesse ist. Damit akzentuiert er einen markanten Gegensatz zwischen PsychoanalysePsychoanalyse und Ästhetik. Die Psychoanalyse arbeite nämlich, so Freud, in „anderen Schichten des Seelenlebens“3 als jene. Umgekehrt scheint sich die traditionelle RegelRegelästhetik, die sich vornehmlich auf die Beschäftigung mit dem Schönen konzentriert hat, nicht sonderlich für PhänomenePhänomen des Unheimlichen zu interessieren. Aus diesem GrundGrund sei es, als Kreuzungspunkt des Ästhetischen und des Psychischen, in der Ästhetik unterbelichtet geblieben. In seiner knappen Abhandlung verweist der Begründer der Psychoanalyse auf die Studie von E. JentschJentsch, Ernst Zur Psychologie des Unheimlichen (1906), die schon Grundlage von E.T.A. HoffmannsHoffmann, E.T.A. Text und auch Offenbachs Operette Hoffmanns Erzählungen war. Jentschs SchriftSchrift hat Freud also ganz offenkundig den Hinweis auf die Meistererzählung des Unheimlichen, E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der SandmannSandmann (1817), entnommen. Nebenbei bemerkt verwendet Hoffmann selbst den Begriff des Unheimlichen in der fast gleichzeitig entstandenen Novelle Das Majorat.4 Eine strategisch wichtige Rolle für den Text über das Unheimliche und Fremde spielt aber, wie wir noch sehen werden, auch die Studie seines Schülers Otto RankRank, Otto über den DoppelgängerDoppelgänger (→ Kapitel 12).

Die Bedeutung des deutschendeutsch Wortes unheimlichunheimlich ist – wie Freud, der die Nachschlagewerke seiner ZeitZeit zur Hand nimmt, ausführt – überaus komplex und widersprüchlich. Aber bevor der Autor auf die Etymologie des deutschen Ausdrucks unheimlich eingeht, nimmt er einen Umweg, indem er nach fremdsprachigen Pendants zum Wort Ausschau hält:

Latein: locus suspectus, intempestus

Altgriechisch: xénos5

Französisch: inquiétant, sinistre, lugubre, mal à son aise

Spanisch: sospechoso, de mal aguëro

Das Italienische und Portugiesische verwenden Umschreibungen, während das Arabische und das Hebräische unheimlichunheimlich als dämonisch oder schaurig übersetzen. Das altgriechische Wort xenos bezeichnet indes in seiner primären Bedeutung den Fremden oder als to xenon das Fremde (als neutrales Substantiv) und macht somit schon auf den Zusammenhang von fremdfremd und unheimlich aufmerksam.

Das deutschedeutsch Wort leitet sich indes negativ von Heim ab, jenem Wort, das auch der HeimatHeimat zugrunde liegt. Der Heimatbegriff ist für gewöhnlich der Gegenbegriff zur Fremde, und zwar unter beiden perspektivischen Blickwinkeln: Aus der eigenenEigentum Perspektive bin ich in der Fremde, der MenschMensch in der DiasporaDiaspora, im ExilExil. Aus der Perspektive des und der Anderen ist er/sie ist ein/e Fremde/r, weil er/sie sich nicht in seiner/ihrer Heimat befindet und weil er/sie hier nicht zu Hause ist.

Was aber bedeutet das Wort heimlichheimlich? Ganz offenkundig hat es, Freud zufolge, mehrere Bedeutungsnuancen und KonnotationenKonnotation:

1 Bedeutung: heimlichheimlich = heimelig, zum Hause gehörig, nicht fremdfremd, vertraut, zahm, traut, traulich (lat. familiaris)

2 Bedeutung: versteckt, verborgen gehalten, „so dass man Andere nicht davon oder darum wissen lassen, es ihnen verbergen will“.6

