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Achterbahn der Gefühle

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Als Ben das Haus betrat, hockte seine Mutter Nora mit Mattes zusammen in der Küche. Die beiden aßen die Überreste des Mittagessens: Kohlsuppe. Heute hatte ausnahmsweise Nora gekocht, doch die aufgewärmte Suppe sah wirklich unappetitlich aus. Mattes schaute ziemlich unglücklich drein, weil er dieses angebrannte Gematsche runterwürgen musste. Glücklicherweise bemerkte die Mutter nicht, wie lustlos er darin herumrührte. Sie wirkte sehr gehetzt, da sie am Abend wieder Nachtdienst und deshalb nicht mehr viel Zeit hatte. Müde und ausgelaugt sah Nora aus, ihr Beruf kostete sie viel zu viel Kraft und Energie. Besorgt runzelte Ben die Stirn.

Seine Gedanken wurden unterbrochen: »Ach Ben, gut, dass du da bist! Du musst Mattes gleich ins Bett bringen. Ich habe Nachtdienst und Papa musste zu einer Versammlung ins Dorf. Die Bauern brauchen seine Meinung als Tierarzt.«

»Och nee, ich habe gar keine Lust!«, maulte Ben und ergänzte in Gedanken: ›Wahrscheinlich wollte Papa mal wieder eine anständige Mahlzeit in den Bauch bekommen!‹ Manchmal wunderte Ben sich über seine Eltern, dass sie einander so liebten, obwohl sie unterschiedlich waren. Aber irgendwie klappte es mit den beiden, und sie gingen sehr liebevoll miteinander um.

Ben warf noch einen skeptischen Blick auf das Essen. Ein saftiges Steak wäre ihm lieber gewesen! Er seufzte. Kein leckeres Abendessen, statt dessen Babysitten. Zwar liebte er Mattes, aber es nervte ihn, wenn er den Bruder ins Bett bringen sollte. Mattes verlangte, dass er ihm Geschichten vorlas, kuschelte, mit der Taschenlampe und seinen Händen Schattenfiguren an die Wand warf oder all die anderen Einfälle umsetzte.

Gerade heute würde Ben viel lieber etwas machen, wozu er Lust hatte. Aber wozu hatte er Lust? Zu gar nichts mehr! Der Tag war absolut chaotisch verlaufen und Ben musste endlich die Gedanken sortieren. Adrenalin tobte noch in seinen Zellen und er war stolz darauf, wie mutig er sich im Kampf gezeigt hatte.

»Ben! Hörst du mir überhaupt zu?«, unterbrach Nora seine Gedanken.

»Äh, ehrlich gesagt: nein!«

Sie schüttelte den Kopf: »Also, du musst ihm die Zähne gründlich putzen, er macht das nicht ordentlich genu…«

Ungeduldig unterbrach Ben sie: »Mama, ich weiß das doch alles, ich bringe ihn nicht zum ersten Mal ins Bett. Leider muss ich das allzu oft machen!«

Mit einem irritierten Blick nahm Nora den Vorwurf zur Kenntnis, erwiderte aber nichts. »So, ich muss los, ich spare mir dann heute meine ganzen Ermahnungen. Henk van Vaal braucht mich, ich bin die Einzige, die er zu sich lassen will. Der arme Kerl hatte mal wieder einen seiner Zusammenbrüche.« Sie strubbelte Ben liebevoll durch die Haare und gab Mattes einen Kuss, den er mit verschmiertem Sabbelmund erwiderte.

»Bitte sei ein bisschen nett zu deinem Bruder, er himmelt dich geradezu an.« Die Mutter schaute ihren großen Sohn nachdrücklich an. »Und bevor wir keine endgültige Diagnose wegen deiner Augen haben, lehne ich das Ergebnis der Untersuchungen erst einmal ab. Du solltest das Gleiche tun!«, versuchte sie ihn zu trösten. »Ärzte können sich irren, ich habe das oft genug erlebt. Wir sind eben nur fehlerbehaftete Menschen und keine Götter. Außerdem gibt es noch viele weitere Spezialisten. Wir warten nächste Woche erst einmal den Termin ab, okay?«

Ben spielte im Geiste durch, wie er im Schlepptau seiner Mutter von Arzt zu Arzt zog, und eine Diagnose war niederschmetternder als die andere. Nein, das würde er auf keinen Fall mitmachen, er hatte einen anderen Weg gefunden.

