Читать книгу Liebeswirren auf der Bergalm: Roman Paket 9 Heimatromane - A. F. Morland - Страница 15
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ОглавлениеLilly Eibensteiner kam wieder zu sich. Ganz langsam wich die Ohnmacht zurück. Sie fror nicht mehr. Ihr war, als befände sie sich in einem hellen Licht. Ob das wohl schon der Tod war? Hatte es da in dem Buch nicht gestanden, Erfrieren ist ein ganz langsames Einschlafen, und zum Schluss ist einem noch nicht mal mehr kalt?
Mit Mühe öffnete sie die verklebten Augen und blickte dann verwirrt in ein fremdes Männergesicht mit einem dichten Bart. Sie sah seine blauen gütigen Augen und seufzte.
Ignaz beugte sich über sie und sagte begütigend: »Jetzt sind Sie in Sicherheit. Der Wind hat Sie vor meine Hütte gepustet, jetzt bleiben Sie erst mal ganz still liegen, ich hol einen starken Glühwein, der wird auch innen wieder hübsch mollig machen.«
So viele Worte hatte er schon lange nicht mehr hintereinander gesprochen.
Lilly konnte ihn nur anblicken, das Sprechen war ihr noch versagt. Dann fühlte sie auch wieder den schrecklichen Schmerz in sich.
»Sie hätten mich draußen lassen sollen«, flüsterte sie gebrochen.
Also doch, dachte er bei sich und ging fort.
In der Diele traf er auf seine Frau.
»Glaub bloß nicht, dass ich sie hierbehalte, das will ich nicht«, sagte sie keifend.
Ignaz blickte sie von oben bis unten an, und wieder wunderte es ihn, dass er einst nicht bemerkt hatte, wie kalt man in ihrer Nähe wurde.
»Du hast eins vergessen, dies ist mein Haus«, sagte er ruhig, und dann ging er in die Küche.
Zum ersten Male nach langer Zeit war sie erstaunt. Bis jetzt hatte er immer geschwiegen, wenn sie keifte, hatte sich geduckt, getan, was sie wollte, um des lieben Friedens willen. Und jetzt?
Böse presste sie ihre Lippen zusammen. Es war schlimm, wenn man ein Krüppel war, dazu abgeschnitten von der Welt, und wenn man seine Erinnerungen hatte, einst gefeiert wurde. Sonja begriff einfach nicht, dass das dazu gehörte. Sie glaubte wirklich, damals hätten sich alle unsterblich in sie verliebt, aber dem war nicht so. Und sie hoffte noch immer darauf, wenn sie zurück nach Wien kam, dann würde alles wieder so sein. Wenn erst mal der Ignaz nicht mehr lebte, dann würde sie reich sein und ein großes Haus führen. Auch wenn sie nicht mehr tanzen konnte, so würde sie Feste geben. An diese Möglichkeit krallte sie sich mit einer Inbrunst, die schon erschreckend war. Sie wollte ihn in den Tod treiben, ihm das Leben zur Höhe machen, dass er endlich kopflos wurde und sich was antat. Das hatte sie sich vorgenommen, sie würde Siegerin bleiben. Sie und nicht er!
Sie ging in ihre Schlafkammer und schloss sich ein. Er sollte bloß nicht glauben, sie würde ihm irgendwie helfen. Was hatte die Fremde hier nur zu suchen? Sobald sie aufstehen konnte, musste sie wieder fort. Das war nicht gut, ein so junges Blut in seiner Nähe. Schließlich war er noch ein Mann im besten Alter.
Lilly lag da und verkrampfte die Hände in das Bettlaken. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Nein, dachte sie, ich will doch nicht, der Schmerz soll endlich aufhören. Ich will ihnen keinen Ärger machen. O du mein Gott, wenn ich es doch nur bis zur Tür schaffen könnte, dann könnte ich mich wieder nach draußen schleichen. Ich war doch schon so nah am Ziel. So nah!
Sie ließ sich auf beide Hände fallen und kroch über den Boden. Der Schmerz umkrallte sie und ließ sie nicht mehr los. Sie krümmte sich, stöhnte und fühlte, wie die Kräfte sie verließen. Es war einfach mörderisch. Und dann schrie sie auf, der Mund öffnete sich, und der Schrei brach sich an den Wänden.
Ignaz in der Küche hätte bald die Flasche mit dem Rotwein fallen gelassen, so sehr erschrocken war er. Aber dann rannte er los. Er sah sie am Boden liegen, hob sie auf und trug sie zum Bett. Sie gebärdete sich wie toll und wollte immer wieder fort. Er musste sie fast mit Gewalt halten, und dann wieder wand sie sich in Schmerzen. Das Grausen kam ihn schon an. War sie wirklich irr? Wer war sie? Er hatte sie im Dorf noch nie gesehen.
Ganz plötzlich war sie wieder still, lag wie tot da, mit geschlossenen Augen. »Bitte, lass mich doch gehen«, sagte sie mit zuckenden Lippen.
