Читать книгу Fanrea - A.E. Eiserlo - Страница 10

Das Zauberbuch

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Da es auf dem Speicher keinen Strom gab, lief Esther in die Küche, um drei Kerzen samt Streichhölzern zu besorgen, die sie Ben reichte. Zunächst entzündete er Esthers ebenso Emmas Kerzen, dann erst die eigene, aber das Streichholz wurde schnell zu kurz, sodass das Feuer seine Finger berührte. Seltsamerweise empfand Ben keinen Schmerz! Irritiert starrte er die Hände an. Was hatte das zu bedeuten? Kopfschüttelnd und grübelnd folgte er den beiden.

Die flackernden Kerzenflammen fraßen zuckend die Dämmerung, die sich inzwischen im Haus breit gemacht hatte. Vorsichtig stiegen die drei hintereinander die knarrende Eichentreppe zum Dachgeschoss empor.

Oben angekommen, zog Esther einen verrosteten Schlüssel aus der Tasche ihres Kleides, mit dem sie die Tür öffnete. Laut quietschend ging diese auf. Der Geruch von Staub und alten Kisten mit vergessenen Dingen schlug ihnen entgegen.

Der Schein der Kerzen malte bizarre Schatten an die Wände. Die drei blieben zögerlich stehen. Esther betrat als erste den Raum, die beiden Freunde folgten gespannt.

Ben war immer noch verwirrt: »Eben, als ich das Streichholz angezündet habe, da …«

»Iiiiihhh!«, schrie Emma und sprang erschrocken zur Seite.

»Was ist los?«, fragte Ben nervös.

»Bäh, ach nichts, es waren nur Spinnweben!«

Esther ging weiter, es raschelte in den Ecken. Die Dunkelheit war unheimlich, dennoch lockte sie mit ihren Geheimnissen. Die Kerze hochhebend drehte Esther sich einmal im Kreis, auf der Suche nach einer ganz bestimmten Kiste: jene, in der das Zauberbuch lag.

Wieder raschelte es in der Dunkelheit, eine Gänsehaut überlief Emmas Körper. Kurz hielt sie die Luft an, zwang sich jedoch die aufsteigende Angst zu bekämpfen.

Bens Nackenhaare stellten sich hoch, als er versuchte, mit den Augen die Düsternis zu durchdringen. Er wollte sehen, was dort dauernd raschelte, aber ihm offenbarte sich nur ein heilloses Durcheinander: Kisten, Koffer, Tüten, Ledertaschen, alte Vasen, Flaschen in verschiedenen Größen, staubige Bücher, ausrangierte Lampen, zerbeulte Kochtöpfe, eine Puppe, von der Decke hängende Kräuter, ein selbstgebautes Puppenhaus, Holzskier an einer Musikbox. Die Unordnung war unbeschreiblich! Esther griff nach einem ausrangierten, dreiarmigen Kerzenleuchter.

»Wow, was für ein Chaos!«, staunte Emma.

Esther stimmte ihr zu: »Ja, hier atmen wir die stehengebliebene Zeit und den Staub des letzten Jahrhunderts ein! Es ist eine echte Rumpelkammer! Aber immer, wenn ich mir vornehme auszumisten, ist etwas anderes wichtiger.«

Mir ist eingefallen, dass ich das Buch nicht in eine Kiste, sondern in einen großen, braunen Überseekoffer gelegt habe. Gut versteckt, damit es nicht in falsche Hände gerät. Aber es ist so viel Zeit seither vergangen, dass ich mich nicht mehr erinnere, wo er steht. Wir müssen einfach den ganzen Speicher absuchen. Wir fangen da hinten in der Ecke an. Leuchtet mal dorthin mit euren Kerzen!«

Staub tanzte im spärlichen Licht der Flammen. Kisten wurden hin und her geschoben, mehrere kleine Koffer geöffnet, anschließend durchwühlt. Sie fanden ein Sammelsurium von Dingen, doch kein Zauberbuch. Enttäuschung machte sich breit.

Schließlich spürte Emma ein ungewöhnliches Kribbeln in ihren Fingern, deshalb drehte sie sich unbewusst um. Wie von einem Magneten angezogen, ging sie ein paar Schritte, schob einige Körbe sowie eine kaputte Wäschetruhe beiseite und rief aufgeregt: »Da steht so ein Koffer! Ist er das?«

Esther folgte ihr, rief dabei erfreut: »Super, Emma, das ist er!«

Die beiden Freunde starrten auf den dunkelbraunen Lederkoffer und konnten den Blick nicht abwenden.

