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1.4. FremdheitFremdheit als transdisziplinäres Paradigma

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Es gibt, wie der Verweis auf SimmelSimmel, Georg nahelegt, eine ältere, aber stets erneuerte soziologische und sozialwissenschaftliche Diskursschicht, die den Anderen vornehmlich in seiner gesellschaftlichen Funktion begreift und dabei zumeist zwischen stratifikatorischen und funktionell differenzierenden Gesellschaftskonstruktionen unterscheidet. Auch diese Funktion ist nicht einheitlich. Sie reicht vom Fremden als FeindFeind oder als SündenbockSündenbock über die Zuweisung als SchiedsrichterSchiedsrichter bis zu speziellen Zuweisungen. Immer spielen dabei UnbekanntheitUnbekanntheit, Konflikt und Unterwerfung (bis zur SklavereiSklaverei) eine zentrale Rolle.

Erstaunlich ist, wie wenig die aus verschiedenen Disziplinen heraus entstandenen Konzepte von FremdheitFremdheit miteinander im DialogDialog stehen bzw. wie die Debatten aus anderen Diskursen diesen Dialog systematisch ignorieren. So wird man in der in den Vergleichenden LiteraturwissenschaftenVergleichende Literaturwissenschaften entstandenen ImagologieImagologie nur selten auf naheliegende und anschließbare soziologische oder kulturwissenschaftliche Perspektiven verwiesen. Auch im soziologischen FunktionalismusFunktionalismus wird allenfalls auf bestimmte philosophische TraditionenTradition rekurriert, aber die Bezugnahme zu gegenwärtig aktuellen psychoanalytischen oder dekonstruktivistischen Theorien wird gemieden.

Das lässt sich etwa an der empfehlenswerten einführenden Studie von Yaşar AydınAydın, Yaşar Topoi des Fremden ablesen, die den Fremden als WandererWanderer und potentiellen ZuwandererZuwanderer, als kulturellen Hybriden und als AußenseiterAußenseiter präsentiert, die philosophische Dimension der AlteritätAlterität freilich ebenso außer Acht lässt wie die DifferenzDifferenz von Fremdem und AusländerAusländer. Aydın verweist in seinen Überlegungen zur Genese des ToposTopos des Fremden auf so unterschiedliche Momente wie den (postmodernistischen) DiskursDiskurs über die ModerneModerne, die Herabstufung des Fremden, den Begriff der EntfremdungEntfremdung, den Begriff der Verantwortung im Sinne von LévinasLévinas, Emmanuel oder die IdeeIdee der ReziprozitätReziprozität bei HonnethHonneth, Axel und RicœurRicœur, Paul, ohne die zumindest partielle Differenz von FremdheitFremdheit und Alterität ins Blickfeld zu rücken. PsychoanalysePsychoanalyse, KulturKultur- oder Literaturwissenschaft kommen gar nicht zur SpracheSprache und werden auch nicht eigens erwähnt.1

Gleichwohl halte ich die von dem Autor vorgenommene Typologie von Theorien und Konzepten des Fremden für erhellend. AydınAydın, Yaşar unterscheidet vier gesellschaftstheoretische Denkmodelle:

1 Das Modell des Fremden als eines negativen Kontrastes zum Eigenen. Als Theoretiker führt er hier – in kritischer und nicht-affirmativer Intention – Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard an (→ Kapitel 5).

2 Das Modell, das FremdheitFremdheit auf EntfremdungEntfremdung zurückführt und von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich entworfen und von MarxMarx, Karl und der marxistischen Theorie systematisch ausgearbeitet wurde (→ Kapitel 11).

3 Das Modell, das FremdheitFremdheit und die Vorrangigkeit des Fremden vor dem Eigenen postuliert, so das Verständnis von LévinasLévinas, Emmanuel Philosophie der AlteritätAlterität (→ Kapitel 4).