In seinem etymologischen Streifzug ist im Hinblick auf die erste Bedeutung ein gewisser manipulativer Trick unübersehbar,7 findet sich doch weder im Grimmschen WörterbuchGrimmsches Wörterbuch8 und schon gar nicht in den Lexika unserer Tage9 eine Bedeutungszuschreibung, die das Heimliche über den Umweg des Heimeligen mit dem Heimisch-Vertrauten in eins setzen würde. Kurzum, das Wort ‚heimlichheimlich‘ hat von Anfang an jene ‚entstellte‘ Bedeutung, die es zum Gegenpol des verflixt ähnlichen Wortes ‚heimisch‘ oder ‚heimelig‘ macht. Es ließe sich also allenfalls sagen, dass das Wort eigentlich auf GrundGrund der LogikLogik des Deutschen diese Bedeutung haben müsste bzw. könnte. Denn die Nachsilbe -lich zeigt eine zumeist wertneutrale Adjektivierung an, auch wenn bei Wörtern wie ‚hässlich‘ (HassHass), ‚zierlich‘ (Zier) bzw. ‚lieblich‘ (LiebeLiebe) eine gewisse Bedeutungsverschiebung unübersehbar ist. In diesem Sinne ließe sich sagen – und das käme Freuds Deutung wieder nahe –, dass das Heimliche etwas ist, dass daheim, vor den Augen anderer verborgen, stattfindet.

In der zweiten Bedeutung fällt die Bedeutung von „heimlichheimlich“ weithin, wenn auch nicht so eindeutig, wie es Freud suggeriert, mit dem „UnheimlichenUnheimliche, das“ zusammen.10 Freud zitiert SchellingSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph: „Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen […] bleiben sollte und hervorgetreten ist.“11 Das Heimliche wird zum Unheimlichen: „Wir nennen das unheimlichunheimlich, Sie nennen’s heimlich.“12 (Gutzkow) Der Ausdruck unheimlich durchkreuzt also Freud zufolge – das ist schon ein bedeutsamer und bemerkenswerter Befund – die binäre OppositionOpposition, die mit dem Präfix un angezeigt zu sein scheint. Das Unheimliche ist nicht das Gegenteil von heimlich, weil sich bereits die Bedeutung des Heimlichen entscheidend verschoben hat. Es ist aber auch nicht dasselbe wie das Heimliche. Etwas Störendes, das nicht in das Vertraute und Eigene integriert werden kann, liegt ihm zugrunde. So ist das Unheimliche gewiss nicht etwas, das zum Heim und damit zum symbolischen EigentumEigentum gehört, aber das lässt sich auch für das Heimliche sagen, das ja nicht in die symbolische Ausstattung des Heimes passt und daher verschwiegen werden muss. Das ist genau der Punkt, der Freud an diesem PhänomenPhänomen interessiert.

Hoffmanns Erzählung beginnt im narrativen Format einer Brieferzählung, an der drei Personen, Nathanael, der Protagonist, ein Student und angehender romantischer Poet, seine rational veranlagte Verlobte Clara und deren Bruder beteiligt sind. Die drei kennen sich schon von Kindesbeinen an. An diese brieflichen DialogeDialog schließt sich dann ein Text an, in der die Erzählerrede vorherrscht. Die GeschichteGeschichte nimmt ihren Ausgang von der Begegnung Nathanaels mit einem italienischen Optiker, der ihm magische Augengläser verkauft, mit deren Hilfe er später eine schöne FrauFrau im Haus gegenüber, nämlich die PuppePuppe Olimpia, sieht, in die er sich unsterblich verliebt. Die Begegnung mit dem merkwürdigen Coppola rufen in ihm traumatische Kindheitserinnerungen hervor, in deren ZentrumZentrum der früh verstorbene VaterVater und dessen furchterregender FreundFreund Coppelius stehen. Beide Männer sind zusammen allabendlich in merkwürdige ‚alchemistische Experimente‘ verwickelt gewesen, an denen die KinderKind offenkundig nicht teilhaben sollten, weswegen sie mit der Geschichte vom SandmannSandmann ins Bett geschickt worden sind. Der Sandmann ist hier Teil einer schwarzen Pädagogik und eine böse, dämonische Gestalt, die den unartigen Kindern die Augen ausreißt. Die Gestalt des Sandmanns verschmilzt in der kindlichen Erinnerung mit der des unheimlichenunheimlich Alchimisten, der ebenfalls nach den Augen des Kindes trachtet. Im Augenglashändler Coppola will der Student den Coppelius seiner Kindheit wiedererkannt haben, wobei die Ähnlichkeit des Namens, aber auch gewisse äußerliche Gemeinsamkeiten, von entscheidender Bedeutung sind.

