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Kommissarin Dietmund blieb am Tatort zurück, um auf Förnheim zu warten. Rudi und ich fuhren zu Gunnar Bellenborn in die Klinik.

Bellenborn hatte offenbar nicht die geringste Lust, uns im Moment zu empfangen. Zumindest erklärte uns dies Tico Talabani, der zusammen mit ein paar anderen Security Guards dafür sorgte, dass der Polizeipräsident vollkommen abgeschirmt wurde.

„Ein guter Rat von mir: Sie sollten Herrn Bellenborn ein anderes Mal befragen. Im Moment ist er ziemlich angespannt.”

„Ich kann ihm das leider nicht ersparen”, sagte ich und hielt ihm meinen Ausweis unter die Nase. „Sie kennen dieses Ding doch, oder?”

„Natürlich.”

„Dann wissen Sie auch, dass es eine Eintrittskarte an nahezu jeden Ort ist - und auf jeden Fall ins Krankenzimmer von Herrn Bellenborn.”

„Es war nicht meine Absicht, Sie aufzuhalten, Kriminalinspektor”, sagte Talabani. „Aber Herr Bellenborn hat uns gesagt, dass wir jeden wegschicken sollen. Ich kann ihn sogar ein bisschen verstehen.”

„Wieso?”

„Es gibt ein paar medizinische Komplikationen mit seiner Verletzung. Es ist nicht so ganz sicher, ob er seinen Arm wieder richtig bewegen kann, wenn das alles hier vorbei ist. Deswegen ist er etwas angespannt.”

„Ich fürchte, es wird noch weitere Gründe für ihn geben, sich angespannt zu fühlen”, meinte ich. Wir gingen an ihm vorbei und platzten ohne anzuklopfen in das Krankenzimmer hinein.

An seinem Bett saß ein Mann in Polizeiuniform. Er war ungefähr im selben Alter wie Bellenborn. Als wir eintraten, stand er auf.

„BKA, Kriminalinspektor Harry Kubinke. Dies ist mein Kollege Kriminalinspektor Rudi Meier”, sagte ich und hielt dem Mann in Uniform meinen Ausweis unter die Nase.

„Ich bin Hauptkommissar Alexander Hermlinson”, sagte der Mann. „Zur Zeit leite ich ein Polizeirevier in Frankfurt.”

„Lassen Sie mich raten: Waren Sie auch mal mit Herrn Bellenborn zusammen in der Abteilung gegen organisiertes Verbrechen? So wie Hauptkommissar Thorensträter?”

Hermlinson wirkte etwas irritiert und sah zu Bellenborn hinüber, dessen Kopf dunkelrot geworden war. „Was fällt Ihnen ein, hier einfach ungebeten hereinzuplatzen?”, fauchte er, bereute das aber gleich wieder. Irgendwie schien seine heftige Reaktion sich über die Muskulatur seines Oberkörpers auf die verletzte Schulter ausgewirkt zu haben. Jedenfalls verzog er schmerzverzerrt das Gesicht und fluchte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

„Es tut mir leid, aber dazu gibt es eine dienstliche Notwendigkeit”, erklärte ich.

„Ich denke, ich gehe dann jetzt besser”, sagte Hauptkommissar Hermlinson.

„Sie können ruhig bleiben”, sagte ich. „Vielleicht haben wir auch noch ein paar weiterführende Fragen an Sie.”

„An mich?”

„Was ich gerade gerade gesagt habe, war doch richtig, oder? Sie beide kennen sich von früher. Und ich nehme an, dass Sie Ihren Freund aus alten Tagen gerade darüber informiert haben, dass Hauptkommissar Ronald Thorensträter nicht mehr am Leben ist.”

„Das trifft zu”, meldete sich nun Bellenborn etwas ruhiger zu Wort. „Ich habe keine Ahnung, welchen Vorwurf Sie mir daraus nun wieder machen wollen. Ja, ein Freund hat mich über den plötzlichen und sehr tragischen Tod eines anderen Freundes informiert...”

„Ihr Kommunikationsnetzwerk funktioniert wirklich sehr schnell. Alle Achtung, Herr Bellenborn. Dann kennen Sie wahrscheinlich auch schon den Inhalt des Abschiedsbriefes, der in der Hand von Ronald Thorensträter gefunden wurde.”

„Ein Abschiedsbrief?”, fragte Bellenborn.

„‘Ich habe schwere Schuld auf mich geladen. Polizeipräsident Gunnar Bellenborn wird mich verstehen’”, zitierte ich den Inhalt des Briefes. „Können Sie mir dazu irgendetwas sagen?”

Bellenborn schwieg.

Diesmal wurde sein Gesicht nicht dunkelrot, so wie sonst, wenn die Wut in ihm hochkochte. Stattdessen wurde er ganz blass. Ich hatte das Gefühl, dass ihn Ronald Thorensträters Tod bis ins Mark getroffen hatte.