»Kuss, Mama! Darf ich morgen mit Lara spielen?«, quäkte Mattes.

Die Mutter beugte sich erneut zu dem kleinen Kerl hinunter und küsste ihn ein letztes Mal, bevor sie ging. »Ich kümmere mich um deine Verabredung mit Lara. Ärgere Ben nicht, okay?« Zärtlich streichelte sie Mattes über die Wangen. Es fiel ihr sichtlich schwer zu gehen, sie seufzte, gab sich schließlich einen Ruck und eilte davon. Ben beobachtete die Szene und fühlte, wie sein Herz sich vor Eifersucht zusammenzog.

»Beeen?«

»Jaaaa?«

»Ich hab Hunger! Machst du mir ein Brot?« Ben betrachtete die Matsche auf dem Teller, schnitt eine angewiderte Grimasse und musste lachen.

Mattes prustete los und stimmte in das Gelächter ein. Nachdem der Lachanfall vorüber war, schmierte Ben verständnisvoll ein Brot. Mattes war sehr glücklich, dass doch noch etwas Essbares in den Bauch kam.

Nach dem Essen forderte Ben Mattes stöhnend auf: »Na los! Komm kleiner Bruder, wir gehen ins Badezimmer und putzen dir die Zähne.«

»Aber Huckepack, du bist mein Pferd!«, bestimmte Mattes.

Ben verdrehte die Augen und dachte: ›Es geht schon wieder los, ich bin der Sklave meines Bruders.‹

Später lagen die beiden Jungen zusammen im Bett. Mattes kuschelte sich zufrieden an Ben, der die Geschichte von Nils Holgersson vorlas: »Hör auf zu zappeln! Also: der Gänserich lag reglos auf dem Boden, die Augen waren geschlossen. Nils war verzweifelt, weil er befürchtete, dass Martin sterben würde, denn der Gänserich bewegte sich nicht mehr. Oh je!« Ben machte eine Pause.

Aufgeregt schmiegte sich Mattes noch näher an Ben. »Ich will nicht, dass Martin stirbt, dann ist Nils ganz allein! Die Geschichte ist mir zu traurig.«

Ben verdrehte die Augen: »Martin wird nicht sterben, sonst wäre die Geschichte zu Ende.« Nicht wirklich überzeugt sah Mattes ihn an, für ihn war diese Erklärung nicht logisch. Ben las weiter vor, aber immer wieder unterbrach ihn sein Bruder, weil er Fragen oder Einwände hatte. So ging das immer.

Ben las, bis Mattes die Augen zufielen. Als der Kleine endlich schlief, erhob Ben sich schlapp und schaute auf die Armbanduhr. Todmüde beschloss er, nur kurz ins Bad und dann ebenfalls ins Bett zu gehen.

Im dämmrigen Licht des Zimmers schaute Ben auf den kleinen Bruder, der süß und friedlich im Bett schlief. Er lag auf der Seite, hatte seine Händchen unter den Kopf gelegt und wirkte wie ein kleiner Engel. Wieder fühlte Ben einen Stich im Herzen, die in ihm schwelende Eifersucht kam wieder hoch.

Nachdenklich ging Ben ins Badezimmer und putzte die Zähne, dann zog er sein verdrecktes T-Shirt aus und betrachtete den Oberkörper im Spiegel. Er besaß eine sportlich durchtrainierte Figur und mochte sie so, wie sie war. Sich leicht seitwärts drehend, musterte er zum wiederholten Male den Leberfleck auf der linken Schulter. Es war ein fest stehendes, abendliches Ritual geworden. Der Fleck löste ein unbestimmtes Sehnen in ihm aus, das Ben nicht erklären konnte. Als er mit Emma vor einiger Zeit zusammen im Schwimmbad gewesen war und sie nebeneinander auf der Wiese lagen, hatte sie überrascht ausgerufen: »Das gibt es doch gar nicht! Dein Muttermal sieht aus wie ein Drache!«

Damals hatte er über ihre blühende Fantasie gelacht, aber war erstaunt gewesen, als er sich abends im Bad das Muttermal genauer ansah: Es glich tatsächlich einem Drachen! Emma hatte keinen Unsinn geredet.