»Ich hab Herzrasen«, murmelte Emma.

Langsam traten die drei zum Koffer. Die Spannung war greifbar. Esther öffnete die Schnallen, klappte das obere Teil auf und leuchtete mit ihrer Kerze kurz hinein. Anschließend steckte sie diese in den dreiarmigen Halter. Ben und Emma taten es ihr nach. Die Kerzen warfen ihren Schein auf einen Haufen staubiger Bücher, die von vergangenen Abenteuern erzählten, jetzt danach lechzten, wieder in die Hand genommen und entdeckt zu werden.

Wie gebannt schauten Emma und Ben in den geöffneten Koffer, während Esther zu wühlen begann. Plötzlich hielt sie inne, zog einen in Packpapier eingewickelten Gegenstand hervor. Vorsichtig entfernte sie das Papier und hielt ein großes, schweres Buch mit einem ledernen Einband in den Händen.

»Das Zauberbuch …«, flüsterte Esther ehrfurchtsvoll.

In diesem Moment flatterte es über ihren Köpfen. Alle drei zuckten zusammen. Emma schrie auf vor Schreck.

Doch Esther beruhigte sie: »Das sind nur Fledermäuse, es ist alles in Ordnung. Wahrscheinlich ist das Dach irgendwo undicht und sie haben sich meinen Speicher als Zuhause ausgesucht.«

»Puh, hab ich mich erschreckt!«, stöhnte Emma.

Respektvoll nahm Ben Esther das Buch aus der Hand, strich mit seiner freien Hand über das dunkle Leder. Magische Zeichen sowie rätselhafte Symbole waren darin eingestanzt, zusätzlich mit glänzendem Gold gefüllt. Bei einem symbolisierten Drachen verharrten Bens Finger kurz. An den vier Ecken schillerte jeweils ein farbiger Stein in Zartblau, Braun, Orange und einem durchsichtigen Weiß. Die Magie der vergangenen Jahrtausende sprach auf geheimnisvolle Art und Weise zu ihnen.

Sofort spürte Emma die unglaubliche Macht, die von dieser Kostbarkeit ausging. Ein zartes Kribbeln überzog ihre Haut, als ob leichter Strom sie durchfließen würde. Schauer liefen über Emmas Rücken, fasziniert konnte sie den Blick nicht von dem Buch abwenden. Wie alt mochte dieses Buch wohl sein?

Neugierig fragte Ben: »Hast du mal reingeschaut, Esther?«

»Leider nein. Ich habe mich nie getraut, es zu öffnen. Zauberbücher nehmen so etwas schrecklich übel. Instinktiv habe ich immer gewusst, dass dieses Buch nicht für mich bestimmt ist, sondern dass ich es nur verwahren soll.«

Eine Frage beschäftigte Ben die ganze Zeit: »Wie ist das Buch zu dir gelangt? Ich meine, so etwas Besonderes fällt einem nicht jeden Tag in die Hände, oder?«

»Irgendwann hatte ich einen Flyer von einem Trödelmarkt im Briefkasten. Ich verspürte das intensive Gefühl, unbedingt zu diesem Trödel gehen zu müssen. Als ich dann dort war, zog es mich magnetisch zu einem der Stände hin. Ich bin es gewohnt, auf solche Zeichen zu achten.

Dort saß eine alte, hutzelige Frau zwischen Bergen von antiken Büchern. Viele Jahre lasteten auf ihrem krummen Buckel und inmitten des faltenreichen Gesichts fielen die stahlblauen, hellwachen Augen auf, die mich eindringlich ansahen, fast durchleuchteten. Ihre grauen Haare waren zu einem Dutt zusammengesteckt, dazu trug sie ein altmodisches, grünes Kleid. Als ich zu ihr ging, pries sie mir gleich ein Buch an, welches sie nicht ausgestellt hatte, sondern in einer klapprigen Kiste aufbewahrte.

Ihr kennt meine Vorliebe für Bücher, deshalb ließ ich es mir zeigen. Direkt nahm ich die Magie wahr, verspürte den starken Wunsch, es zu besitzen. Mir war klar, dass es eine Kostbarkeit war, die auf keinen Fall in falsche Hände geraten durfte! Der Preis, den die alte Frau mir nannte, war lächerlich gering. Ohne zu zögern erwarb ich es.