Clara und ihr Bruder wollen Nathanael diese ‚Hirngespinste‘ ausreden und bitten ihn flehentlich zur VernunftVernunft zu kommen. So fordert ihn seine Verlobte auf, eine phantastische GeschichteGeschichte, die er geschrieben und die das Geschehen der Kindheit zum Gegenstand hat, zu verbrennen. Nathanael verstrickt sich indes immer weiter in die von Coppola und einem italienischen Professor, Spalanzani, dem VaterVater der schönen Olimpia, inszenierten Ereignisse. Die stumme und starre Schönheit, derentwegen der junge MannMann seine rational denkende Verlobte vergessen und verlassen möchte, erweist sich am Ende als eine täuschend echte Nachahmung, als ein AutomatAutomat, für den der Konstrukteur scheinbar echte Augen benötigt. Dies bildet ganz offenkundig die AnalogieAnalogie zu der traumatischen Kindheitssituation mit dem SandmannSandmann. Bei einem Streit zwischen den beiden Fremden – beide sind Italiener – geht die schöne PuppePuppe entzwei.

Nathanael verfällt in eine schwere psychische KrankheitKrankheit und scheint am Ende doch von den schockartigen – inneren wie äußeren – Ereignissen geheilt zu sein. Er kehrt, scheinbar von seinem Wahn befreit, zu seiner Verlobten zurück. Clara schlägt ihm einen Ausflug in die Stadt und auf den Rathausturm vor. Unter den MenschenMensch, die er vom Turm aus sieht, glaubt er den Advokaten Coppelius zu erkennen, der höhnisch zu ihm hinaufblickt. Er bricht in Raserei aus und versucht, seine Verlobte vom Turm in die Tiefe zu stürzen. Zuletzt aber stürzt er sich selbst in die Tiefe. Aber selbst durch das tragische Ende des jungen Romantikers bleibt das Spannungsverhältnis zwischen PhantasiePhantasie und WirklichkeitWirklichkeit bestehen, auch wenn das Ende die zerstörerische MachtMacht der Phantasie, vor der sich Clara und ihr Bruder immer schon gefürchtet haben, scheinbar bestätigt. Durch die VerschiebungVerschiebung der Erzählperspektive bleibt unklar, ob nur Nathanael oder auch die anderen Figuren jenen mysteriösen Coppelius sehen können, den Hoffmanns Protagonist von Anfang mit Coppola identifiziert hat.

Unverkennbar ist, wie wir noch sehen werden, die Lesart Freuds durchaus selektiv. Sie greift nämlich ausschließlich jene Aspekte aus dem literarischen Text auf, die für die Entwicklung der eigenenEigentum Theorie des UnheimlichenUnheimliche, das als eines Fremden, das vertraut war, aber verdrängt worden ist, von Relevanz sind:

 Freud erzählt die GeschichteGeschichte vom SandmannSandmann in einem durchgängigen Format, während sie bei Hoffmann multi-perspektivisch ist. Letzterer stellt die Geschichte im ersten Teil nämlich als Brief-Erzählung dar. Freud löscht aber damit die polyphone Struktur des Textes zugunsten einer einzigen Lesart auf.

 Freud erzählt die GeschichteGeschichte zeitlich linear, während sie bei Hoffmann diskontinuierlich erzählt wird (durch die Verwendung von Erinnerungs-Rückblenden).

 Freuds Nacherzählung erzeugt DistanzDistanz, während die Hoffmannsche die Leserschaft in den opaken Raum der Erzählung mit hineinzieht.

Das führt in Hoffmanns Textur dazu, dass die Erzählung die Leserschaft hinsichtlich des Geschehenen im Unklaren lässt; was geschehen ist, lässt sich nicht auflösen. So weiß die Leserschaft nicht, ob es sich nur um Nathanaels Phantasmagorien handelt und was in seiner Kindheit wirklich passiert ist.13

Freuds Nacherzählung, die hier als ein eigenerEigentum Text verstanden wird, lässt sich auch als ein Metatext begreifen, der den Text Hoffmanns wiederholt, überschreibt und zugleich abwandelt. Die Unterstreichungen der im Folgenden abgedruckten Version Freuds markieren jene figuralen und dramatischen narrativen Eckpunkte, die den Plot seiner Nacherzählung bilden. Diese wird in voller Länge wiedergegeben, wobei für die Interpretation zentrale Geschehenselemente unterstrichen worden sind:

