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aa) Zivilgerichte

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Die Zivilgerichte waren bereitwilliger als die Verwaltungsgerichte, die Anwendbarkeit der Konvention und ihren Vorrang vor dem französischen Recht anzuerkennen. Wie schon beim Gemeinschaftsrecht legten sie eine eigene Herangehensweise zugrunde. Bereits 1975 entschied die Strafkammer der Cour de Cassation, dass die Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Untersuchungshaft mit der EMRK unvereinbar waren.[67] Seit diesem Datum zeugen zahlreiche Entscheidungen verschiedener Kammern der Cour de Cassation vom Willen dieser obersten Gerichtsinstanz, über die Einhaltung der Konvention zu wachen. Am häufigsten wird hierbei auf Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) zurückgegriffen. Die Abhörmaßnahmen sind eines der aufsehenerregendsten Beispiele für den Einfluss der Konvention auf die Zivilgerichte. Die äußerst laxe französische Bestimmung zu Abhörmaßnahmen wurde vom EGMR in seinem Beschluss Kruslin und Huvig aus dem Jahr 1990 als mit Art. 8 EMRK unvereinbar erklärt.[68] Kaum einen Monat später hat die Cour de Cassation ihre Rechtsprechung modifiziert und dem Standpunkt des EGMR angeglichen.[69] Der Gesetzgeber ist dem schließlich gefolgt und hat für die Polizeiorgane strengere allgemeine Vorschriften bei Abhörmaßnahmen festgelegt.[70] Freilich ist die Umsetzung der EMRK durch den Kassationsgerichtshof nicht immer so spektakulär. Aus einem den Obergerichten eigenen Unabhängigkeitsbestreben heraus ist er dem EGMR häufig gefolgt, ohne ausdrücklich auf dessen Rechtsprechung Bezug zu nehmen. Er führte dabei häufig die unterschiedlichsten Artikel der EMRK an, ohne deutlich zu machen, dass die gewählte Auslegung auf den EGMR zurückgeht. Das französische Recht zur Transsexualität wurde auf diese Weise den Ansprüchen des EGMR angepasst.[71] Manchmal treibt ihn sein Autonomiestreben noch weiter, so dass er seine Entscheidungen allein auf französisches Recht stützt, ohne auch die Konvention zur Untermauerung seiner Schlussfolgerung zu zitieren. Die neue Zivilprozessordnung wird Art. 6 EMRK, Art. 9 Code civil der Bestimmung des Art. 8 EMRK vorgezogen.[72]

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Schwerwiegender noch ist, dass die Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs hin und wieder rebellische Anwandlungen gegenüber dem EGMR zeigt, wobei die punktuelle Ablehnung seiner Rechtsprechung mit einem Rest unangebrachter Empfindlichkeit gegenüber europäischen Richtern erklärt werden kann. Dies war etwa in Sachen Papon der Fall, einem früheren Generalsekretär der Präfektur der Gironde, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt wurden. Ein alter Artikel der Strafprozessordnung untersagte dem Kassationsgerichtshof, sich der Sache anzunehmen, solange der Verurteilte auf der Flucht war. Diese Vorschrift wurde vom Gesetzgeber im Jahr 2000 aufgehoben. Mit seinem Beschluss Poitrimol hatte der EGMR entschieden, dass diese Bestimmung mit Art. 6 Abs. 1 der Konvention insofern unvereinbar war, als sie bestimmten Verurteilten das Recht absprach, sich an ein Gericht zu wenden.[73] Dennoch wurde der Revisionsantrag Papons für unzulässig erklärt, da er nicht vor dem Gericht erschienen war. Der Europäische Gerichtshof war daher gezwungen klarzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 erneut verletzt worden war.[74] Die Ablehnung einer europäischen Rechtsauslegung kann ihre Erklärung auch in der Treue zum französischen Recht oder dem Willen finden, den Gesetzgeber reagieren zu lassen. Dies war anlässlich der – ungerechten – Erbfolgeregelungen für nichteheliche Kinder der Fall. Trotz der vom EGMR seit 1979 im Namen des Rechts auf Schutz der Familiensphäre empfohlenen Gleichbehandlung solcher Kinder hat es die Cour de Cassation abgelehnt, die Unvereinbarkeit der Bestimmungen des französischen Zivilgesetzbuchs mit der Konvention festzustellen.[75] Die gleiche Haltung lässt sich auch bezüglich einiger Strafverfahrensregelungen beobachten.[76]

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