»Aber Sturm ist aufgekommen, man erkennt schon lange nicht mehr den Weg. Wirst in die Schlucht stürzen ...«
»Das macht doch nichts«, sagte sie gebrochen. »Lass mich doch, ich will fort.«
»Wohin? Hier oben gibt es kein Haus mehr, nur noch die Alm, aber dort wohnt jetzt niemand.«
»In den Wald«, sagte sie. »In den Wald, ich will sterben, ich will doch sterben ...« Lilly legte die Hand über die Augen. Er sollte ihre Tränen nicht sehen.
Er dachte, ich hab kein Recht, sie auszufragen, aber es ist meine Christenpflicht, sie daran zu hindern. Ein so junges Blut.
»Schauen Sie«, sagte er weich. »Morgen sieht alles schon ganz anders aus, da werden Sie wieder lachen und sich den Kopf zerbrechen, dass man so blöd hat sein können. Jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus, und morgen sehen wir dann weiter.«
»Ich hab alle Brücken abgebrochen«, sagte sie leise, »ich will sterben.«
Was sollte er da noch erwidern?
Und dann kamen die Wehen wieder, und jedes Mal noch viel schrecklicher. Wie sie sich da unter seinen Händen aufzubäumen begann, da ging ihm ganz plötzlich ein Licht auf. Er hatte so oft bei den Kühen mitgeholfen und wusste genau Bescheid. Das uralte Lied, dachte er mit wundem Herzen. Immer ist es einer, der leidet, mal das Mädchen, mal der Mann, wenn das Mädchen ihn verlassen hat. Immer muss auf dieser Welt einer leiden. Darum also will sie in den Wald, sich wie ein Tier verkriechen und dann sterben. Und Gott Zufall hat sie vor meine Tür geweht. Ist das nicht vielleicht ein Zeichen? Soll ich mich nicht um sie kümmern? Aber was kann ich tun? Er dachte an seine Frau, aber nur einen Augenblick. Seit zehn Jahren lebte er nun schon hier oben, war ganz Bergbauer geworden, seit zehn Jahren hatte er die Hölle auf Erden, und seit zehn Jahren hatte sich nie etwas geändert. Aber heute Abend war alles anders geworden.
Ein Mensch lag vor seiner Tür, er brauchte Hilfe, zum ersten Male konnte er sein eigenes Leid vergessen, musste hier beistehen. Und in diesem Augenblick schwor er sich, ich kenne sie nicht, aber alles was in meiner Macht liegt, das werde ich tun, sie soll wieder glücklich werden. Sie soll dem Leben erhalten bleiben. Vielleicht gibt mir das eine tiefe Befriedigung, wenn ich später daran zurückdenken kann, da ist ein Mensch, irgendwo in der Welt, dem ich das Leben gerettet hab, der mir dankbar ist, der nicht bös über mich redet wie die Frau da hinten in der Kammer.
Behutsam legte er sie in die Kissen zurück und strich ihr das schweißnasse Haar aus der Stirn.
»Ich geh jetzt und hol alles, was nötig ist, ich weiß Bescheid, brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir werden es wohl schaffen.«
Wie ein ganz kleines Kind fühlte sie sich im Augenblick. Da war ein Mensch, der ihr helfen wollte, sie nicht fortstieß. Sie weinte.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Ich heiße Elisabeth Eibensteiner, aber man nennt mich Lilly!«
»Gut, ich bin der Ignaz Monnschein«, sagte er lächelnd. Er sah, dass sie mit seinem Namen nichts anfangen konnte.
»Du wirst heute wohl das Kind bekommen«, sagte er ruhig. »Ich werde dir dabei helfen. Bis zum Dorf und zum Doktor, das geht in dieser Nacht nicht. Die Berge halten Wacht, und mit Gottes Hilfe werden wir es schon schaffen!«
Dadurch, dass er mit ihr redete, nahm er ihr die Angst. Und mit jedem Wort streifte er ein wenig mehr Unsicherheit von sich ab. Bald war er wieder der alte Ignaz, groß und breit und zu allen Taten bereit.
»Ich geh jetzt in die Küch, stell das Wasser auf und hol die Tücher.«
Als er fort ging, blieb er für einen Augenblick vor der Tür seiner Frau stehen. Ob er sie holen sollte, dass sie ihm helfe? Aber dann ging er weiter, durch den Stall an dem Vieh vorbei zum Sepp. Dieser saß noch am Tisch und las in einem großen Buch, das er ihm mal mitgebracht hatte. Ihn klärte er mit wenigen Worten über alles auf. Dann nickte Sepp und ging sofort mit.
Es war der halbtaube Sepp und der große Sänger, die in dieser Nacht Lillys Kind auf die Welt helfen sollten. Sepp blieb in der Küche und bewachte das Feuer und das Wasser. Jetzt fragte er nicht viel, später würde ihm der Bauer wohl alles sagen.
Ignaz saß in der Kammer neben dem fremden Mädchen und ermunterte sie immer wieder zum Reden, darüber sollte sie die Angst und alles vergessen.