Der Student Nathanael, mit dessen Kindheitserinnerungen die phantastische Erzählung anhebt, kann trotz seines Glücks in der GegenwartGegenwart die Erinnerungen nicht bannen, die sich an den rätselhaft erschreckenden TodTod des geliebten VatersVater knüpfen. An gewissen Abenden pflegte die MutterMutter die KinderKind mit der Mahnung zeitig zu Bette zu schicken: Der SandmannSandmann kommt, und wirklich hört das Kind dann jedes Mal den schweren Schritt eines Besuchers, der den Vater für diesen Abend in Anspruch nimmt. Die Mutter, nach dem Sandmann befragt, leugnet dann zwar, dass ein solcher andersAndersheit denn als Redensart existiert, aber eine Kinderfrau weiß greifbarere Auskunft zu geben: „Das ist ein böser MannMann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, daß sie lustig zum Kopfe herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen, die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel wie Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“

Obwohl der kleine Nathanael alt und verständig genug war, um so schauerliche Zutaten zur Figur des Sandmanns abzuweisen, so setzte sich doch die AngstAngst vor diesem selbst in ihm fest. Er beschloß, zu erkunden wie der SandmannSandmann aussehe, und verbarg sich eines Abends, als er wieder erwartet wurde, im Arbeitszimmer des VatersVater. In dem Besucher erkennt er dann den Advokaten Coppelius, eine abstoßende Persönlichkeit, vor der sich die KinderKind zu scheuen pflegten, wenn er gelegentlich als Mittagsgast erschien, und identifiziert nun diesen Coppelius mit dem gefürchteten Sandmann. Für den weiteren Fortgang dieser Szene macht es der Dichter bereits zweifelhaft, ob wir es mit einem ersten Delirium des angstbesessenen Knaben oder mit einem Bericht zu tun haben, der als real in der Darstellungswelt der Erzählung aufzufassen ist. Vater und GastGast machen sich an einem Herd mit flammender Glut zu schaffen, Der kleine Lauscher hört Coppelius rufen: „Augen her, Augen her“, verrät sich durch seinen Aufschrei und wird von Coppelius gepackt, der ihm glutrote Körner aus der Flamme in die Augen streuen will, um sie dann auf den Herd zu werfen. Der Vater bitte die Augen des Kindes frei. Eine tiefe Ohnmacht und lange KrankheitKrankheit beenden das Erlebnis. Wer sich für die rationalistische Deutung des Sandmannes entscheidet, wird in dieser PhantasiePhantasie des Kindes den fortwirkenden Einfluß der Erzählung der Kinderfrau nicht verkennen. Anstatt der Sandkörner sind es glutrote Flammenkörner, die dem Kind in die Augen gestreut werden sollen, in beiden Fällen damit die Augen herausspringen. Bei einem weiteren Besuche des Sandmannes ein Jahr später wird der Vater durch eine Explosion im Arbeitszimmer getötet; der Advokat verschwindet vom OrteOrt, ohne eine SpurSpur zu hinterlassen.

Diese Schreckgestalt seiner Kinderjahre glaubt nun der Student Nathanael in einem herumziehenden italienischen Optiker Giuseppe Coppola zu erkennen, der ihm in der Universitätsstadt Wettergläser zum Kauf anbietet und nach seiner Ablehnung hinzusetzt: „Ei nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke.“ Das Entsetzen des Studenten wird beschwichtigt, da sich die angebotenen Augen als harmlose Brillen herausstellen; er kauft dem Coppola ein Taschenperspektiv ab und späht mit dessen Hilfe in die gegenüberliegende Wohnung des Professors Spalanzani, wo er dessen schöne, aber rätselhaft wortkarge und unbewegte Tochter Olimpia erblickt. In diese verliebt er sich bald so heftig, daß er seine kluge und nüchterne Braut Clara über sie vergißt. Olimpia ist indes ein AutomatAutomat, an dem Spalanzani das Räderwerk gemacht und dem Coppola – der SandmannSandmann – die Augen eingesetzt hat. Der Student kommt hinzu, wie die beiden Meister sich um ihr Werk streiten. Der Optiker hat die hölzerne, augenlose PuppePuppe davongetragen, und der Mechaniker, Spalanzani, wirft Nathanael die auf dem BodenBoden liegenden blutigen Augen Olimpias an die Brust, von denen er sagt, daß Coppola sie dem Nathanael gestohlen hat. Dieser wird von einem neuerlichen Wahnsinnsanfall ergriffen, in dessen Delirium sich die Reminiszenz an den TodTod des VatersVater mit dem frischen Eindruck verbindet: „Hui – hui – hui! – Feuerkreis – Feuerkreis! Dreh’ dich Feuerkreis – lustig – lustig! Holzpüppchen hui, schön Holzpüppchen dreh’ dich –.“ Damit wirft er sich auf den Professor, den angeblichen Vater Olimpias, und will ihn erwürgen.