Seine Mutter, die als Ärztin stets an die Gesundheit dachte, wollte das Mal weg schneiden lassen, aber so etwas wie eine innere Stimme hielt Ben davon ab. Allerdings juckte der Fleck in der letzten Zeit immer öfter unangenehm, was ziemlich nervte. Nachdenklich zog Ben ein frisches T-Shirt an und fühlte eine unendliche Erschöpfung.

Ohne Licht anzuknipsen, setzte er sich schläfrig auf sein Bett, wo er den außergewöhnlichen Tag in Gedanken vorbeiziehen ließ. Aufgewühlt starrte er in die bleierne Dunkelheit, die mit langen Fingern nach ihm griff. Normalerweise fühlte er sich in der Nacht geborgen wie in einer kuscheligen Decke, aber nun empfand er Einsamkeit und Verunsicherung.

Ben stand wieder auf, öffnete das Fenster, und ein Schwall kühler, regenfrischer Nachtluft schlug ihm entgegen. Mit angespanntem Körper starrte er nach draußen und atmete tief ein, um mit der klaren Luft seine trüben Gedanken zu vertreiben. Nach dem schweren Gewitter heute Abend war der Regenguss in einen sanften Landregen übergegangen. Ben lauschte den Tropfen, die draußen leise flüsterten, als ob sie ihm Geschichten erzählen wollten.

Die finstere Gestalt aus dem Wald eroberte Bens Gedankenwelt. Wie hatte er selbst sich bei dem Kampf gefühlt? Die Hitze in seinem Inneren hatte ihm Mut verliehen, sodass er dem Gegner kühn entgegengetreten war. Wieso? Konnte er die Hitze vielleicht steuern?

Ihm schwirrten die Worte der Elfe Amapola und die Erzählung von Tante Esther im Kopf herum. Was würde sie morgen erwarten? Für ihn gab es keine Wahl, er wollte nicht blind werden! Jedes Wagnis und jedes Risiko würde er eingehen, um das zu verhindern. Er musste durch das Weltentor, aber was war mit Emma? In was zog er sie da hinein? Welchen Gefahren würden sie begegnen? Wer war dieser geheimnisvolle Worak?

Heute Mittag, im warmen Sonnenlicht, da reizte Ben die Gefahr ebenso wie das Ungewisse. Er fühlte sich stark wie Luke Skywalker oder Harry Potter, die jeder Situation gewachsen waren. Der Geschmack von Abenteuer hatte Ben gefallen, aber jetzt, allein in der Nacht, wirkte alles anders.

Bens Grübeleien drifteten weg. Wieder einmal dachte er an den süßen, kleinen Mattes und daran, dass de Bruder das leibliche Kind der Eltern war, er selbst dagegen nicht. Er war nur adoptiert. Seine Mutter hatte Mattes unterm Herzen getragen, die Bewegungen des Babys im Bauch gespürt und es als winziges Neugeborenes im Arm gehalten. Ben wurde von dem schrecklichen Gefühl gequält, dass seine Mutter Mattes mehr liebte als ihn. Eifersucht schlug immer wieder ihre Krallen in Bens Herz und Seele.

Zudem war die Wut grenzenlos, die er auf die fremde, namenlose Frau verspürte, die er nicht kannte und die er hasste, weil sie ihn abgegeben hatte. Was war das für eine Frau, die ihn zur Welt brachte und dann verstieß? Welche Gründe konnten entschuldigen, das eigene Kind zur Adoption freizugeben? Wie grausam und kaltherzig konnte eine Mutter sein? Dieser Frau, die ihm das Leben schenkte, konnte er nur Verachtung entgegenbringen. Niemals würde er auf die Idee kommen, sich auf die Suche nach ihr zu machen.

Auch den leiblichen Vater wollte er niemals kennenlernen, weil er sich genauso lieblos verhalten hatte. Oder wusste er vielleicht gar nicht, dass er einen Sohn hatte? Das erschien Ben eher unwahrscheinlich, und über diese Möglichkeit mochte er lieber gar nicht nachdenken. Seltsamerweise war seine Wut auf diesen Mann geringer als auf die unbekannte Frau.