Als ich mich nur wenige Schritte von dem Stand entfernt hatte, drehte ich mich noch einmal um, doch das Hutzelweib war verschwunden, stattdessen stand dort eine junge, hübsche, blonde Frau mit zwei Kindern. Auf meine verblüffte Nachfrage hin sagte sie mir, dass es an ihrem Stand keine alte Dame gebe. Tja, so ist das mit der Zauberei!«

»Irre Geschichte! So wie gerade alles in unserem Leben!«, kommentierte Ben.

Emma fühlte ein merkwürdiges Gefühl in ihrem Bauch, während sie das Buch anstarrte. Sie wurde von ihm angezogen, aber lehnte dieses Ziehen ab. Es war ihr unheimlich. Warum war da dieser Sog? Wohin würde das Buch sie leiten? Sie zweifelte, ob sie all dem gewachsen war.

Ben fragte Esther: »Weißt du sonst etwas über dieses Buch?«

»Nein!«

In diesem Moment hörten sie ein lautes Donnergrollen: »Oh, das Gewitter, es ist inzwischen näher gekommen. Wenn ihr euch beeilt, seid ihr rechtzeitig zu Hause. Kommt, wir gehen nach unten.«

Sie nahmen die Kerzen wieder an sich und eilten zur Treppe. Emma war die Letzte. Immer noch grübelte sie über das Zauberbuch und seine Wirkung nach. Auf einmal hatte sie den Eindruck, dass jemand sie beobachtete. Emma drehte sich zögernd um, leuchtete mit der Kerze in den Raum hinein. Tatsächlich: Da hockte die fette, graue Ratte aus dem Garten und musterte sie mit ihren gelb funkelnden Augen. Sie saß einfach nur da, völlig bewegungslos, wirkte dabei trotzdem aggressiv. Ein intensiver Geruch nach Pfefferminze durchströmte den Raum.

Emma spürte, wie sich ihre Nackenhaare langsam aufrichteten. Sie hörte Ben und Esther unten ankommen und fühlte sich völlig allein gelassen. Eisige Kälte kroch langsam an ihren Körper hoch, ergriff dabei von ihr Besitz. Es war als flösse Eiswasser durch ihre Adern.

Die Ratte starrte das Mädchen weiterhin bösartig an. Das Empfinden, gelähmt zu sein, machte sich in Emma breit. Ihre Beine versagten den Dienst, während die Augen der Ratte sie weiter in ihren Bann zogen. Ein unheimliches Wispern erfüllte den Raum. Emma glaubte, die Ratte flüstern zu hören und hielt den Atem an. Sie versuchte zu verstehen, was die Ratte ihr sagen wollte, aber es war zu leise.

Plötzlich begann die Luft um die Ratte herum zu flirren. Das unheimliche Wesen schien seine Form aufzulösen. Die Umrisse zerfransten und die gesamte Gestalt veränderte die Konturen.

Dann geschah etwas Unerwartetes: Drei dicke Wassertropfen fielen vom Deckenbalken herunter, zerplatzten mitten auf Emmas Stirn. Wassertropfen? Wo kamen die denn jetzt her? Als das Wasser kühl an ihrem Gesicht hinabrann, stieß Emma den Atem aus und sog frische Luft in die Lungen.

In derselben Sekunde rief Ben von unten: »Emma! Komm endlich, wir müssen los!« Er spürte eine ungewohnte Nervosität im Körper. Die Flamme der Kerze flackerte und bäumte sich auf. Sie schien zu zischen und zu raunen. Gleichzeitig vibrierte das Zauberbuch leicht in seiner Hand. Wo blieb Emma nur? Irgendetwas stimmte hier nicht! Erneut rief er: »Emma!«

Wie aus einer Trance erwachte seine Freundin. Sie schüttelte sich und hastete Richtung Tür, schaute dort noch einmal zurück, aber die Ratte war verschwunden.

Gehetzt rannte sie die Treppe hinunter. »Da war etwas Gruseliges! Auf dem Speicher war die Ratte aus dem Garten! Sie hat sich verändert, ich … ich hatte Schiss! Dann war sie plötzlich – weg.«

Emma war ganz aufgeregt und durcheinander. Was war das für eine Ratte? Woher kamen plötzlich diese Wassertropfen? Es sprudelte aus ihr heraus: »Ich war wie hypnotisiert. Ich glaube, die Ratte wollte mich angreifen!«

»In der Dunkelheit des Speichers ist alles unheimlich. Außerdem seid ihr gerade sowieso überreizt. Die Dinge wirken deshalb anders, meint ihr nicht?«, versuchte Esther sie zu beruhigen.