„Sagen Sie es mir, Herr Kubinke. Sie wissen doch sonst immer auf alles eine Antwort - vorzugsweise spekulativ, halbwahr und mit einer Beschuldigung gegen einen hart arbeitenden Polizeipräsidenten garniert”, kam es schließlich aus seinem schmallippigen Mund heraus.

Mein Handy klingelte. Ich sah auf dem Display, dass es Förnheim war. „Ja?”, fragte ich, als ich das Gerät am Ohr hatte.

„Ich habe Neuigkeiten, Harry. Oder besser gesagt: Meine erste Einschätzung, die sich im Übrigen mit der Einschätzung von Frau Dietmund deckte, wurde bestätigt,”

„Es war also Mord”, stellte ich fest.

„Die Schmauchspuren beweisen es. Es ist unmöglich, dass Hauptkommissar Thorensträter sich mit seiner Waffe selbst erschossen hat. An seiner Hand sind nur kleine Mengen von Schmauch. Sie wissen ja, dieser feine Staub kann bis zu einem Meter weit fliegen und sich überall absetzen. Aber wenn er die Waffe selbst abgedrückt hätte, dann sähe das ganz anders aus und es gäbe die typischen Spuren, die dann zu erwarten wären.”

„Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft.”

„Die Schmauchspuren am Kopf des Opfers wiederum beweisen, dass die Tatwaffe beim Schuss fast dreißig Zentimeter entfernt gewesen sein muss. Dafür wären dann aber Herrn Thorensträters Arme definitiv zu kurz gewesen, um so einen Schuss auszuführen.”

Die Sache war klar. Ich beendete das Gespräch und wandte mich wieder Bellenborn zu. „Wir nehmen an, dass der Mann hinter diesem Mord steckt, der auch auf Sie geschossen hat, Herr Bellenborn.”

„Warum verhaften Sie ihn nicht, wenn Sie ihn kennen”, spottete Bellenborn.

„Er hat auch Günter Pressburger umgebracht und seinen Kopf an ihrem Tor hinterlassen.”

„Ein Schweinehund! Anders kann man jemanden nicht nennen, der so etwas tut. Auch wenn sich mein Mitleid mit jemandem wie Pressburger in engen Grenzen hält. Ich habe inzwischen in den Dossiers unseres Datenverbundsystems nachgesehen, was das für ein Vogel war.”

„Ich glaube nicht, dass Sie dort nachsehen mussten”, sagte ich. „Sie kannten ihn nämlich.”

Bellenborn wandte sich an Hermlinson. „Hast du gehört, wie dreist dieser Kriminalinspektor ist? Hast du das gehört? Aber heutzutage steht man ja völlig schutzlos da, wenn man in der Öffentlichkeit steht und jemand es darauf anlegt, den Ruf durch unbewiesene Behauptungen zu ruinieren.”

„Etwa so wie Kommissar Dirk Andresen, der durch Pressburger umgebracht wurde, bevor er einen ominösen Informanten treffen konnte.”

„Ach, diesen angeblichen Informanten! Den gibt es doch gar nicht!”

„Dieser Informant war Hauptkommissar Ronald Thorensträter!”, entgegnete ich. „Wer weiß, vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen bekommen, vielleicht hat Dirk Andresen ihm auch weismachen können, dass er straffrei ausgeht, wenn er als Kronzeuge aussagt.”

„Kronzeuge? Gegen wen?”

„Gegen Sie und andere, die eine Todesschwadron gebildet haben. Damals, als Sie noch alle in einer Abteilung waren und geglaubt gaben, dass man nicht unbedingt immer auf das Gesetz achten muss, wenn man die Straßen vom Verbrechen säubern will.”

Ich bemerkte, dass Hermlinson zu schwitzen begann. Er schien sich in seiner Haut zunehmend unwohl zu fühlen.

„Die Stelle eines Kronzeugen ist durchaus zurzeit unbesetzt, Hauptkommissar Hermlinson”, sagte jetzt Rudi. „Sie sollten darüber nachdenken, ob Sie uns nicht vielleicht etwas zu sagen haben.”

„Also ich...”, stotterte Hermlinson.

„Andernfalls werden Sie vielleicht mit in den Strudel gerissen”, fuhr Rudi fort. „Der selbsternannte Rächer für eine Gang namens Shisha Clika, deren Mitglieder niedergeschossen wurden, läuft noch frei herum. Er hat Günter Pressburger getötet, Hauptkommissar Thorensträter umgebracht und er wird auch noch versuchen, seine Rache an Herr Bellenborn zu vollenden.”

Ich sah ihn an. „Ob er auch Grund hat, Sie zu hassen, können nur Sie selbst wissen, Herr Hermlinson”, ergänzte ich. „Aber eins sage ich Ihnen: Wir sind diesem Killer auf der Spur und wenn wir ihn haben, wird die einzige Möglichkeit für ihn, seine Rache zu vollenden, darin bestehen, dass er auspackt.”