Aus langer, schwerer KrankheitKrankheit erwacht, scheint Nathanael endlich genesen. Er gedenkt, seine wiedergefundene Braut zu heiraten. Sie ziehen beide durch die Stadt, auf deren Markt der hohe Ratsturm seinen Riesenschatten wirft. Das Mädchen schlägt ihrem Bräutigam vor, auf den Turm zu steigen, während der das PaarPaar begleitende Bruder unten bleibt. Oben zieht eine merkwürdige Erscheinung von etwas, was sich auf der Straße heranbewegt, die Aufmerksamkeit Claras an sich. Nathanael betrachtet dasselbe Ding durch Coppolas Perspektiv, das er in seiner Tasche findet, wird neuerlich vom Wahnsinn ergriffen, und mit den Worten: „Holzpüppchen, dreh’ dich“, will er das Mädchen in die Tiefe schleudern. Der durch ihr Geschrei herbeigeholte Bruder rettet sie und eilt mit ihr herab. Oben läuft der Rasende mit dem Ausruf herum: Feuerkreis, dreh’ dich, dessen Herkunft wir ja verstehen. Unter den MenschenMensch, die sich unten ansammeln, ragt der Advokat Coppelius hervor, der plötzlich wieder erschienen ist. Wir dürfen annehmen, daß es der Anblick seiner Annäherung war, der den Wahnsinn bei Nathanael zum Ausbruch brachte. ManMan, Paul de will hinauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, aber Coppelius lacht: „Wartet nur, der kommt schon herunter von selbst.“ Nathanael bleibt plötzlich stehen, wird des Coppelius’ gewahr und wirft sich mit dem gellenden Schrei: „Ja! Sköne Oke – Sköne Oke“ über das Geländer herab. Sowie er mit zerschmettertem Kopf auf dem Straßenpflaster liegt, ist der SandmannSandmann im Gewühl verschwunden.14

Freud liest zwei Texte, die Meistererzählung von E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A. und den Kommentar von JentschJentsch, Ernst, dem er seine eigeneEigentum Lektüre gegenüberstellt. Dabei geht es darum, Jentschs’ TheseThese, wonach das UnheimlicheUnheimliche, das mit dem Unbekannten einhergehe, umzukehren. Im Unheimlichen, so konstatiert Freud an späterer Stelle seines Aufsatzes, steckt immer schon ein bekanntes Moment, etwas, das vergessen oder verdrängt worden ist.

JentschJentsch, Ernst hatte das UnheimlicheUnheimliche, das in Hoffmanns Der SandmannSandmann, nicht zuletzt unter dem Eindruck von Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen, insbesondere im Motiv der belebt erscheinenden PuppePuppe Olimpia gesehen. Dem widerspricht Freud einigermaßen vehement. Freuds alternative und exemplarische Lektüre konzentriert sich auf die folgenden vier Punkte:

1 Das Motiv der PuppePuppe, die ein menschliches Lebewesen vortäuscht, ist nicht das einzige unheimlicheunheimlich Motiv.

2 Diese Täuschung wird durch die satirische AuflösungAuflösung geschwächt.

3 Das UnheimlicheUnheimliche, das kommt vielmehr durch die Konfiguration des unheimlichenunheimlich Fremden, der mit dem SandmannSandmann identifiziert wird, zentral ins SpielSpiel.

4 In Freuds Deutung fallen letztendlich fremdfremd und vertraut wieder zusammen, da er psychoanalytisch im SandmannSandmann die AngstAngst vor dem VaterVater erkennt: „[…] sowie man für den Sandmann den gefürchteten Vater einsetzt, von dem man die Kastration erwartet.“15

Sigmund FreudsFreud, Sigmund Abhandlung ist ein klassisches Beispiel für IntertextualitätIntertextualität, in diesem Fall für einen reziproken Textbezug zwischen einem literarischen Text und einer wissenschaftlichen Abhandlung. Intertextualität inkludiert, dass sich durch die wechselseitige Bezugnahme beide Texte verändern. In diesem Zusammenhang bedeutet das Zitat, einen Text in einen fremdenfremd Kontext zu stellen und ihm damit eine neue Bedeutung zu geben: Der Text des ‚Spätromantikers‘ wird zu einem illustrativen psychoanalytischen PrätextPrätext, während umgekehrt Freuds Abhandlung in die Nachbarschaft zur RomantikRomantik gerät.