»Nein, das war echt so! Oder nicht? Doch, da war was. Ach, ich weiß auch nicht!«

Tröstend drückte Ben seine Freundin an sich. »Ist ja nichts passiert.«

»Hm!«, grummelte Emma.

Kurz überlegte Esther, ob ihnen die männlichen Rattenzwillinge Jidell und Quidell, einen bösen Streich gespielt hatten, aber das passte nicht zu den beiden. Die Brüder waren ein Mitbringsel aus Fanrea, die seit damals bei ihr wohnten. Sie nahm sich vor, die Rattenbrüder später darauf anzusprechen. Besorgt seufzte sie. »Möglich ist alles! Wenn dort oben wirklich jemand war, dann sollten wir das als Warnung verstehen. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Leider leben nicht nur liebenswerte oder harmlose Wesen in Fanrea. Auch dort existieren Licht und Schatten, sie liegen sogar ziemlich dicht beieinander. Passt gut auf euch auf und beschützt das Zauberbuch! Meine Liebe wie auch meine Gedanken begleiten euch!«

Mit zitternder Stimme fragte Emma: »Wie? Nicht nur harmlose Wesen? Welche Wesen gibt es denn sonst noch dort?«

Nun befand Esther sich in einem echten Gewissenskonflikt. Was sollte sie Emma und Ben noch erzählen, was lieber nicht? Sie hätte eben mehr von den gefährlichen Kreaturen Fanreas berichten sollen, aber dummerweise hatte sie sich in ihren schönen Erinnerungen verloren. Nun wurde die Zeit knapp. Fieberhaft überlegte sie, womit sie den beiden helfen konnte, da fiel ihr etwas ein: Die Kieselsteine des Wassermanns Asran! Vielleicht würden diese Steine in einer Notsituation zum Lebensretter werden. Die unheimliche Ratte dort oben auf dem Speicher bedeutete wahrscheinlich, dass die dunklen Mächte ihnen schon auf der Spur waren.

Nur äußerst ungern ließ Esther die zwei nach Fanrea gehen. Ob sie die beiden begleiten sollte? Ach nein, sie fühlte sich zu alt für Abenteuer, außerdem hatte sie geschworen, nie wieder einen Fuß nach Fanrea zu setzen.

»Tante Esther, sag mal!«, rief Emma ungeduldig auf Antwort wartend.

»Einen Moment noch!« Esther rannte hektisch in ihr Schlafzimmer, in dem sie erstaunlicherweise schnell die gesuchten Steine fand. Sie lief zurück zu Ben und Emma. »Ich habe hier noch etwas für euch. Der Wassermann Asran hatte mir bei unserer Begegnung damals eine Kette aus magischen Steinen geschenkt. Sie sehen zwar aus wie ganz normale Flusskiesel, aber es sind Zaubersteine. Wenn ihr sie in der Hand haltet, euch stark konzentriert und dabei in Gedanken um Hilfe ruft, dann wird euch durch Magie Rettung gesandt werden, wenn es möglich ist. Ich schenke jedem von euch einen Stein. Nehmt ihn und passt gut darauf auf!«

»Hä?« Ben schüttelte den Kopf. »Okaaaay!«

»Frag nicht, mach einfach!«, befahl Esther. »Du wirst im Moment sowieso nicht alles verstehen.«

Sie drückte ihrer Nichte und deren Freund jeweils einen magischen Flusskiesel in die Hand, für den die beiden sich ehrfurchtsvoll bedankten. Ben betrachtete den Stein. Er war kugelrund, grau gemasert und hatte in der Mitte ein kleines Loch. Eine angenehme Wärme ging von dem magischen Kiesel aus, sodass er lebendig wirkte. Vorsichtig steckte Ben ihn in die Jeans. Der Gedanke, einen Gegenstand aus einer anderen Welt in seiner Hosentasche zu tragen, befremdete ihn.

»Tantchen, ich hoffe, sie werden uns helfen«, flüsterte Emma, während sie ihren Stein fest in der Hand hielt. Sie mochte ihn gar nicht mehr loslassen, tat es dann aber Ben nach und ließ den Kiesel widerwillig in ihrer Jeans verschwinden.

Ben meldete sich zu Wort: »Na ja, lieber wäre mir, wir würden sie gar nicht benötigen.«

Die drei umarmten einander liebevoll zum Abschied. Esther teilte ihnen noch einen letzten Gedanken mit: »Die Zeit läuft in Fanrea anders als auf unserer Erde, deshalb wird wahrscheinlich niemand merken, dass ihr weg seid. Aber zur Sicherheit sagt euren Eltern, dass ihr eine Nacht bei mir bleibt.«

Zustimmend nickte Emma. Ein mulmiges Gefühl wollte sich im Bauch einnisten, als sie an ihre Mutter dachte.