„Vielleicht gehe ich mit Herrn Hermlinson mal hinaus auf den Flur”, sagte Rudi. „Kommen Sie!”

Hermlinson folgte meinem Kollegen, ohne noch einen Blick in Bellenborns Richtung zu werfen.

Ich war mir sicher, dass er zumindest etwas über die Vorgänge von damals wusste.

Bellenborn und ich waren nun allein.

„Sie denken, dass Sie jetzt am Ziel sind und mich kleingekriegt haben”, meinte er. „Sie denken, dass Sie jemandem wie Hermlinson Angst einjagen können. Vielleicht gelingt Ihnen das sogar - aber nichts von dem, was er Ihnen sagen wird, hat juristisch irgendeine Bedeutung. Und wenn Sie denken, dass ich mir von Ihnen auf diese Weise in die Parade fahren lasse, dann haben Sie sich geirrt.”

„Ich fahre niemandem in die Parade. Ich versuche nur, ein paar Morde aufzuklären.”

„Ach, ja? Ich habe noch nicht feststellen können, dass Sie wirklich Ihren Job machen. Glauben Sie mir, ich habe einflussreiche Freunde. So geht man mit einem Polizeipräsidenten nicht um!”

„Ich denke nicht, dass Sie in dieser Funktion noch lange amtieren werden”, erwiderte ich. „In Kürze wird man Sie einstweilen vom Dienst suspendieren, bis die Vorwürfe restlos geklärt sind. Und glauben Sie mir, dass wird diesmal mit großer Gründlichkeit geschehen. So wie in der Vergangenheit werden Sie sich nicht durchmogeln können!”

„Damit kommen Sie nicht durch! Kubinke, ich werde meine Anwälte...”

„Vielleicht helfen Sie uns erst einmal, Ihr Leben zu retten, Herr Bellenborn”, schnitt ich ihm das Wort ab. „Der Mann, den Sie zornig gemacht haben, hat Sie nur in die Schulter geschossen. Ich glaube fast, dass er Sie am Leben lassen wollte. Er wollte, dass Sie mitbekommen, wie er sich an den anderen rächt. Er hat Ihnen gezeigt, dass er immer und überall zuschlagen und Sie vernichten kann. Die Angst wird Sie nicht mehr verlassen und er kann sich getrost Zeit lassen, einen weiteren Versuch zu unternehmen.”

„Sie reden Unsinn, Kubinke!”

„Er hat so lange gewartet. Warum sollte er jetzt nicht noch einmal ein paar Jahre einfach untertauchen, um Sie dann irgendwann zu überraschen? Sie können dagegen nichts tun, Herr Bellenborn! Gar nichts. Sie sind ihm ausgeliefert und das weiß er.”

„Haben Sie eine Ahnung!”

„Sie haben ja jetzt schon nicht einmal mehr Vertrauen in den Polizeischutz Ihrer eigenen Kollegen und haben stattdessen andere Leute angeheuert. Für ein paar Wochen können Sie sich diesen Schutz sicher leisten. Aber über Jahre? Und geholfen hat er Ihnen auch nicht.”

„Was wollen Sie?”

Ich trat etwas näher an ihn heran. „Wir brauchen Ihre Hilfe, Herr Bellenborn. Es kommt alles ans Tageslicht, darauf können Sie wetten. Und ich sehe auch keinen Weg für Sie, das noch zu verhindern. Aber wenn Sie jetzt auspacken, haben wir die Chance, den Kerl zu kriegen.”

Er sah mich eine ganze Weile an und ich sah, wie es in seinem Kopf offenbar zu arbeiten begonnen hatte.

Dann glitt ein spöttisches Lächeln über sein Gesicht. „Geschickte Vernehmungsführung, Herr Kubinke”, sagte er dann. „Dass muss der Neid Ihnen lassen. Aber eigentlich sollten Sie wissen, dass ich all diese Tricks kenne.”

„Herr Bellenborn...”

„Sie können mich mal!”

Ich wollte noch etwas erwidern, obwohl ich ahnte, dass es sinnlos war und ich mir die Mühe schenken konnte.

Mein Handy meldete sich. Ich hatte eine Nachricht von Frau Gansenbrink bekommen, zusammen mit einem Foto.

„Jetzt kann man es sehen”, lautete die Nachricht. „Rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben.”

Ich sah mir das Bild an. Es war eine bearbeitete Vergrößerung des Standbildes, das in dem Augenblick aufgenommen worden war, als der Unbekannte sich an den Bauch fasste und dabei sein T-Shirt für einen kurzen Moment hochschob.

Die unklaren Strukturen entpuppten sich tatsächlich als Tattoo. Shisha Clika stand dort in reichlich verschlungenen Buchstaben. Und wenn mich nicht alles täuschte, dann verdeckte dieses Tattoo notdürftig ein paar ziemlich üble Narben.

Wir waren auf der richtigen Spur.

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