Freuds Text über das UnheimlicheUnheimliche, das ist bzw. enthält keine vollständige Interpretation der romantischen Textur Hoffmanns, vielmehr dient der Text des spätromantischen Autors als Folie und Illustrationsmaterial für die eigeneEigentum Theoriebildung; unübersehbar enthält er indes zugleich eine Lesart der Erzählung. Diese basiert auf der von Freud behaupteten etymologischen Aufspaltung der Bedeutung des Unheimlichen, das nun mit SchellingSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph und der gesamten romantischen TraditionTradition als etwas gedeutet wird, das eigentlich ein Geheimnis bleiben sollte. In psychoanalytischer Diktion bedeutet das: Es handelt sich beim Unheimlichen um eine FormForm der Verdrängung.

In seiner ArbeitArbeit am Text entwickelt Freud eine Art von Typologie des UnheimlichenUnheimliche, das (→ Kapitel 12), in der es um die Figur des DoppelgängersDoppelgänger, der WiederholungWiederholung des Gleichartigen und um den Glauben an die Wirksamkeit magischer Mächte geht. So gründet sich das Unheimliche einerseits auf infantilen Phantasien, andererseits aber auch auf späteren Entwicklungen und Phasen der menschlichen OntogeneseOntogenese. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass sie, menschheitsgeschichtlich betrachtet, Figuren und Bildungen aus „überwundenen seelischen Urzeiten“, in denen die MenschenMensch an MagieMagie und fremdefremd Mächte glauben, darstellen und diese zugleich reproduzieren.16 Überdies kann das Unheimliche im alltäglichen Erleben wie auch als fiktionales Konstrukt etwa in LiteraturLiteratur (oder FilmFilm) auftreten, wobei das Phantastische damit spielt, ob das Dargestellte ‚RealitätRealität‘ oder ‚Fiktion‘ ist.

Das UnheimlicheUnheimliche, das, das Hoffmanns Text zur SpracheSprache bringt, versinnbildlicht für Freud das Drama der Kindheit und ist somit Teil des „Familienromans“. In dessen ZentrumZentrum steht das ambivalenteAmbivalenz und ödipale Verhältnis zur VaterVater-ImagoVater-Imago. Dabei kommt es zur Aufspaltung in einen guten und in einen bösen Vater: den eigentlichen, früh verstorbenen Vater und den dämonischen Coppelius, den „SandmannSandmann“, der Nathanael droht, ihm die Augen auszureißen. Diese realen oder phantastischen Geschehen wiederholen sich Freud zufolge insofern, als Nathanael viele Jahre nach den traumatischen Kindheitserlebnissen, die im TodTod des geliebten, für das KindKind aber unzugänglichen Vaters kulminieren, dem Brillenhändler Coppola begegnet. In jenem, und darin besteht das Unheimliche im Text, glaubt er den Alchemisten aus seiner Kindheit, Coppelius, wiederzuerkennen, den er für den Tod des Vaters verantwortlich macht und an dem er aufgrund des suggerierten Mordes zunächst Rache üben will. Coppola wird somit zum Wiedergänger einer bedrohlichen Gestalt aus der Kindheit, die mit elementarem Schrecken verknüpft ist. Nicht umsonst trägt diese düstere Person in Hoffmanns Erzählung – das stellt Freuds Deutung hintan – die Charakterzüge des TeufelsTeufel.

So wie Coppelius, der mit dem VaterVater magische Experimente unternimmt, so hat auch Coppola einen Gefährten, einen Professor für Mechanik namens Spalanzani. Diese beiden unheimlichenunheimlich Gestalten – wobei Spalanzani eher eine satirische als eine dämonisch-teuflische Gestalt ist – sind Freuds Deutung zufolge die unheimlichen Wiedergänger der kindlich ödipalen Situation, die von der Kastrationsangst bestimmt ist. Sie wird durch das von dem bösen Vater angedrohten Ausreißen der Augen virulent.