Ben grinste. »Esther! Du und die Wahrheit verbiegen? Ich glaub es nicht! Baron Münchhausen lässt grüßen. Aber tröste dich: Eine Lüge, die ein Leben trägt, ist besser als eine Wahrheit, die ein Leben zerstört.*«

Nicht wirklich überzeugt zog Esther eine Augenbraue hoch.

Seufzend strich Emma eine Locke aus ihrer Stirn. Mit ernstem Blick sagte sie zu Esther: »Wenn mir in Fanrea etwas passieren sollte und ich nicht zurückkomme, dann musst du Mama alles erklären. Versprich mir das!«

Eiskalt wurde es Esther bei diesem fürchterlichen Gedanken und sie schüttelte sich. »Es wird schon gut gehen! Soll ich euch durch den Wald begleiten?«

Ben stöhnte: »Auf keinen Fall! Ohne dich sind wir viel schneller!«

»Na, so lahm und alt bin ich nun auch wieder nicht, du Frechdachs! Kinder, wir sehen uns morgen!«

Wieder grummelte der Himmel. Esther runzelte die Stirn und sah den beiden zweifelnd hinterher. Hätte sie die zwei nicht doch warnen sollen, wie gefährlich Fanrea wirklich sein konnte? Aber damit schürte sie nur Ängste und Panik, was überhaupt nicht hilfreich wäre, um in diesem rauen Land zu überleben. Ben würde trotzdem gehen!

Esther hoffte und vertraute darauf, dass die Blumenelfe Amapola fähige und zuverlässige Begleiter besorgt hatte. Das war doch selbstverständlich! Oder etwa nicht? Aus tiefstem Herzen seufzend schloss Esther gedankenverloren die Tür. Sie verdrängte die unliebsamen Gedanken und machte sich auf die Suche nach Jidell und Quidell.

*

Ein bestimmtes Thema ließ Emma nicht los: »Welche gefährlichen Wesen leben in Fanrea? Warum wollte meine Tante nicht darüber reden?«

»Weil keine Zeit mehr dazu war.«

»Nein, das glaub ich nicht! Sie wollte uns nichts davon erzählen.«

Die beiden nahmen die Abkürzung durch den Wald. Beide verspürten das starke Bedürfnis über Esthers Geschichte zu sprechen, die Gedanken kreisten wild durcheinander und ihre Gefühle waren aufgewühlt.

Emma blickte durch eine Lücke in den Baumwipfeln zum Himmel und erschrak. Die Gewitterwolken türmten sich inzwischen ebenso bedrohlich wie unheilvoll auf. Die Sonne verschwand fast vollständig hinter den Wolkenbergen, sodass der Wald finster und beängstigend wirkte. Schweigen breitete sich aus, kein Vogelgezwitscher war zu hören, kein Rascheln im Unterholz. Die Stille war fühlbar und die Luft bleischwer. Es war unheimlich.

»Ben …«, flüsterte Emma.

Die Freunde schauten einander vielsagend an und rannten los. Wie von einer Meute wilder Hunde gejagt, sprangen sie über umgestürzte Baumstämme und wichen geschickt im Weg stehenden Ästen aus. Ben hielt das Zauberbuch umklammert, er presste seine Finger so fest auf den Einband, dass sie schmerzten. Das Buch vibrierte ganz leicht.

Plötzlich war der Wald hell erleuchtet, es folgte ein ohrenbetäubender Donner. Sekunden später schüttete es wie aus Kübeln, dicke Regentropfen fielen prasselnd vom Himmel, gleichzeitig fegte ein orkanartiger Wind durch die Bäume.

Es blitzte und donnerte, der Wind zerrte und riss an ihrer Kleidung. Der fauchende Sturm schien zu einer lebenden Person geworden zu sein, die mit aller Macht verhindern wollte, dass sie heil mit dem Buch nach Hause kamen. Die entfesselten Elemente brüllten wie eine angriffslustige Raubkatze. Zuckende Blitze erleuchteten den Wald erneut taghell.

So etwas hatten Emma und Ben noch nie erlebt! Das pure Grauen kroch ihnen den Rücken hoch, breitete sich anschließend gleichmäßig in ihrem Körper aus. Ob dieses tosende Unwetter schon ein Vorgeschmack auf die Gefahren war, die in Fanrea auf sie warteten? Beide wussten instinktiv, dass kein normales, sondern ein magisches Gewitter sie bedrohte.