4 Das Modell, das EigenheitEigenheit und FremdheitFremdheit als reziprok begreift. Dieses Modell verbindet er mit Axel HonnethHonneth, Axel, einem Erben der Kritischen Theorie, sowie mit Paul RicœurRicœur, Paul.2

Es ist ganz offenkundig, dass sich die vier vorgestellten Modelle auch darin unterscheiden, was sie unter ‚FremdheitFremdheit‘ verstehen, einmal den Kontrast gegenüber einer anderen fremdenfremd KulturKultur (Modell 1), sodann einen Prozess der EnteignungEnteignung, in dem das kulturelle Moment zunächst gar keine Rolle spielt (Modell 2), während die Pointe bei LévinasLévinas, Emmanuel ja gerade darin besteht, ‚Fremdheit‘ in der AlteritätAlterität des Vertrauten, des Nicht-Exotischen, im Gegenüber zu verorten. Und auch bei RicœurRicœur, Paul geht es nicht primär um die Figur eines MenschenMensch, der aus einer anderen Kultur stammt bzw. dessen Herkunft dunkel und mysteriös ist. Anders ausgedrückt: Das Thema ‚Fremdheit‘ changiert zwischen kultureller Prädikation (der kulturell Fremde, ‚der Türke‘) und universaler Prädikatslosigkeit, die sich in der Begegnung eines Anderen vollzieht, der nicht (mehr) im Sinne einer sozialen oder kulturellen KonstruktionKonstruktion ‚fremd‘ ist.