Lilly wusste auch nicht wie ihr war, aber sie hatte Vertrauen zu ihm. So dauerte es nicht lange, und Ignaz erfuhr die ganze Geschichte. Er hatte es ja schon geahnt und nickte. Und jetzt war sie mit dem Problem nicht fertiggeworden, nein noch schlimmer, sie war so weichherzig veranlagt, dass sie lieber den Tod suchte, als das Kind unglücklich zu machen. Im Grunde genommen hatte sie ja recht. Gewiss, die Welt veränderte sich, und uneheliche Kinder und deren Mütter wurden nicht mehr wie früher vor der Kirche ausgepeitscht, und sie wurden auch nicht mehr aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Und doch blieb auch jetzt noch immer ein Makel zurück, und dann waren da die großen Geldsorgen, da wusste man einfach nicht, wie man es schaffen sollte. Da musste man arbeiten gehen, und möchte doch so gern bei dem Kind daheim bleiben.
Ignaz nahm sich vor, dieses Kind zu adoptieren oder der Patenonkel darüber zu sein, so würde er dann das Recht haben, dafür zu sorgen. Ihm war auf einmal so friedlich zumute. Wie oft hatte er den Himmel angefleht, und jetzt war etwas eingetreten. Sie standen kurz vor dem Weihnachtsfest, und sie würden ein Kind unter diesem Dach haben. Natürlich konnte sie nicht sofort wieder fort. Und dann, sie sagte ja auch selbst, sie habe keine Bleibe mehr.
In diesem Augenblick hatte er seine Frau hinten in der Kammer ganz vergessen.
Lilly musste Schreckliches durchmachen. Manchmal sah es so aus, als würde sie es nicht mehr schaffen, der Weg hier herauf, die Kälte, all das zehrte jetzt an ihren schwachen Kräften. Schon seit Tagen hatte sie ja nichts Richtiges mehr zu sich nehmen können, da das Geld nicht gereicht hatte. Und jetzt sollte ihr Kind zur Welt kommen.
Ihr wurde nichts erspart, sie musste durch dieses Tor hindurch. Immer wieder klammerte sie sich an den fremden Mann, suchte bei ihm Halt, Trost, und dann tauchte sie wieder unter in ein Meer von Schmerzen. Hier konnte er ihr nicht helfen, das musste sie allein durchstehen.
Aber dann, als sie glaubte, jetzt würde sie sterben, in diesem Augenblick kam das Kind!
Ignaz fing es mit seinen Händen auf. Ein winziges Häuflein Mensch, so zart wie ein Engel, Fingerchen wie Blütenstängel, so durchsichtig.
Ignaz hielt es in seinen Händen und blickte darauf nieder! Ein Wunder der Natur!
Die Tränen liefen ihm über das Gesicht! Sepp stand neben ihm, und auch über seine wetterharten Wangen rann das Wasser. Lilly war todesmatt in die Kissen zurückgefallen und war dann ohnmächtig geworden.
Lillys kleines Mädchen war tot! Es hatte nicht einen Augenblick die Chance zum Leben gehabt, dazu war es zu früh auf die Welt gekommen. Selbst in einer modernen Klinik hätte man nichts machen können.
Dieses engelsgleiche Geschöpf, auf das Ignaz in diesen Stunden all seine Hoffnung gesetzt hatte, es war tot! Noch immer konnte er es nicht fassen. Die harte Kruste, die all die Jahre um sein Herz gelegen hatte, sie brach auf, und er weinte!
»Warum?«, fragte er leise.
Sepp nickte mit dem Kopf zur jungen Frau. Ignaz wusste, sie musste jetzt versorgt werden, sonst konnte sie womöglich auch noch sterben.
Er wickelte das Kind in ein weiches Tuch und legte es dann auf den Tisch. Dann kümmerte er sich um Lilly. Er war froh, dass sie jetzt ohnmächtig war. Schnell und gewandt, als hätte er es schon immer getan, beseitigte er die Nachgeburt, wusch alle Spuren ab und gab ihr neue Wäsche. Vereint mit Sepp ging jetzt alles viel besser.
Kurze Zeit später lag sie friedlich schlafend in den Küssen.
Ignaz fühlte sich in diesen Sekunden müde und ausgelaugt!
Aber da war noch das Kind!
Er blickte Sepp kurz an, dieser nickte, dann nahm er es, und sie verließen die Kammer. Sie gingen in den Schuppen und holten sich Spitzhacke und eine Schaufel. Dann verließen sie das Haus.
Sonja stand hinter der Gardine und sah ihnen nach, sie wusste alles. Die Holzwände waren nicht so dick, und die Schreie hatten ihr genug gesagt.
Die beiden Männer schritten auf den Hochwald zu. Sie hatte im Wald sterben wollen, und nun würden sie das kleine Mädchen dort begraben.
Am Rand, wo die Zweige den Schnee abhielten, gruben sie mit Spitzhacke und Schaufel ein kleines Loch in die Erde. Ignaz kniete nieder und legte das kleine Kind hinein. Sie knieten beide noch davor und sprachen ein Gebet, dann schaufelten sie es wieder zu und legten einen großen Stein darüber.
Zu Tode erschöpft wankten sie nach Hause.