Plötzlich schlug ein Blitz nicht weit von ihnen in einen Baum ein. Es krachte, als der Baum gespalten wurde, zeitgleich roch es nach verbranntem Holz, Schwefel und Pfefferminze. Die Wucht des Einschlags warf die beiden Freunde um. Die Helligkeit des Blitzes war kaum zu ertragen, die Luft knisterte und ließ ihre Haare elektrisiert zu Berge stehen. Auf dem Boden sitzend, rangen sie nach Atem. Die Furcht umklammerte sie mit kalten Fingern, schien wie ein körperloses Wesen zu sein, das drohte, Macht über sie zu erlangen.

Ben stemmte sich hoch gegen den Sturm. »Neeeiiin!«, schrie er in den tobenden Wind. »Ihr bekommt das Buch nicht!«

In dem Moment stand eine hässliche, männliche Gestalt in dem von Blitzen erhellten Wald vor ihnen. Sein gewalttätiger Blick traf sie aus schaurigen, gelben Augen, in denen das Feuer des Bösen zu lodern schien. Fettige Haarsträhnen klebten am Gesicht, dessen gräulich wirkende Haut welk und runzlig aussah. Der Körperbau war muskulös, aber gedrungen. Das Wesen war ungefähr so groß wie Ben und Emma. Die Freunde rückten dicht aneinander, wagten vor Angst kaum zu atmen. Gänsehaut überzog ihre Körper, während die Herzen wild pochten.

Die schaurige Gestalt bewegte sich gebeugt auf sie zu, ganz langsam, Schritt für Schritt, die gelblich flackernden Augen lauernd auf die sichere Beute gerichtet. In der Hand blitzte ein langer Dolch. »Gebt mir das Buch!«, flüsterte das Wesen eindringlich mit rauchiger Stimme.

Ben erwachte aus seiner Erstarrung und hielt unauffällig Ausschau nach einem Knüppel. Da, direkt neben ihm lag ein dicker, armlanger Ast, der stabil aussah. Vorsichtig bewegte der Junge die Hand in diese Richtung und als er den Ast erreichte, umschlossen ihn seine Finger fest. Jetzt fühlte Ben ein wenig Sicherheit, da er dieser Kreatur etwas entgegenzusetzen hatte.

Dann spürte er wieder diese gewaltige Hitze in seinem Inneren aufsteigen. Sie schien ihn innerlich zu verbrennen, doch sammelte sie sich dieses Mal nicht im Bauch, sondern schien in einem mächtigen Strom in seine Hände zu fließen. Ben hieß die Hitze willkommen, sie verlieh ihm Stärke. Ruhig ging er in Gedanken die passenden Karatetritte durch.

Fieberhaft überlegte Emma, was sie tun konnte, da fiel ihr der magische Kieselstein ein. Hoffnungsvoll griff sie in die Hosentasche und umschloss ihn. »Hilf uns! Bitte tu etwas!«, flehte sie voller Panik. Der Stein wurde wärmer, begann sogar zu pulsieren.

*

Zur selben Zeit stand der Indianer John in Fanrea an einem schmalen Fluss und hielt einen Speer in der rechten Hand, mit dem er auf einen dicken, silbrig schimmernden Fisch zielte. Konzentriert visierte er ihn an, warf blitzschnell seinen Speer und traf. Genau in dem Moment, als der Fisch durchbohrt wurde, empfing John ein starkes Gefühl der Furcht. Irgendetwas stimmte nicht, aber er spürte genau, dass es nicht ihn betraf. Der Stein, der um seinen Hals hing, erwärmte sich.

Wachsam sah John sich um, konnte jedoch nichts Bedrohliches entdecken. Dennoch signalisierten seine Sinne ihm weiterhin eine Gefahr. Die nächste Angstwelle rollte auf ihn zu, durchströmte den gesamten Körper. Der Lakota hielt die Luft an, sein Herz pochte wild und er keuchte. Die Empfindung war stark, sehr stark. Von wem stammte diese Emotion? Was hatte das zu bedeuten? Johns Kieselstein wurde noch wärmer, er umfasste ihn. ›Hilf uns! Bitte tu etwas!‹, hörte er zeitgleich ferne Worte im Kopf.