Einen Teil seiner eigenwilligen Interpretation hat Freud merkwürdigerweise in die Fußnote ‚verschoben‘. Dort ist davon die Rede, dass die ambivalenteAmbivalenz Position des Sohnes zum VaterVater eine „in zwei Gegensätze zerlegte Vaterimago“ bewirke. Und weiter heißt es dann:

Das von der Verdrängung am stärksten betroffene Stück des Komplexes, der Todeswunsch gegen den bösen VaterVater, findet seine Darstellung in dem TodTod des guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird. Diesem Väterpaar entsprechen in den späteren Lebensgeschichte des Studenten Professor Spalanzani und der Optiker Coppola, der Professor an sich eine Figur der Vaterreihe, Coppola als identisch mit dem Advokaten Coppelius erkannt.17

In Freuds Deutung, in der Spalanzani und Coppola als „Reinkarnationen von Nathanaels Väterpaar“18 fungieren, ist die mechanische Erzeugung des weiblichenweiblich AutomatenAutomat nur die Fortsetzung jener alchemistischen Tätigkeit seines VatersVater und in ihr wiederholt sich jene Kastration, die auch schon im ersten traumhaften Tableau zentral im SpielSpiel war. Allerdings ist Freuds AnalogieAnalogie schief, verkörpert doch der gauklerische und betrügerische Prahler Spalanzani nicht wirklich ein positives Vater-ImagoVater-Imago, auch wenn er vorgeblich die Rolle des freundlichen präsumtiven Schwiegervaters spielt.

Im Anschluss an die die oben wiedergegebene Nacherzählung unternimmt Freud sodann eine Deutung des Olimpia-Komplexes. Dieser gründet in der Annahme der IdentitätIdentität von Nathanael und Olimpia. Olimpia sei „ein von Nathanael losgelöster Komplex“, der in der „zwanghaften LiebeLiebe zur Olimpia ihren Ausdruck“19 finde. Diese Liebe sei ausschließlich eine „narzißtische“ und entfremde ihn von seinem „realen Liebesobjekt“.20 Die RelationRelation zu dem gedoppelten VaterVater interpretiert der Begründer der PsychoanalysePsychoanalyse als eine FixierungFixierung, die die Liebe zur FrauFrau, Clara, die zugleich das Realitätsprinzip verkörpert, unmöglich macht. Darin besteht die kastrierende Funktion des bösen Vaters.

Das ins Phantastische gesteigerte UnheimlicheUnheimliche, das ist demnach die Entstellung eines peinlich Vertrauten, nicht von etwas Unbekanntem. Sie ist zum einen die Folge einer Verdrängung, die in der Begegnung mit Coppola, dem zuweilen satirisch beschriebenen DoppelgängerDoppelgänger des teuflischen Coppelius, zutage tritt. Sie folgt der LogikLogik der Wiederkehr des VerdrängtenVerdrängte. Sie ist natürlich auch das Werk der literarischen Fiktion, die eine andere WeltWelt schafft, in der „für die Dauer unserer Hingegebenheit“21 möglich ist, was in der erlebten Welt unmöglich ist. So ist nicht ganz klar, ob die Erlebnisse des Studenten als real zu begreifen sind. Am Ende jedoch wird laut Freud deutlich, „daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der SandmannSandmann ist“.22 Der böse VaterVater ist demnach mit magischen Kräften ausgestattet, um den eher zarten Muttersohn zu verderben.23

Dass Freud eine eindeutige Lösung des Falls bevorzugt, hat auch damit zu tun, dass die psychoanalytische Lesart das UnheimlicheUnheimliche, das auflöst und es auf ein vergessenes und verdrängtes Ganzes zurückführen möchte. Das Unheimliche ist eigentlich per definitionem aufklärungsresistent, aber die psychoanalytische FormForm einer zweiten AufklärungAufklärung liefert den Schlüssel, das Geheimnis des Unheimlichen ans Licht zu fördern. Wenn Freud also letztendlich von der Existenz von Coppola (coppa ist die Augenhöhle) und dessen IdentitätIdentität mit Coppelius (der Name leitet sich übrigens von copella: Probiertiegel ab) ausgeht, dann verweist die Erinnerung, die Nathanael im ersten Brief an seinen FreundFreund mitteilt, auf ein reales traumatisches Geschehen, das um Kastrationsdrohung und sexuellen Missbrauch kreist.24

