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„Warum hat Ihre Mutter das gesagt und Sie so gequält?“, fragte Dr. Härtling ergriffen.

„Ich sollte vor lauter schlechtem Gewissen nur noch für meinen Bruder da sein“, sagte Melanie niedergeschlagen, „und ihre gemeine Rechnung ist ja auch tatsächlich aufgegangen. Meine Gewissensbisse brachten mich fast um. Ich hätte mir wahrscheinlich etwas angetan, wenn ich mir nicht ständig gesagt hätte, ich müsse mit meiner ganzen Kraft meinem Bruder zur Verfügung stehen.“

„Wurden Sie Krankenschwester, um Ihren Bruder besser betreuen zu können?“, erkundigte sich der Klinikchef.

„Das war mit ein Grund, weshalb ich mich für diesen Beruf entschieden habe.“

„Ist Ihr Bruder an den Rollstuhl gefesselt?“, fragte der Chefarzt.

Melanie nickte.

„Seit siebeneinhalb Jahren.“ Sie seufzte schwer. „Inzwischen weiß ich natürlich längst, dass meine Mutter mich belogen hat. Das Wesen der multiplen Sklerose besteht in einem sich chronisch wiederholenden entzündlichen Prozess, als dessen Folge im Gehirn und im Rückenmark in wahlloser Verteilung zahlreiche verhärtete Entartungsherde entstehen. Durch diese in die nervliche Substanz eingestreuten Verhärtungsherde wird der Ablauf des komplizierten nervlichen Geschehens mehr oder minder nachhaltig beeinträchtigt, was eine übergroße Ermüdbarkeit der Beine und Unsicherheit der Hände, Sehstörungen, Sprachbehinderung, Lähmung der Gliedmaßen und dadurch bewirkte Gangstörung, Schwindel, Störungen des Gefühlssinnes, Zittern, Veränderungen der Handschrift und anderes zur Folge hat.“

„So sieht das MS-Krankheitsbild in der Tat aus“, bestätigte Dr. Härtling.

„Ich weiß heute auch, dass diese schlimme Krankheit nie und nimmer durch einen Treppensturz ausgelöst werden kann“, sagte Melanie bitter. „Damals habe ich es geglaubt.“ Sie wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Augen. „Ich habe jahrelang mit dieser Schuld gelebt und unter ihr gelitten. Und obwohl ich nun weiß, dass ich nichts für die Krankheit meines armen Bruders kann, bringe ich es nicht fertig, ihn in ein Heim zu geben. Ich liebe ihn. Er braucht mich. Es wäre mir niemals möglich, mich von ihm zu trennen. Welchem Mann aber könnte ich uns beide zumuten? Ich bin nicht allein. Wer mich will, müsste mich mit meinem Bruder nehmen. Da so ein Heiliger wohl kaum zu finden ist, lasse ich lieber erst gar keinen Mann an mich heran und widme meinem Bruder all die Zeit, die ich habe.“

„Deshalb arbeiten Sie hier als Nachtschwester“, sagte Sören Härtling.

„Um mich tagsüber um Bruno kümmern zu können“, nickte Melanie.

Sören - an und für sich ein äußerst toleranter Mensch - konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen: „Ihre Mutter ist die böseste, gemeinste, durchtriebenste und skrupelloseste Frau, von der ich je gehört habe.“

„Mein Bruder und ich sind froh, dass wir so gut wie nichts mehr von ihr hören. Sie lebt ihr Leben, wir das unsere, und wir kommen bestens ohne sie zurecht.“

„Aber Ihnen fehlt ein Partner, mit dem Sie glücklich sein können.“

Melanie hob die Schultern.

„Ich finde Erfüllung in meiner Arbeit und in der aufopfernden Pflege meines Bruders. Mehr brauche ich nicht.“

Dr. Härtling schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das glaube ich Ihnen nicht.“

„Man kann auch ohne die Liebe eines Mannes leben.“

Der Leiter der Paracelsus-Klinik nickte.

„Aber nur so ernst und so traurig wie Sie.“

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Melanie: „Sie sind der erste Mensch, dem ich meine Geschichte erzählt habe.“

„Ich hoffe, Sie fühlen sich jetzt besser.“

„Es hat gutgetan, endlich mal darüber zu reden“, gab Melanie zu.

„Sie sollten auch Herrn Krage ins Vertrauen ziehen und sich anhören, was er dazu sagt“, empfahl Sören der schönen Nachtschwester.

Melanie schüttelte sofort heftig den Kopf.

„Das kann ich nicht.“

„Warum nicht?“, fragte Sören Härtling.

„Ich möchte mir eine herbe Enttäuschung ersparen“, antwortete die Pflegerin.

„Darf ich daraus schließen, dass Ihnen Klaus Krage nicht völlig gleichgültig ist?“

Melanie schlug die Augen nieder und schwieg. Eine andere Antwort brauchte der Leiter der Paracelsus-Klinik eigentlich nicht.

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