Irritiert holte der Indianer den Speer samt Fisch aus dem Wasser und warf seine noch zappelnde Beute in einen Weidenkorb, in dem jede Menge der glänzenden Fische lagen. Nachdenklich schloss John die Augen und versuchte, diesen fremden Empfindungen nachzuspüren, aber es gelang ihm nicht. Enttäuscht öffnete er wieder die Augen. Die eben gehörten Worte hallten wie ein Echo in ihm nach und fraßen sich fest. Er wusste, dass jemand ihn rief und brauchte. Ausnahmsweise fühlte er eine bedrückende Hilflosigkeit, und dieses Gefühl war schrecklich. Irgendwo war jemand in großer Not und Verzweiflung, doch er konnte nichts tun.

Das Gefühl der Bedrohung ließ nach einer Weile schlagartig nach, die Angst verließ John im selben Moment ebenfalls. Grübelnd schulterte er den Korb mit Fischen und machte sich auf den Heimweg, ins Lager der gestrandeten Kinder.

*

Die furchterregende Gestalt war fast bei den Freunden angelangt und starrte sie lauernd an. Es schien, als würde sie diesen Moment kurz vor dem Schlagen der Beute genießen, deshalb die Zeit verzögern, um die Angst der Freunde auszukosten.

»Der Stein! Fass den Stein an!«, rief Emma in den tobenden Sturm hinein.

Ben reagierte sofort, klemmte das Buch unter den Arm und griff in die Hosentasche. Er nahm den magischen Kieselstein in die Hand und merkte, wie er sich erhitzte. Die Wärme des Steins schaffte eine Verbindung mit seinem inneren Feuer, indem ein Strom mächtiger Energie durch den Arm floss. Eine gewaltige Kraft stieg in Bens Körper auf. Mit dem Ast in der Hand richtete er sich zur vollen Größe auf und sah seinem Gegner trotzig in die Augen.

Dieser stutzte verunsichert für den Bruchteil einer Sekunde, fing sich aber direkt wieder.

Bens Angst wich ungewohntem Mut. Mit zwei großen Schritten trat er entschlossen auf den Gegner zu und schmetterte ihm den Ast kraftvoll auf den Schädel. Von der Wucht des Aufpralls brach der Ast mittendurch, die Gestalt taumelte schwankend zurück. Ben war nun ohne Waffe, dennoch stellte er sich in Abwehrhaltung schützend vor Emma.

Die männliche Gestalt schrie zornentbrannt, hielt dann inne und fixierte Ben aus zu Schlitzen verengten Augen. Das Wesen schien seine Kräfte zu sammeln. Es spannte die Muskeln an, machte sich sprungbereit.

Emma schluchzte laut auf und presste den Stein so fest in ihrer Hand, dass es schmerzte. »Hilfe!«, flüsterte sie voller Verzweiflung.

Die Kreatur stieß einen markerschütternden Schrei aus und sprang hoch. In derselben Sekunde umgab die beiden Freunde ein strahlend weißer Lichtball. Der Angreifer konnte seinen Sprung nicht mehr abbremsen, sodass er mit voller Wucht gegen die Kugel aus Licht prallte. Er rollte sich ab, sprang schnell wieder auf die Füße, doch er begriff, dass seine Chance vertan war. Mit flammendem Blick wich er zurück in die Dunkelheit.

Die zwei Freunde dagegen verstanden nicht, was passiert war, und sahen sich verwundert um. Vor ihnen schwebte Amapola, die ihren leuchtenden Zauberstab schwang. Das helle Licht umhüllte sie alle drei sanft wie ein schützender Kokon und spendete Sicherheit.

»Amapola! Wo kommst du denn her?«, rief Emma mit schriller Stimme.

Die Elfe versuchte, die aufgebrachten Freunde zu beruhigen: »Keine Angst, es kann euch jetzt nichts mehr geschehen! Ihr seid innerhalb des weißen Lichts geschützt, keine dunkle Macht kann euch hier drin etwas antun. Ich bringe euch jetzt sicher nach Hause. Leider hat der Spion der dunklen Mächte das Zauberbuch in deinen Händen gesehen, Ben. Er wird es den Dunkelwesen berichten, deshalb müssen wir nun noch mehr aufpassen.«

Sie hörten das wütende, kreischende Jaulen der widerlichen Kreatur. Es ging ihnen durch Mark und Bein.

Emma zitterte vor Angst. »Das Monster tobt, es will das Zauberbuch. Oder?«, flüsterte sie beklommen. »Was wird es jetzt tun?«

Ihre Frage blieb unbeantwortet, da niemand darauf etwas zu sagen wusste. In Emmas Gedanken tobte ein Wirbelwind aus Entsetzen und Trotz.