Das vorliegende Buch ist als eine fächerübergreifende und transdisziplinäre Einführung konzipiert, in der neben philosophischen Fragestellungen auch kulturtheoretische und literaturwissenschaftliche Ansätze zur SpracheSprache kommen, die in den sozialwissenschaftlichen Abhandlungen zumeist zu kurz kommen. Es verfolgt den Anspruch, möglichst viele, im Bereich von Sozial- und Humanwissenschaften relevante, theoretische Ansätze zu thematisieren und ihren je spezifischen Beitrag zum Verständnis alteritärer PhänomenePhänomen zu würdigen. Dabei werden die verschiedenen Ansätze möglichst textnah vorgestellt und diskutiert. Nach der in diesem Eingangskapitel skizzierten Begriffsklärung kommt in Kapitel 2 HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich überaus einflussreicher Text aus der PhänomenologiePhänomenologie über HerrHerr und KnechtKnecht zur Sprache, ohne den der französische philosophische Nachkriegsdiskurs über AlteritätAlterität und DifferenzDifferenz undenkbar wäre. Kapitel 3 präsentiert Denkformen des Fremden im Umfeld von RomantikRomantik und PsychoanalysePsychoanalyse. Wie nicht zuletzt Freuds Kommentar zu E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A. nahelegt, hat die Romantik psychoanalytische Denkfiguren des Fremden und des UnbewusstenUnbewusste wie auch soziologische Bestimmungen des Fremden gebündelt und vorweggenommen. In diesem Kapitel wird auch Julia KristevasKristeva, Julia einflussreiches und bahnbrechendes Buch über FremdheitFremdheit diskutiert, das sich auf den romantischen und den psychoanalytischen DiskursDiskurs, wie er in Freuds Hoffmann-Lektüre gebahnt wurde, bezieht. Das vierte und das fünfte Kapitel, die in so mancher Hinsicht an Kapitel 2 anschließen, stellen die bedeutsamen Beiträge von Ansätzen vor, die im Umfeld phänomenologischen Denkens entstanden sind. Dabei kommt den SchriftenSchrift von Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel und Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard eine besondere, nämlich auch korrektive Bedeutung zu. Daran anschließend werden in Kapitel 6 all jene sozialwissenschaftlichen Ansätze zur Sprache kommen, die im Anschluss an Georg SimmelSimmel, Georg und Alfred SchützSchütz, Alfred und später an Niklas LuhmannsLuhmann, Niklas SystemtheorieSystemtheorie Fremdheit als soziale KonstruktionKonstruktion begreifen. Kapitel 7 unternimmt eine intensive Lektüre von LacansLacan, Jacques SpiegelstadiumSpiegelstadium-Aufsatz und seiner Implikation für eine Theorie des Alteritären. Um BildkonstruktionenBildkonstruktion des Anderen geht es im Anschluss daran in dem Kapitel über ImagologieImagologie, in dem das theoretische Selbstverständnis der Aachener SchuleAachener Schule, der OrientalismusOrientalismus Edward SaidsSaid, Edward sowie die Analyse des kolonialen StereotypsStereotyp bei Homi K. BhabhaBhabha, Homi K. vorgestellt und kommentiert werden. Kapitel 9 behandelt die Denkfigur der DekonstruktionDekonstruktion und ihre ‚Strategie‘, bestehende, selbstverständliche GrenzenGrenze in FrageFrage zu stellen, im Fall Jacques DerridasDerrida, Jacques die Differenz von MenschMensch und TierTier, im Falle Jean-Luc NancysNancy, Jean-Luc jene von GesundheitGesundheit und KrankheitKrankheit. Nicht nur wird Krankheit als eine potentiell lebensbedrohende MachtMacht erfahren, sondern auch die medizinische Therapie, die im Falle von Nancy in der ImplantationImplantation eines fremdenfremd Herzens gipfelt. Immer geht es dabei darum, den Fremden bzw. das Fremde als das Ergebnis von binären Denkstrukturen zu begreifen, ohne die die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem undenkbar wäre. Diese reflexive Subversion spielt auch für die Kategorie des GeschlechtsGeschlecht und insbesondere für die GeschlechterdifferenzGeschlechterdifferenz eine maßgebliche Rolle, die in Kapitel 10 erörtert werden, wobei Texte aus dem differenztheoretischen FeminismusFeminismus (Luce IrigarayIrigaray, Luce) konstruktivistischen Denkweisen (Judith ButlerButler, Judith) gegenübergestellt werden. Im Kapitel 11 kommt ein Diskurs zur Sprache, der zeitweilig bereits historisch geworden zu sein schien, von dem aber noch immer nicht unerhebliche subkutane kulturpolitische Impulse ausgehen. Die Rede ist von der höchst aufschlussreichen Kategorie der ‚EntfremdungEntfremdung‘, die auf der TheseThese und dem NarrativNarrativ von Karl MarxMarx, Karl basiert, wonach es die modernemodern okzidentale kapitalistische ProduktionProduktion ist, die systematisch und strukturell Fremdheit erzeugt. Hierbei wird ‚Entfremdung‘ (ein Begriff, der ja eigentlich eine Rücknahme von Fremdheit meint), zum Inbegriff einer in ihrem Kern als tragisch interpretierten Selbstfremdheit des Menschen. Alle gesellschaftlichen und kulturellen Befreiungsbewegungen des 19., 20. und womöglich auch noch des 21. Jahrhunderts haben sich an diesem Befund entzündet. Die Konstatierung wachsender Fremdheit menschlicher Befindlichkeit bildet ein tragendes Element in allen FormenForm und Versionen von kritischen Theorien, von ihren Anfängen bei György LukácsLukács, György und Walter BenjaminBenjamin, Walter, über Günther AndersAnders, Günther bis zu Theodor W. AdornosAdorno, Theodor W. Spätwerk. Eine gänzlich andere Produktion des Fremden und Befremdlichen rückt mit der PhantastikPhantastik in den Vordergrund (→ Kapitel 12). Dabei springt einem der Zusammenhang von Fremdheit und LiminalitätLiminalität ins Auge. Über ÜbersetzungÜbersetzung als Mediation von Fremdheit geht es im dreizehnten und letzten Kapitel dieses Buches. Dabei werden im Anschluss an Benjamins Überlegungen zur ArbeitArbeit des Übersetzens literatur- (George SteinerSteiner, George) und kulturwissenschaftliche Ansätze (Boris BudenBuden, Boris) vorgestellt. Das Thema ‚HybriditätHybridität‘ wird in die Kommentierung miteinbezogen, in der es um eine SubjektSubjekt-Konstellation geht, in der die Differenz von EigenheitEigenheit und Fremdheit überwunden scheint und die Eigenheit als Fremdheit und umgekehrt die Fremdheit als Eigenheit erscheint.

