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bb) Verwaltungsgerichte

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Die Verwaltungsgerichte hatten – wie schon bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts – noch längere Zeit Vorbehalte gegen eine Umsetzung der EMRK. Ihre Treue zum Vorrang des Gesetzes hielt sie lange davon ab, den Vorrang von Normen fremden Ursprungs gegenüber später in Frankreich erlassenen Gesetzen anzuerkennen. Nach Anerkennung des Vorranges des internationalen Rechts auch gegenüber später verabschiedeten Gesetzen im Beschluss Nicolo aus dem Jahr 1989[77] hat das oberste Verwaltungsgericht allerdings nicht mehr gezögert, sich auf die EMRK zu beziehen und die mit ihr unvereinbaren Gesetze oder Verordnungen zurückzuweisen. Die Bestimmungen der Konvention, die die Verwaltungsrechtsprechung am meisten beeinflusst haben, sind Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), Art. 6 EMRK (Recht auf einen fairen Prozess) und Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz der Familiensphäre). Nach langem Widerstand hat der Conseil d’État schließlich auch die Anwendung von Art. 6 EMRK bei Verfahren vor Berufsgerichten wie der Ärztekammer akzeptiert.[78] Gestützt auf Art. 3 EMRK lehnt er wie der EGMR die Auslieferung eines Ausländers an ein Land ab, in dem dieser mit der Todesstrafe rechnen muss.[79] Die tatsächliche Öffnung der Verwaltungsrechtsprechung für die Konvention darf freilich nicht verschleiern, dass der Conseil d’État, wie der Kassationsgerichtshof, danach strebt, seine Unabhängigkeit gegenüber dem EGMR zu bewahren. Als Gericht letzter Instanz vermeidet er den Eindruck, sich systematisch den in Straßburg vertretenen Standpunkten anzupassen. Er erklärt die Konvention für anwendbar, doch wendet er sie nicht immer wie vom EGMR vorgegeben an, wie etwa seine Entscheidungen in Abschiebungsverfahren illustrieren. Seit 1991 vertritt der Conseil d’État insoweit die Auffassung, dass die von der Verwaltung angeordnete Abschiebung von Ausländern unter Beachtung des von Art. 8 EMRK eingeräumten Rechts auf Schutz der Familiensphäre zu überprüfen ist.[80] Gleichwohl blieb er dabei hinter dem Europäischen Gerichtshof zurück und legte Art. 8 EMRK weniger streng aus. Gleiches gilt für die Meinungsfreiheit.[81]

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Über punktuelle Einflüsse auf diverse Aspekte der Verwaltungsrechtsprechung hinaus haben die EMRK und die aus ihr resultierende Rechtsprechung weitergehende Einflüsse auf die Verwaltungsgerichte. S. Braconnier hat ihnen besondere Aufmerksamkeit gewidmet.[82] Die Gerichte, wie im Übrigen auch der Gesetzgeber, berücksichtigen jedenfalls „den Geist“ der Entscheidungen des EGMR. Ohne diesen zu zitieren, hat der Conseil d’État manche Verfügung erlassen, die die Grundrechte in deren Sinn auslegt. So hat er die gerichtliche Überprüfung behördlicher Ordnungsmaßnahmen zugelassen, etwa von Disziplinarstrafen in Gefängnissen oder in der Armee. Solche Maßnahmen galten noch bis vor kurzem als rein verwaltungsintern und waren damit der gerichtlichen Kontrolle nicht unterworfen.[83] Auch bei Auslegung der Religionsfreiheit ist der Conseil d’État stillschweigend den Entwicklungen der europäischen Rechtsprechung gefolgt. Nachdem er zunächst die Auffassung vertreten hatte, dass das Tragen religiöser Symbole durch Schüler öffentlicher Schulen im Prinzip zuzulassen sei,[84] hat er eingeräumt, dass der Gesetzgeber (Gesetz vom 15. März 2004) ein grundsätzliches Verbot aussprechen kann.[85] Es bestehen kaum Zweifel, dass sich der Conseil d’État dabei offen an einem Beschluss des EGMR von 2004 orientierte,[86] ungeachtet der Tatsachen, dass dieser Beschluss damals noch nicht rechtskräftig war (die Große Kammer wurde damit befasst) und der Gerichtshof zur Begründung seiner Entscheidung nachdrücklich auf die besonderen Gegebenheiten in der Türkei abstellte. Daran wird deutlich, dass „der Geist“ Straßburgs sowohl Fortschritte in der französischen Rechtsprechung bewirken als auch zweifelhafte Auslegungen der Konvention rechtfertigen kann. Insgesamt hatte die EMRK sicher einen positiven Einfluss auf die Verwaltungsgerichte. Sie hat dazu geführt, dass diese das Verwaltungsrecht verstärkt zu Gunsten des Einzelnen interpretieren und ihre Aufmerksamkeit nicht mehr nur dem Allgemeininteresse zuwenden. Nach und nach haben die Individualrechte so an Bedeutung gewonnen.[87] Die Rechtsprechung hat sich damit vom Garanten des Allgemeininteresses (Legalitätsprinzip) zum höchsten Verteidiger der Rechte und Freiheiten des Individuums gewandelt und sich damit der deutschen Konzeption angenähert.

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