Hoffmanns Erzählung selbst bietet alternative Deutungen an. Aus dem Blickwinkel der Braut handelt es sich um phantastische und eingebildete ÄngsteAngst, denen der Geliebte widerstehen sollte. Deshalb auch bittet Clara ihren Geliebten inständig, die Spukgestalten seiner PhantasiePhantasie aus seinem Inneren zu verbannen und die GeschichteGeschichte von der Wiederkehr des unheimlichenunheimlich Coppelius in Gestalt von Coppola, die er in seinem Brief mitgeteilt hat, zu verbrennen.

Überhaupt enthält Hoffmanns Text eine ganze Reihe von scheinbar unwichtigen Details, so etwa jenes, dass der Brief des Studenten versehentlich in die Hände seiner Braut gelangt, oder dass das Haus, in dem Nathanael wohnt, wie von Zauberhand niederbrennt, wodurch er nun in das Haus übersiedelt, in dem die mysteriöse Schönheit Olimpia wohnt. Deren Namen ist ähnlich und doch andersAndersheit als die Stadt der antiken griechischengriechisch Sommerspiele und – damit verbunden – der Berg der griechischen Götter, der Olymp. Verwirrend ist auch, dass am Ende nicht etwa der Optiker Coppola auftritt, sondern der Alchemisten-FreundFreund des VatersVater aus der Kinderzeit. Gerade die VerschiebungVerschiebung Olimpia/Olympia ließe sich doch im Sinne einer verzerrenden Traumarbeit deuten, die dem Text Hoffmanns zugrunde liegt. Es ist erstaunlich, dass dieser Sachverhalt dem professionellen Traumdeuter Freud entgangen ist. So schildert Hoffmanns Erzählung nicht etwa nur unheimlicheunheimlich Begebenheiten und Ähnlichkeiten, sondern ist selbst als Gesamttext insofern traumhaft, traumatisch und unheimlich, als sich in ihm nichts endgültig klärt. So wissen doch die Umgebung Nathanaels und der namenlose Erzähler, der sich nach den drei Briefen zu Eingang des Textes zu Wort meldet, nicht mehr als die Figuren, die in dem unheimlichen Geschehen agieren. Im Gegensatz zu Freud müsste eine genauere Lesart des Textes davon ausgehen, dass sich dieser nicht auflösen lässt.

Umgekehrt ist Nathanael freilich felsenfest von der Wahrheit seiner GeschichteGeschichte überzeugt. Mit Freud ließe sich sagen, dass AngstAngst- und Kastrationsvorstellungen eine psychische „RealitätRealität“ darstellen, eine ‚subjektive‘ WirklichkeitWirklichkeit, die die PsychoanalysePsychoanalyse als eine neue Disziplin ernst zu nehmen hat, übrigens an diesem Punkt ganz ähnlich wie die romantische PsychologiePsychologie. Insofern nimmt die psychoanalytische Interpretation des Fremden eine dritte Position ein, die die binäre OppositionOpposition zwischen dem allzu engen aufklärerischen RationalismusRationalismus und einem ‚romantischen‘ Irrationalismus auflöst.

Das wird auch deutlich, wenn Freud mutmaßt, „daß der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will, ja daß er vielleicht in höchsteigener Person durch solch ein Instrument geguckt hat“.25 Damit rückt das optische Instrument in die NäheNähe einer manipulativen Gerätschaft, die das Bekannte verzerrt und unkenntlich macht. Das Gerät, das in Hoffmanns Text zum Einsatz kommt, ist nicht identisch mit dem methodischen Instrumentarium der PsychoanalysePsychoanalyse, die die dunklen Kräfte nicht einfach verbannen und verbieten möchte wie Clara; die ‚Optik‘ der Psychoanalyse möchte durch den Blick in das Glas des Dramas gewahr werden, das sich ‚hinter‘ dem vordergründig sichtbaren Spuk abspielt. Was Nathanael sieht, hat auch dann Gewicht, wenn es ein reines Phantasiegebilde ist. Insofern markiert die psychoanalytische Sicht, womöglich über Freud hinaus, auf die WeltWelt in Hoffmanns Text eine dritte Perspektive jenseits jener von Nathanael und von Clara.

Theorien des Fremden

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