Ziel des Buches, das auf verschiedene Seminare zurückgeht, die der Verfasser im Laufe seiner akademischen Lehrtätigkeit gehalten hat, ist eine facettenreiche Darstellung der durchaus verschiedenen Annäherungen an das PhänomenPhänomen von AlteritätAlterität, die Diskussion ihrer Problematik und auch ihrer Brüchigkeiten, ihrer gesellschafts- und kulturpolitischen Implikationen. Ziel des Buches ist es auch, die in der Einleitung vorgenommene kategoriale Differenzierung des Alteritären – Alterität (DualitätDualität), FremdheitFremdheit (UnbekanntheitUnbekanntheit), Ausländisch-SeinSein (ExterritorialitätExterritorialität) – im Sinne einer die SpracheSprache einschließenden PhänomenologiePhänomenologie immer wieder zur Sprache zu bringen. Bei der Sichtung des theoretischen Materials ist es wichtig zu prüfen, welche FormForm von Alterität die jeweiligen Zugänge in den Mittelpunkt rücken und wie bzw. ob sie diese verschiedenen Dimensionen des ‚Fremden‘ herausarbeiten.

Dabei werden, wie gesagt, verschiedene Disziplinen und methodische Ansätze vorgestellt und diskutiert, PhänomenologiePhänomenologie und DekonstruktionDekonstruktion, systemische Konzepte der SoziologieSoziologie, cultural studies, diverse psychoanalytische Zugänge, komparatistische Ansätze, literarische und politische Perspektiven. Wie schon ein früheres Einführungsbuch des Verfassers (Kulturtheorie), ist auch dieses einem Verfahren verpflichtet, das als close reading bezeichnet wird. Programmatische Absicht des Buches ist, sich auf zumeist kurze und überschaubare Texte zu konzentrieren und diese auch hinsichtlich ihrer sprachlichen und rhetorischen Struktur gründlich und kommentierend zu lesen und zu befragen.

Bei der Auswahl des Materials kam es ganz unvermeidlich zur Qual der Wahl. Ein entscheidendes Kriterium war dabei, inwiefern die ausgewählten Texte im Sinne der DiskursanalyseDiskursanalyse Michel FoucaultsFoucault, Michel diskursbegründend sind bzw. waren,3 d.h. die gedankliche Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema, in diesem Falle FremdheitFremdheit, bestimmt haben. In diesem Zusammenhang liegt der Begriff der ‚klassischen‘ Texte nahe. Der SoziologeSoziologe Rudolf StichwehStichweh, Rudolf versteht, der philologischen TraditionTradition folgend, darunter Texte, „die gelesen und immer erneut gelesen werden“.4 Ein solcher Text wird auch dann noch gelesen, selbst wenn er im Kern zurückgewiesen worden ist, weil er, wie Stichweh unter Berufung auf Niklas LuhmannLuhmann, Niklas5 argumentiert, im Hinblick auf eine bestimmte „Problemstellung“ eine fortdauernde Geltung besitzt.6 Nicht selten werden in den Kapiteln neuere Texte aufgerufen und einer intensiven Lektüre unterzogen, die die Grundüberlegungen der Diskursbegründer weiterentwickelt haben.

Es war mir ein besonderes Anliegen, nicht nur die jeweiligen Stärken, sondern auch die Unzulänglichkeiten der jeweiligen Konzepte herauszuarbeiten. Entstanden ist ein Buch, das sich mit HeterogenitätHeterogenität befasst und selbst Theorien und Komplexe vorstellt, die in ihrer Unterschiedlichkeit und Inkompatibilität zeigen, wie vieldeutig und facettenreich AlteritätAlterität ist.

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