Seine Gedanken kreisten oft um dieses Gift verspritzende Thema, das einerseits die Freigabe zur Adoption und andererseits seine Eifersucht auf Mattes zum Inhalt hatte. Tagtäglich meinte er an irgendwelchen Handlungen oder Sätzen der Mutter zu erkennen, dass sie ihn, Ben, weniger liebte als seinen kleinen Bruder.

Beim Vater hatte er nicht das Empfinden, dass er Unterschiede machte, und er fragte sich oft, warum das so war. Vielleicht weil sie ihre eigenen kleinen Inseln aus Aktivitäten geschaffen hatten, die sie beide genossen? Bei Tim konnte Ben die Liebe spüren und die Freude darüber, dass er sein Sohn war.

Ben wünschte, er hätte zur Mutter so ein großes Gefühl der Nähe wie zum Vater. Ja, das traf es am ehesten: Er fühlte sich ihr nicht wirklich nah, weil er nur ein adoptiertes Kind war!

Unglücklich seufzte Ben und zog die Jeans aus. Dadurch fiel der magische Kieselstein heraus und polterte über den Boden. Ben schaltete das Licht ein, griff nach dem Stein und staunte: Er hatte seine Farbe verändert. Jetzt leuchtete er in einem kräftigen Rotorange! Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Doch Ben fehlte die Kraft, weiter darüber nachzudenken. Deshalb nahm er den Stein und steckte ihn seufzend zurück in die Jeans. Dabei berührte er sein Smartphone, zog es heraus und schrieb Emma: »Schlaf schön. Bin froh, dich zu haben.« Danach legte er sich ausgelaugt auf das Bett, knipste das Licht aus und schlief im Nu erschöpft ein.

Er geriet in einen wirren Traum, in dem ein Drache beruhigend zu ihm sprach: »Der Tausch für die Blindheit ist das Ende der Kindheit. Der Drachenreiter wird erweckt. Vertraue auf deine innere Stärke!«

Wilde Kämpfe mit düsteren, unheimlichen Gestalten verschmolzen zu einem anderen Bild, in dem Ben schweißüberströmt in einer Schmiede stand und ein glühendes Schwert bearbeitete. Ihm erschienen Emma, die auf einem geflügelten Hirsch ritt, und kristallisierte Elfen, deren Hilferufe sich in seinem Kopf festsetzten. Ihre grenzenlose Qual war sogar im Traum spürbar.

Schweißgebadet wachte er auf und fühlte sich noch mieser als vorher. Quälten ihn nun dieselben Alpträume wie Emma? War das ein Blick in die Zukunft? Das Bild der glitzernden Elfen fraß sich schmerzhaft in seine Gedanken.

Fast glaubte er, dass einige dieser Bilder Erinnerungen an ein früheres Leben waren. Aber sie duckten und versteckten sich im hohen Gras des Vergessens, schlichen langsam etwas näher, bis sie schließlich wie Schatten in der Dunkelheit verschwanden. Ben fühlte, dass er sich einer ihm unbekannten Wahrheit näherte, er war ganz dicht dran.

Gruselgeschichten, die er gelesen hatte, fluteten sein Gedächtnis. Ebenso Filme, die von Zauberern oder Hexen handelten. Haftete denen etwa immer auch ein Funken Realität an? Waren das gar keine Hirngespinste überbordender Fantasie?

Unvermittelt dachte Ben an den schrillen Patienten seiner Mutter, Henk van Vaal, der immer wieder dieselben verrückten Geschichten erzählte von einer schönen, aber grausamen Hexe, schwarzen Panthern mit Fledermausflügeln und einem düsteren Schloss, in dem steinerne Wesen wachten.

Angenommen, es wäre nur ein Fünkchen Wahrheit an diesen Geschichten, was bedeutete das dann für ihn und das bevorstehende Abenteuer? Hatte Henk das alles wirklich erlebt? Den Gedanken wollte Ben lieber nicht vertiefen, sondern versuchte, wieder einzuschlafen.


Fanrea

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