Umgeben von der schützenden Lichtkugel schwebten sie zunächst wortlos zu Emmas Haus. Die Freunde waren seit dem Vorfall im Wald völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Das Licht bewahrte sie nicht nur vor weiteren Angriffen, sondern auch vor dem strömendem Regen, der an der Hülle silbrig schimmernd hinabfloss.

Bei Emma angekommen, sagte Amapola ernst: »Ich bin froh, dass ich zur rechten Zeit eingreifen konnte, um euch zu retten. Etwas hat mich gerufen und ich wusste, ihr seid in sehr großer Gefahr. Emma, du kannst ins Haus gehen, es wird dir hier nichts passieren. Ich werde euer Haus in das weiße Licht des Schutzes hüllen. Das Gleiche werde ich mit eurem Haus machen, Ben.«

»Etwas hat dich gerufen? Was meinst du damit?«, wollte Ben wissen.

Ratlos zuckte Amapola mit den Schultern.

»Die Kieselsteine!«, riefen die beiden Freunde gleichzeitig.

Als die Blumenelfe verständnislos zu ihm blickte, erklärten die Freunde ihr den Zusammenhang.

Schließlich stöhnte Ben: »Amapola, ich bin echt froh, dass du uns gerettet hast. War verdammt knapp!«

Emma stimmte Ben zu: »Ja, echt, danke! Gibt es noch mehr von diesen Monstern?«

»Ich glaube nicht, aber es gibt andere Gefahren in Fanrea«, antwortete Amapola widerstrebend.

Nachdenklich raufte Ben die Haare. »Emma, ich verstehe, wenn du morgen nicht mitkommen möchtest. Aber ich werde durch das Tor gehen, nichts ist so schlimm, wie blind zu sein. Ich werde es schaffen, ich kämpfe gegen alle, die sich mir in den Weg stellen. Auch gegen meine Angst!«

Sofort schüttelte Emma heftig ihren Kopf. »Nein, ich lasse dich nicht im Stich! Wir beide wurden schon oft genug verlassen, wir halten zusammen! Ich komme mit, du bist mein Freund und ich bleibe an deiner Seite. Dieses Drecksvieh hält mich nicht davon ab, mit dir zum See der Heilung zu gehen!«

Ben schaute sie ernst an. »Wie gut, dass du so ein Sturkopf bist. Danke, Emma, du bist eine echte Freundin! Du bist immer für mich da, wenn ich dich brauche!« Er blickte in ihre Augen und erkannte, welch tiefe Freundschaft sie verband.

Verlegen kaute Emma auf ihrer Unterlippe. Ein seltsames Ziehen kribbelte in ihren Händen, und sie richtete ihren Blick wie magnetisch angezogen auf das Buch. »Gib mir bitte mal das Buch«, forderte sie Ben auf, ohne darüber nachzudenken.

Er reichte es seiner Freundin, während er ihr Gesicht musterte. Emma wirkte abwesend.

Als sie das Buch berührte, leuchteten die Steine auf der Vorderseite hell auf. Ein leichtes Vibrieren übertrug sich von dem Buch auf das Mädchen und ein Energiestrom floss durch ihren Körper. Ein angenehmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, während ein heller Schimmer ihren Körper ummantelte. Erstaunt fragte sie: »Was bedeutet das?«

»Emma, nimm du das Buch in Verwahrung. Es scheint für dich bestimmt zu sein. Vielleicht bist du eine Hüterin«, stellte Amapola fest.

Achselzuckend schaute Emma erst auf Amapola, danach auf das Buch. Heute wollte sie nicht mehr darüber nachdenken. Zu viel mysteriöse Dinge waren heute geschehen, die sie lieber aus ihren Gedanken verdrängte.

Um abzulenken, wandte Ben sich an Amapola: »Wie funktioniert das mit dem weißen Lichtball? Kann ich das lernen?«

Die kleine Elfe antwortete: »Mein Lichtball ist ein magisches Gemisch aus Schutzzauberpulver, Zauberstab und Zauberspruch. Vielleicht lernst du es irgendwann, vielleicht auch nicht. Ich habe keine Ahnung, wie sich deine Fähigkeiten entwickeln werden. Jetzt jedenfalls müsst ihr zur Ruhe kommen! Ich hoffe, dass der Schlaf euch trotzdem beehrt, damit ihr ausgeruht seid für unser Abenteuer. Also, bis morgen!«

Emma verabschiedete sich und ging nachdenklich, mit dem Buch unter dem Arm, ins Haus, während Amapola Ben nach Hause begleitete.


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